bin ich?
Ganz unrecht hatte er nicht, mit weniger Wissen hätte ich mir den Schrecken erspart. Aber mich beschäftigte eine andere, mindestens ebenso philosophische Frage: Was war real? Befand ich mich immer noch in einem furchtbaren Alptraum oder war das die Realität? Und wenn ja, welche Realität? Hatte mich irgendein unglücklicher Zufall in eine Art Paralleluniversum geschleudert? Ich hatte jedenfalls das starke Gefühl, definitiv nicht hierher zu gehören. Ja, ich wusste ja nicht einmal, wo »hier« eigentlich sein sollte.
Ich versuchte der Sache also analytisch auf den Grund zu gehen: »Wenn ich mit zwicke, wache ich auf und alles ist gut! Wenn ich mich allerdings im Traum zwicke, baue ich das in meinem Traum ein und träume weiter …«
Ich beschloss es dennoch zu versuchen, war aber nicht in der Lage, auch nur den kleinen Finger zu bewegen. Dies konnte grundsätzlich drei Dinge bedeuten: Ich war tot und schmorte gerade in der Vorhölle. Oder ... ich träumte lediglich, dass ich mich nicht bewegen kann. Oder aber … Folgenschwere Wahrheiten scheinen immer besonders bedächtig durch die Synapsen zu schleichen. Oder aber ich konnte mich tatsächlich nicht bewegen! Querschnittsgelähmt?!
Ich hatte ein wirklich ernst zu nehmendes Realitätsproblem und habe es bisweilen immer noch. Was war real? Wie viele Realitäten gab es? Und welche davon konnte und welche davon sollte ich akzeptieren? In meiner Erinnerung war ich Teilhaber einer Film- und Event-Agentur, der ein mehr oder minder glückliches Leben führte. Andererseits lag ich hier wie einbetoniert in einem Körper, den ich nicht einmal sehen konnte. Ich ging davon aus, ein Mann zu sein, konnte es aber in meiner Verwirrung und Desorientierung nicht beschwören. Und dann waren da noch diese komischen Leute, die ich, um ihnen den Schrecken zu nehmen, »Kaffee« und »Brötchen« nennen wollte. Wieso quälten sie mich? Und wieso nannten sie mich den Regenschirm-Mörder oder Nr.5? Nach Chanel duftete ich gerade bestimmt nicht! Ganz im Gegenteil! Ich roch muffig, krank und mein Schweiß hatte die Ausdünstung von Medikamenten in sich. So langsam wurde ich wirklich neugierig, welche Rolle ich eigentlich spielte und spielen sollte. Ich beschloss mein Identitätsproblem zuerst einmal beiseite zu schieben, um das erste Problem zu lösen. Vielleicht würde ich sich dadurch auch mein Identitätsproblem klären. Also beschloss ich, rein hypothetisch, meine Umgebung als »wahre« Realität zu akzeptieren. Ich hatte die leise Hoffnung, dass ich durch das Erkunden meiner Umgebung entweder ein Fluchtloch in meinem Traum finden oder ich sonstige Aufschlüsse bekommen würde.
Lagebericht
»Lagebericht!«, lautete das donnernde Kommando von Captain Kirk jedes Mal, wenn sein Raumschiff schwer beschädigt durchs All trudelte. Ohne sich von der Stelle zu bewegen, bekam er auch noch aus den letzten Ecken des Schiffkörpers alle relevanten Informationen übermittelt. Ich saß zwar nicht in einem Kommandosessel, sondern lag stattdessen in einem Bett, aber dafür war ich zu völliger Reglosigkeit verdammt. Da sollte so ein Lagebericht doch kein Problem sein.
Mein persönlicher Gott mit grauem ZZ-Top-Rauschebart und Blaumann hatte sich bereits auf die Brücke gebeamt und fragte: »Das Persönlichkeitsortungssystem ist ausgefallen? Ich brauche dafür zwei Tage – aber für Dich mache ich es in einem!«
Mit solchen Ablenkungsspielchen versuchte ich, meine immer wieder aufkeimende Panik im Zaum zu halten. Denn unbewusst stieg mit der Angst bereits die Gewissheit einer unumkehrbaren Wahrheit in mir auf.
Ich begann also damit, alle greifbaren Informationen um mich herum zu sammeln. Ich konnte mich nicht bewegen und nicht sprechen – ich hatte es wieder und wieder versucht und lediglich undeutliches Gegrunze zustande gebracht. Ich konnte mich also nur auf das verlassen, was meine Augen sahen, meine Ohren hörten, meine Nase roch und mein Körper fühlte. Im Augenblick fühlte er sich recht nass zwischen den Beinen an und meine Nase glaubte, diese unangenehme Botschaft bestätigen zu können. Diese überaus realistischen Empfindungen versuchte ich angestrengt auszublenden.
Inzwischen hatte ich herausbekommen, dass zu meiner Linken nicht nur vier weitere 3-D-Flachbildschirme an der Decke hingen, sondern sich auch vier weitere Betten mit Menschen darin befanden. Zählte man von der Fensterseite her, war ich die Nr.5.
Rechts neben mir gab es zwei weitere belegte Betten. Ich versuchte Kontakt mit den anderen aufzunehmen, aber wie sollte das gehen, wenn der eigene Kopf unbeweglich und starr zur Decke gerichtet war und man die Augen nur bis in die Augenwinkel drehen konnte. Immerhin sah ich, dass bei Nr.1 bis 4 der 3-D-Flachbildschirm lief. Nur Nr. 6 und Nr. 7 waren tot – zumindest was den Flatscreen betraf. Der Bildschirm über mir hatte sich, kurz nachdem »Kaffee« und »Brötchen« streitend aus dem Raum gegangen waren, abgeschaltet. Anscheinend liefen die Geräte nur, solange Blickkontakt bestand. Vielleicht konnte ich ja so etwas herausfinden, nicht umsonst wurde der Fernseher das Fenster zur Welt genannt.
Infotainment
Ich konzentrierte mich wieder auf den Ein-Schalter an meinem Flachbildschirm. So schnell wurde etwas zu meinem, nur weil es seit ein paar Stunden über mir an der Decke hing oder ich darunter lag.
»Guten Abend Nr. 5, wir freuen uns, dass Sie den beschleunigten Strafvollzug mit Sozialisierungsprogramm gewählt haben. Möchten Sie sich jetzt mit dem Steuerungsprogramm vertraut machen, blinzeln Sie bitte jetzt recht deutlich! Haben Sie bereits geblinzelt? Falls ja, blinzeln Sie bitte noch einmal, um die Klickfrequenz zu synchronisieren …«
Was für ein furchtbares Wortgebilde! Beschleunigter Strafvollzug mit Sozialisierungsprogramm? So ein zusammengestammelter Mist!
Mit einem Schlag kehrte die Erinnerung zurück: Sunny … tot, ich als Regenschirm-Mörder verurteilt, Tanja hatte mich verlassen und Mike die Agentur übernommen. Der Supergau in einem Satz!
Tränen schossen mir in die Augen.
»Bitte versuchen Sie den Feuchtigkeitsgehalt in Ihren Augen zu regulieren, das Programm kann die Klickfrequenz sonst nicht kalibrieren …«
BSS – Beschleunigter Strafvollzug mit Sozialisierungsprogramm
Ich erinnere mich jetzt nur allzu gut daran, wie man dieses spröde Wortgebilde mit einem eigens dafür gedrehten Werbespot der Bevölkerung hatte schmackhaft machen wollen.
Paul Kellermann, Projektleiter und Initiator des Pilotprojektes »BSS«, stand unter dem Brustbild eines circa 50-jährigen Mannes mit Halbglatze und kurzen, braunen Haaren, die ihm als Haarkranz um seinen etwas eckigen Schädel verblieben waren. Zwei kleine schwarze Augen schauten einen durch das Gestell einer noch schwärzeren Hornbrille an, sodass die Brille mit den Augen schon fast als eigenständiges grafisches Element betrachtet werden konnte. Tiefe Furchen schnitten die Wangen um die Mundwinkel ein.
Als Hintergrund hatten sich die Macher des Spots eine idyllische Waldlichtung ausgesucht. Wohl um dem Ganzen einen positiven Anstrich zu geben. Man hätte Herrn Kellermann ansonsten eher mit einem staubigen Aktenregal im Hintergrund assoziiert. Auch der offene Hemdkragen ohne Krawatte unter dem lässigen Jackett schien wohl eher eine Idee der Imageberater zu sein. Sein fröhlicher Plauderton wirkte gestelzt.
»Hallo, mein Name ist Paul Kellermann, Projektleiter und Initiator des Pilotprojektes BSS«, wiederholte er unnötigerweise, was der Untertitel dem Zuschauer bereits verraten hatte. »Ich lade Sie ein zu einer kleinen Reise in die zum Greifen nahe Zukunft von BSS.« Er lief los, lächelte in die Kamera und lud den Betrachter mit einem Winken ein, ihm zu folgen.
»Wir wollen eine bessere Zukunft für bessere Menschen. Kommen sie mit!«, sagte er, bevor er in einen wartenden weißen und hypermodernen Hubschrauber stieg. Während der Hubschrauber startete, das Fahrwerk einzog und in einer eleganten Schleife über eine grüne Wald- und Seenlandschaft flog, plauderte Kellermann weiter: »Lassen Sie uns zuerst einmal einen Blick auf den aktuellen Strafvollzug richten.«
Der Hubschrauber war jetzt über einem mit Mauern und Stacheldraht gesicherten