Detlef Wolf

Geschwisterliebe


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      „Sehr.“

      „Bin gleich fertig. Setz Dich schon mal. Du möchtest doch Kakao, oder?“

      „Ja gerne“, sagte sie und setzte sich an den Tisch.

      Sie sah ihm zu, wie er den Tisch deckte. „Soll ich Dir was helfen?“

      „Nee, laß mal. Ich bin ja gleich fertig.“

      Sie aßen schweigend.

      „Möchtest Du was zu essen mitnehmen in die Schule? Ein Butterbrot, oder ‘n Apfel?“

      „Wie kommst Du denn auf sowas?“ fragte sie erstaunt. „Das hat’s ja noch nie gegeben.“

      „Also ich hab früher von meiner Mutter immer was mitgekriegt“, antwortete er.

      „Ich noch nie. Aber schaden kann’s ja nicht.“

      Stephan machte ihr zwei Brote zurecht und packte sie, zusammen mit einem Apfel, in eine Tupperdose.

      „Hier, steck das ein. Aber vergiß nicht, es auch zu essen.“

      Nicole sah ihn kopfschüttelnd an. „An was Du alles denkst.“

      Er lächelte sie an. „Muß ich ja. Ich hab ja keinen, der für mich mitdenkt.“ Dann wurde er wieder ernst. „Paß mal auf, ich fahr Dich gleich mit dem Auto in die Schule. Das werden sie dort mitkriegen, und sie werden Fragen stellen. Neuer Freund und so, das kannst Du Dir sicher vorstellen.“

      Nicole nickte.

      „Am besten sagst Du gar nichts dazu. Auf keinen Fall solltest Du aber erzählen, wer ich bin, und wo ich wohne, und daß Du und Dein Bruder jetzt bei mir wohnt. Das kann nur Ärger geben.“

      „Keine Sorge. Mit mir redet sowieso kaum einer. Mit mir will ja keiner was zu tun haben. Sie wissen, wo ich herkomme und daß mein Vater arbeitslos ist und säuft und all das. Wahrscheinlich werden sie sich das Maul zerreißen und blöde Bemerkungen machen, aber das war’s dann auch schon. Am besten setzt Du mich ein Stück vor der Schule ab, dann kriegt’s erst gar keiner mit.“

      Stephan sah sie an. „Hast Du denn überhaupt keine Freunde?“

      Sie schüttelte den Kopf. Tränen schossen ihr in die Augen. „Ich hab nur Kevin“, sagte sie leise.

      Er mußte sich zusammennehmen, sie nicht doch einfach in die Arme zu nehmen. Sie tat ihm so unendlich leid.

      Während der Autofahrt schwieg sie. Stephan setzte sie in der Nähe der Schule ab. „Ich hol Dich heut Mittag hier wieder ab. Wann habt Ihr denn Schluß?“

      „Um eins“, antwortete sie. Dann sah sie ihn noch einmal kurz an, stieg aus und lief eilig davon.

      Stephan fuhr weiter zum Krankenhaus. Kevin wartete schon auf ihn. Er hatte die schmutzigen, blutbefleckten Sachen wieder angezogen, die er bei der Einlieferung ins Krankenhaus getragen hatte. Stephan ärgerte sich, daß er vergessen hatte, dem Jungen saubere Kleidung mitzubringen. Andererseits würden sie ja ohnehin sofort nach Hause fahren. Dann konnte er sich ja umziehen.

      Der Arzt und die Krankenschwester waren gekommen, um Kevin und auch Stephan noch einmal eindringlich die Verhaltensmaßnahmen für die kommenden Wochen ans Herz zu legen. Zumindest in den ersten beiden Wochen sollte Kevin ständig liegen, wenig lesen, wenig fernsehen. Danach könne er dann langsam stundenweise aufstehen. Trotzdem sei möglichst viel Ruhe die beste Therapie. Stephan versprach, sich darum zu kümmern, daß Kevin diese Ratschläge auch befolgte.

      „Es wäre gut, wenn Sie in den nächsten Tagen noch einmal vorbeischauen könnten“, sagte der Arzt zu Stephan, als er sich von den beiden verabschiedete. Er sah ihn eindringlich dabei an. Stephan nickte. Er hatte verstanden. Der Arzt reichte ihm die Hand und ging weg.

      Die Krankenschwester gab Stephan ein Rezept. „Hier, das ist eine Salbe. Die soll der Junge auf die wunden Stellen auftragen. Zweimal am Tag, morgens und abends. Und sorgen Sie bitte dafür, daß er sich immer ordentlich sauber hält, damit sich nichts entzündet. Baden wäre gut, einmal am Tag. Besorgen sie ihm einen milden Badezusatz, möglichst ohne Parfüm. Am besten sowas, was man für Babys nimmt.“

      Kevin stand dabei und hörte sich das alles teilnahmslos an. Er sah blaß und krank aus. Stephan wollte ihm den Arm um die Schultern legen, aber der Junge wehrte ab. Also ließ Stephan ihn. „Geht’s denn?“

      Er nickte. Stumm gingen sie nebeneinander her zum Auto.

      „Geiles Auto“, meinte Kevin, als sie einstiegen. „Is ’n GTI, oder?“

      Stephan nickte. „Eigentlich brauch ich sowas gar nicht. Ich fahr ja kaum damit. Meistens nehm ich den Bus oder das Fahrrad.“

      Auf der Fahrt zu Stephans Haus gaben sich beide schweigsam. Stephan hatte die Lehne des Beifahrersitzes so weit wie möglich nach unten verstellt, so daß Kevin beinahe auf dem Sitz lag. Daher bekam der Junge kaum mit, wohin die Fahrt ging. Stephan fuhr gleich in die Garage, deren Tor sich automatisch hinter dem Auto schloß. Er führte Kevin durch den gläsernen Gang ins Haus. Kevin wunderte sich, als sie in die große Eingangshalle kamen.

      „Wo sind wir denn hier?“ fragte er.

      „Bei mir zu Hause“, antwortete Stephan knapp und ging die Treppe hinauf. Langsam folgte Kevin ihm.

      Stephan öffnete die dritte Tür auf der linken Seite. „Das hier ist Dein Zimmer“, erklärte er. „Zieh Dich schon mal aus und leg Dich ins Bett. Frische Sachen findest Du im Schrank. Ich komm gleich wieder nach Dir sehen.“

      Kevin sah sich staunend um, sagte aber nichts. Gehorsam begann er, sein Hemd aufzuknöpfen. Stephan nickte zufrieden und ging hinaus. In der Küche goß er Milch in ein Glas und legte ein paar Plätzchen auf einen Teller. Damit ging er wieder nach oben.

      Kevin hatte sich tatsächlich ausgezogen. Er lag im Bett und trug nun ein sauberes T-Shirt. Stephan stellte das Glas und den Teller auf den kleinen Tisch neben dem Bett.

      „Hier, ich hab Dir was zu trinken und ein bißchen was zu knabbern mitgebracht“, sagte er. „Nicole hat mir erzählt, daß Du gerne Milch trinkst. Wenn Du noch mehr möchtest, sagst Du mir Bescheid, okay?“

      Kevin sah verwundert zwischen dem Tischchen und Stephan hin und her. „Ist heute Sonntag, oder was? Milch und Plätzchen, wo gibt’s denn sowas?“

      Stephan lachte. „Hier bei mir, das siehst Du doch. Und nicht nur sonntags, sondern auch am Werktag. Also laß es Dir schmecken. Und dann schläfst Du vielleicht ein bißchen. Nachher hol ich Nicole von der Schule ab. Dann laß ich Dich mal eine Zeitlang allein. Das ist doch kein Problem, oder?“

      Aber damit gab sich Kevin nicht zufrieden. „Willst Du mir vielleicht mal erklären, was das alles soll?“

      Stephan setzte sich auf die Bettkante. „Na klar. Ich bin Dir wohl tatsächlich ein paar Antworten schuldig. Also, Du weißt ja, daß Nicole und ich mit Eurem Lehrer bei Deiner Mutter waren. Die hat eingewilligt, daß Ihr ab jetzt bei mir wohnt. Für wie lange, das haben wir nicht besprochen, aber ich geh mal davon aus, für ziemlich lange. Und bei mir zu Hause, da bist Du jetzt. Das Zimmer hier war früher mal meins, und in dem Bett, in dem Du liegst, hab ich früher geschlafen. Jetzt wohne ich alleine hier, also zumindest hab ich das bis Anfang der Woche getan, jetzt seid Ihr ja bei mir. Jedenfalls bin ich ins große Schlafzimmer umgezogen, in dem früher meine Eltern geschlafen haben. Und Nicoles Zimmer war früher das meiner Schwester. Zwischen ihrem und Deinem Zimmer ist Euer Badezimmer, falls Du mal zum Klo mußt oder Dich waschen willst oder so. Das Bad müßt Ihr Euch teilen, aber das macht Dir ja sicher nichts aus, oder?“

      „Nee, bestimmt nicht“, versicherte Kevin. „Zu Hause hatten wir ja auch nur ein Badezimmer. Aber wo sind denn Deine Eltern und Deine Schwester jetzt?“

      „Die gibt’s nicht mehr, die sind tot“, antwortete Stephan und stand auf, zum Zeichen, daß er darüber nicht reden wollte.

      Kevin sah ihn erschrocken an. Aber er fragte nicht weiter.

      Stephan kniff lächelnd die Augen