Detlef Wolf

Geschwisterliebe


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wurde wieder ernst. „Gut, damit haben wir das also geklärt. Ihr wohnt hier, und was die Leute davon halten, interessiert uns nicht. Mit der Zeit werden wir uns schon kennenlernen, und ich bin überzeugt, wir werden auch miteinander auskommen. Das Geld für Euer Essen habe ich auch. Noch was?“

      Nicole schwieg. Sie war sich keineswegs sicher, daß das alles so einfach war. Aber es half ja nichts, jetzt darüber zu streiten. Denn das könnte bedeuten, daß Stephan sie kurzerhand wieder nach Hause schicken würde. Wenn sie nur wüßte, was er von ihnen wollte? Warum hatte er sie bloß hierhergebracht? Irgend etwas mußte er doch geplant haben? Sie konnte es sich nicht erklären. Jedenfalls würde sie auf der Hut sein. Zwar konnte es kaum schlimmer kommen, als es mit dem Alten war, aber möglicherweise kam es aufs selbe raus. Vielleicht war er gar nicht so harmlos, wie er tat? Und hier, in dieser Einsamkeit, weit ab von der Stadt, würde ihnen niemand helfen können. Obwohl, wer hatte ihnen eigentlich geholfen, als sie mitten in der Stadt wohnten? Auch niemand. Immerhin hatten sie hier ein eigenes Zimmer mit einem eigenen Bett darin. Und das Essen war auch besser. Sie beschloß, das alles einfach auf sich zukommen zu lassen. Wenn er anfing, sie zu schlagen oder andere Sachen zu verlangen, konnten sie immer noch weglaufen. Auch wenn das nichts bringen würde. Wohin sollten sie? Zu Hause wartete der Alte. Wahrscheinlich würden sie dann doch lieber bleiben. Und vielleicht kam es ja auch gar nicht so schlimm. Abwarten. Sie sah auf, weil sie glaubte, Stephan habe sie angesprochen. „Hast Du was gesagt?“

      Er lachte. „Allerdings habe ich was gesagt. Ich habe Dich gefragt, was Du überlegst. Du siehst so nachdenklich aus.“

      Nicole schüttelte den Kopf. „Och, nichts weiter“, meinte sie gleichgültig.“

      „Das glaub ich Dir zwar nicht, aber was soll’s.“ Er wurde wieder ernst. „Aber mal was anderes. Ich möchte mit Dir mal über Dich reden.“

      ‚Aha, jetzt kommt’s’, dachte Nicole, und ihre Befürchtungen schienen sich zu bestätigen, denn Stephan fuhr fort:

      „Gestern hab ich Dich ja nun zufällig, wenn auch nicht ganz freiwillig, mal ohne Klamotten gesehen. Und da hab ich mich doch ziemlich erschreckt. Du siehst ja schlimm aus. Ich finde, dagegen sollten wir schnellstens was unternehmen.“

      „Und was gedenkst Du, dagegen zu tun?“ Der Ton ihrer Stimme hatte etwas Aggressives.

      „Ich gar nichts“, antwortete er ruhig. „Ich bin ja kein Arzt. Aber zu einem hingehen solltest Du mal. Du mußt doch Schmerzen haben ohne Ende.“

      „Alles halb so schlimm“, antwortete sie. „Das vergeht wieder. Außerdem gewöhnt man sich dran. Wegen sowas braucht man nicht gleich zum Arzt zu rennen. Davon mal ganz abgesehen, ginge das auch gar nicht. Wir sind nämlich nicht krankenversichert.“

      „Na, das wär ja nun überhaupt kein Grund, nicht zum Arzt zu gehen. Und ich finde schon, daß es schlimm ist. Und nach dem, was Du erzählt hast, dürftest Du vermutlich auch noch an anderen Stellen verletzt sein. Hab ich recht?“

      Sie nickte.

      „Also werden wir uns morgen einen Arzt suchen, und zu dem gehst Du dann. Möglichst zu einem Gynäkologen.“

      Nicole erschrak. „Nein, das kann ich nicht. Das geht auf keinen Fall.“ Sie schüttelte heftig den Kopf und fing an zu weinen.

      Stephan streckte seine Hand nach ihr aus, aber sie sprang auf und lief weg.

      „Aber warum denn nicht, Mäuschen?“ versuchte er, sie zu beruhigen. „Jemand muß Dir doch helfen. Das kann doch nicht einfach so bleiben.“

      „Doch, kann es“, rief sie von der Tür her. Ihr Ton war noch immer gereizt. „Bist jetzt ist es ja auch immer von selber wieder weggegangen.“

      Sie lief hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Stephan ließ sie. Er blieb sitzen und dachte nach. Natürlich würde er sie zu einem Arzt bringen, etwas anderes kam ja gar nicht in Frage. Hoffentlich würde es nicht allzu schwer werden, sie zu überreden. Er nahm sich vor, eine Ärztin ausfindig zu machen, die das Mädchen untersuchen konnte. Das mochte Nicole die Entscheidung leichter machen.

      Stephan stand auf, brachte die Gläser in die Küche und ging nach oben. Zaghaft klopfte er an Nicoles Zimmertür. „Nicole, liegst Du schon im Bett?“ fragte er vorsichtig.

      Sie öffnete die Tür. „Noch nicht, aber ich wollte gerade gehen“, sagte sie.

      Erleichtert stellte Stephan fest, daß sie noch vollständig angezogen war. Er lächelte sie an. „Schön. Ich wollte nur fragen, wie das morgen früh mit dem Wecken ist. Wirst Du alleine wach? Wann fängt die Schule überhaupt an?“

      „Um viertel nach acht“, antwortete sie. „Und ja, ich werd allein wach. Also brauchst Du mich nicht zu wecken. Zu Hause hat uns ja auch keiner geweckt. Wann muß ich denn aufstehen?“

      „Je nachdem, wie lange Du im Bad brauchst, aber ich würde sagen, viertel vor sieben reicht.“

      Sie nickte und machte einen Schritt zurück in ihr Zimmer. „Also dann, Gute Nacht.“

      „Gute Nacht“, antwortete Stephan. „Und schlaf schön.“

      Er wartete, bis sie die Zimmertür geschlossen hatte. Dann ging er hinüber in sein Schlafzimmer. Dabei hörte er, wie sich der Schlüssel in ihrer Tür drehte.

      ***

      Nicole war gerade aufgewacht, als sie Schritte auf dem Flur hörte. Ängstlich krallten sich ihre Hände in die Bettdecke. Kam er jetzt etwa doch noch, nachdem er sie die ganze Nacht über in Ruhe gelassen hatte? Sie hatte zwar die Zimmertür abgeschlossen, aber die Tür zum Badezimmer hatte sie vergessen. Das fiel ihr jetzt siedend heiß ein. Sie lauschte angespannt.

      Die Schritte wurden lauter und verklangen dann wieder. Er war an ihrer Tür vorbeigegangen. Sie hörte, wie er die Treppe hinunterlief. Erleichtert atmete sie auf. Anscheinend wollte er also doch nichts von ihr. Eine Weile noch blieb sie liegen, dann stand sie auf und ließ die Rolläden nach oben fahren. Das Wetter hatte sich weiter gebessert, am Himmel waren nur noch wenige Wolken zu sehen. Erwartungsvoll öffnete sie die Balkontür und trat hinaus. Von drinnen hatte es wärmer ausgesehen als es sich jetzt anfühlte. Sie fror entsetzlich in ihrem dünnen T-Shirt und den nackten Füßen. Es war eben noch früh im Jahr. Der Frühling hatte sich noch nicht durchsetzen können. Trotz der Kälte sah sie sich einen Moment lang um.

      Sie entdeckte ihn im Schwimmbad, gerade als er aus dem Wasser stieg. Schnell trat sie einen Schritt zurück, damit er sie nicht sehen konnte. Aber er sah gar nicht hinaus. Als sie wieder vortrat, stand er mit dem Rücken zur Fensterwand und trocknete sich ab. Sie sah, daß er nackt war. Er ließ das Badetuch fallen und stand eine Weile unbeweglich da. Dann begann er, seltsame Verrenkungen zu machen. Es sah aus, als ob er sich in Zeitlupe bewegen würde. Eine Zeitlang sah sie ihm zu, dann wurde es ihr wirklich zu kalt. Schnell kehrte sie zurück in ihr Zimmer, zog sich eilig aus und sprang unter die Dusche. Das heiße Wasser verursachte Schmerzen auf ihrer geschundenen Haut, aber sie biß die Zähne zusammen. Als sie sich vorsichtig zwischen den Beinen wusch, fing es wieder an zu bluten. Vielleicht sollte sie doch zum Arzt gehen, wie Stephan es verlangt hatte.

      Sie war gerade dabei, sich anzuziehen, als es an der Tür klopfte.

      „Bist Du schon wach?“ rief Stephan von draußen.

      Nicole beobachtete die Türklinke. Sie bewegte sich nicht. Also machte er erst gar keinen Versuch, ins Zimmer zu kommen. Zufrieden antwortete sie: „Nein, ich schlafe noch. Hörst Du das nicht?“

      „Na, dann schlaf mal weiter“, tönte er lachend durch die geschlossene Tür. „Frühstück gibt’s in einer Viertelstunde. Wenn Du dann in die Küche schlafwandeln möchtest.“

      Sie lauschte seinen Schritten, die sich leise entfernten. Während sie sich weiter anzog, überlegte sie, ob er wohl auch nackt durchs Haus gelaufen war. Sie konnte es sich vorstellen. Schließlich wohnte er sonst alleine hier. Da brauchte er ja auf niemanden Rücksicht zu nehmen. Was nur, wenn sie ihm dabei über den Weg lief? Nachdenklich sah sie noch einmal nach ihren Schulsachen, dann ging sie hinunter in