Detlef Wolf

Geschwisterliebe


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so wie heute?“

      Nicole nickte. „Hat doch ganz gut geklappt, oder?“

      „Eben. Vielleicht gefällt’s Euch ja bald hier.“

      „Aber das tut’s doch jetzt schon“, platzte sie heraus. „Du weißt gar nicht, wie froh wir sind.“

      Schnell drehte sie sich um und lief hinaus. Stephan sah ihr nachdenklich hinterher. „Träum was Schönes“, murmelte er.

      ***

      Wieder wurde Nicole wach, als Stephan am nächsten Morgen über den Flur ging. Diesmal erschrak sie nicht. Sie hatte auch ihre Zimmertür nicht abgeschlossen. Sie stand auf und ließ die Rolläden nach oben fahren. Vom Fenster aus sah sie, wie Stephan in die Schwimmhalle kam. Er hatte nichts an. Also war er tatsächlich völlig nackt durchs Haus gelaufen. Kopfüber sprang er ins Schwimmbecken, schwamm ein paar Bahnen und stieg dann wieder hinaus. Wieder stellte er sich an den Beckenrand und machte seine seltsamen Turnübungen. Es sah recht elegant aus, wie er sich bewegte. Gerne hätte sie ihn gefragt, was er da machte. Aber das ging natürlich nicht. Dann hätte sie ja zugeben müssen, daß sie ihn beobachtet hatte. Und das wollte sie auf keinen Fall. Das wäre ihm mit Sicherheit gar nicht recht gewesen. Ebensowenig wie sie das gut gefunden hätte. Ein wenig schäbig kam sie sich deshalb schon vor. Aber sie mußte zugeben, daß ihr der Anblick gefiel. Doch sie riß sich los und ging ins Badezimmer.

      Während sie unter der Dusche stand, kam Kevin herein. Schlaftrunken hielt er sich am Türpfosten fest.

      „Was machst Du denn schon so früh hier?“

      „Du hast mich geweckt“, antwortete er. „Und da wollte ich mal sehen, ob’s Dir gut geht.“

      Nicole lachte. „Es geht mir wunderbar. Und Dir?“

      „Einigermaßen“, gab er zu. „Ziemlich schlapp eben.“

      „Dann leg Dich doch einfach wieder ins Bett. Ich komm gleich nochmal bei Dir vorbei.“

      Kevin brummte etwas Unverständliches und trollte sich. Er schlief wieder, als sie in sein Zimmer kam, nachdem sie sich angezogen hatte. Sie bedachte ihn mit einem liebevollen Blick und schlich hinaus.

      Beim Frühstück schwiegen sie und Stephan sich an. Wieder machte er ihr ein Schulbrot zurecht und schälte und schnitt einen Apfel.

      „Wie kann man nur so lieb sein?“ fragte sie lächelnd.

      „Was heißt hier: lieb sein?“ gab er zurück. „Du brauchst das doch. Und wenn Du jetzt schon mal bei mir zu Hause bist, dann muß ich mich doch auch um Dich kümmern. Findest Du nicht?“

      Sie schüttelte den Kopf. „Unsere Eltern haben sich nie so um uns gekümmert. Und Du bist ein völlig Fremder und machst auf einmal solche Sachen. Da kommt man sich ja vor wie im Paradies.“

      „Na, jetzt übertreib aber mal nicht“, wehrte er ab. „Nur weil ich Dir ein Schulbrot mache, bist Du ja noch lange nicht im Paradies.“

      „Und alles andere? Wir dürfen hier wohnen und in einem richtigen Bett schlafen, Du gibst mir ’n Haufen Geld für Klamotten, Du sorgst dafür, daß ich zum Arzt gehe, Du holst Kevin aus dem Krankenhaus und bezahlst sogar die Rechnung für ihn, Du kochst für uns und fragst ständig, ob’s uns auch gutgeht und ob wir was brauchen. Du redest mit meinem Lehrer, mit Deiner Anwältin und sogar mit meiner Mutter. Alles für uns. Das ist alles so unglaublich, ich versteh das alles nicht.“

      „Ich auch nicht. Aber das ist ja auch gar nicht nötig. Sag Dir einfach, daß ich einen Narren an Euch beiden gefressen habe. Das reicht schon.“ Er schob ihr die Tupperdose mit dem Schulbrot über den Tisch. „So, und nun steck das ein und mach Dich fertig. Wir müssen los. Sonst kommst Du mir am Ende noch zu spät in die Schule. Und das geht ja gar nicht.“

      „Siehst Du, das ist auch wieder sowas“, gab sie zurück, während sie aufstand und die Dose in ihre Schultasche packte. „Unsere Eltern haben sich einen Dreck darum gekümmert, ob wir pünktlich in die Schule kommen. Denen war das scheißegal.“

      „Aber mir nicht“, antwortete Stephan. „Und jetzt komm.“

      „Kann ich nochmal kurz nach Kevin gucken?“

      Stephan sah auf seine Uhr. „Aber nur ‘n Moment.“

      Eilig lief Nicole die Treppe hinauf. Kevin war inzwischen wieder aufgewacht. Er strahlte seine Schwester an, als sie hereinkam. „Hallo Nicci“, sagte er und setzte sich auf. „Ist das eine von Deinen neuen Jeans?“

      Nicole nickte.

      „Steht Dir gut“, meinte er. „Du siehst überhaupt gut aus.“

      Sie lachte. „Aber Du nicht. Also leg Dich schön wieder hin. Und mach keinen Scheiß.“

      Kevin ließ sich zurück in die Kissen fallen. „Mach ich nicht. Und Dir alles Gute nachher beim Arzt.“

      „Wird schon. Stephan kommt ja mit.“

      „Na dann ist ja alles gut.“

      ***

      Aber nichts war mehr gut, als Stephan sie mittags in der Nähe der Schule abholte. Den ganzen Morgen hatte sie nur an ihren Arzttermin gedacht. Und je näher das Unterrichtsende kam, desto nervöser war sie geworden. Jetzt zitterte sie sogar ein wenig, als sie zu ihm ins Auto stieg.

      „Dann wollen wir mal“, meinte er und fuhr los. „Keine Panik, Mäuschen. Alles halb so schlimm.“

      Sie gab ihm keine Antwort. ‚Wenn Du wüßtest’, dachte sie nur.

      Vor der Praxis der Frauenärztin hielt er an, um sie aussteigen zu lassen. Aber sie blieb sitzen. „Kommst Du mit?“ bat sie.

      Stephan sah sie an. Ihre Angst schien noch größer geworden zu sein. Sie war nahe daran, in Panik zu geraten.

      „Na klar“, sagte er.

      Die Ärztin wartete schon auf sie. Während der Mittagspause war sie allein in der Praxis. Das Wartezimmer war leer, die Helferinnen waren weggegangen.

      Die Ärztin begrüßte die beiden. „Komm gleich mit ins Sprechzimmer“, sagte sie zu Nicole. „Wir können sofort anfangen.“

      „Ich setz mich derweil ins Wartezimmer“, sagte Stephan.

      Nicole klammerte sich an seinen Arm. „Kommst Du nicht mit?“ Es war das erstemal, daß sie ihn anfaßte.

      „Aber Mäuschen, das geht doch nicht. Ich kann doch nicht mitkommen, wenn Du von der Frauenärztin untersucht wirst.“

      „Doch, bitte, komm mit Stephan, bitte“, flehte sie.

      Stephan sah die Ärztin ratlos an.

      Die Frau zögerte einen Moment. Sie sah die Panik in Nicols Augen. „Ich glaube, es ist besser, wenn Sie tatsächlich mitkommen“, sagte sie schließlich.

      Sie schickte Nicole in eine Umkleidekabine. „Du mußt Dir die Hose und die Unterhose ausziehen“, wies sie das Mädchen an. „Alles andere kannst Du anbehalten.“

      „Was ist denn los mit dem Kind?“ fragte sie leise, als sie mit Stephan ins Sprechzimmer ging. „Das Mädchen ist ja völlig außer sich.“

      „Ich weiß nicht“, antwortete Stephan. „Ich denke mal, sie hat panische Angst davor, daß sie jemand anfaßt und ihr wehtut.“

      „Aber vor Ihnen scheint sie keine Angst zu haben.“

      „Sieht so aus. Aber warum weiß ich auch nicht. Vielleicht, weil ich’s bis jetzt vermieden habe, sie überhaupt auch nur zu berühren. Vielleicht vertraut sie mir ja.“

      Die Ärztin nickte. „Am besten halten Sie ihre Hand und reden mit ihr. Ich weiß natürlich nicht, was mit Ihr los ist. Kann schon sein, daß die Untersuchung nicht ganz schmerzlos ist. Aber ich werde es rechtzeitig sagen.“

      Nicole kam aus der Umkleidekabine. Sie hatte bis auf ihr T-Shirt alles ausgezogen.