Detlef Wolf

Geschwisterliebe


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zu seiner Schwester, als Stephan draußen war.

      Sie nickte. „Gleich die ganze Familie tot. Eltern und Schwester. Und die waren anscheinend eine gute Familie. Sehr traurig.“

      Stephan kam zurück mit den Gläsern. „Na, was guckt Ihr so bedröppelt? Tut Euch was weh, oder was? Wie ist das überhaupt bei Dir, Nicole? Die Betäubung dürfte ja jetzt langsam nachgelassen haben.“

      „Ja, und es tut auch wieder weh, aber man kann’s aushalten. Es war schon schlimmer.“

      Sie tranken einen Schluck.

      „Wie seid Ihr eigentlich in der Schule?“ erkundigte Stephan sich.

      „Och, ganz gut“, antwortete Nicole. „Wir geben uns Mühe. Wenigstens da kann uns der Alte ja nicht dazwischenfunken. Nur blöd, daß wir morgens immer so müde sind, wenn er uns abends vorher mitgenommen hat.“

      „Na, das kommt ja nun nicht mehr vor“, versicherte Stephan. „Und ich werde schon dafür sorgen, daß Ihr rechtzeitig ins Bett kommt.“ Er wandte sich an Kevin. „Nur leider wirst Du ja jetzt ’ne ganze Menge verpassen.“

      Aber Kevin winkte ab. „Halb so schlimm. Das hol ich schon wieder auf. So schwer ist das ja nicht, was wir da machen.“

      „Er ist der beste in seiner Klasse“, sagte Nicole stolz.

      „Und Du?“

      Sie sah verlegen zu Boden. „Ich auch“, gab sie leise zu.

      „Konntet Ihr da nicht zum Gymnasium gehen?“

      Nicole sah ihn böse an. „Du bist gut“, schnappte sie. „Wer hätte uns denn da wohl hinschicken sollen?“

      „Aber Ihr wärt gerne gegangen?“

      Nicole zuckte die Achseln. „Ja sicher. Die Lehrer wollten auch, daß wir gehen. Aber der Alte wollte nichts davon wissen. Und unsere Mutter hatte sowieso nichts zu sagen.“

      Stephan sagte nichts mehr dazu. Er nahm sich vor, mit Lohner, dem Mathematiklehrer, zu reden. Es mußte doch eine Möglichkeit geben, die Kinder auch jetzt noch auf die höhere Schule zu schicken.

      Kevin stand auf. „Ich glaub, ich leg mich mal wieder ins Bett.“

      Stephan sah ihn an. Das Gespräch schien den Jungen deprimiert zu haben. „Mach das“, sagte er. „Soll ich gleich nochmal nach Dir sehen?“

      „Wenn Du willst“, antwortete Kevin.

      Er nahm seine Decke und sein Kissen und schlich davon. Nicole stand ebenfalls auf. „Ich glaub, ich geh dann auch mal“, sagte sie.

      Stephan nickte nur. Er räumte die leeren Gläser weg und schaltete das Licht im Wohnzimmer aus. In seinem Arbeitszimmer setzte er sich in einen Sessel und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Er dachte über die beiden Kinder nach. Was für eine Schande, soviel Talent so zu verschleudern. Es war wieder eine neue Aufgabe für ihn. Er lachte leise in sich hinein. Bei den beiden kam wirklich eins zum anderen. Aber es war auch eine Herausforderung. Er würde sie auf keinen Fall im Stich lassen, nahm er sich vor. Gleich am Wochenende wollte er noch einmal mit Patrizia reden. Es mußte einen Weg geben, damit die Kinder bei ihm bleiben konnten. Sie sollte sich darum kümmern. Wozu war sie Anwältin?

      Seufzend griff er nach der Zeitung, die er noch immer nicht gelesen hatte. Eine Stunde später fielen ihm die Augen zu. Er beschloß, sich ebenfalls hinzulegen.

      Als er nach oben kam, sah er, daß beide Zimmertüren einen Spalt offenstanden. Kevin schlief. Er hatte sich ausgezogen und lag nun nackt im Bett. Sein Rücken war nicht richtig zugedeckt. Stephan zog ihm die Bettdecke zurecht und strich ihm über den Kopf.

      „Was ist denn?“ murmelte der Junge.

      „Gar nichts“, antwortete Stephan leise. „Schlaf schön.“

      Er ging hinaus und zog die Tür hinter sich zu. Auch in Nicoles Zimmer warf er einen kurzen Blick. Sie lag ganz ruhig in ihrem Bett. Er wollte schon wieder hinausgehen, da sagte sie: „Stephan?“

      Er zuckte zusammen. „Mäuschen, warum schläfst Du denn nicht?“

      „Ich hab auf Dich gewartet.“

      „Aber ich bin doch morgen früh auch noch da.“

      „Ich wollte Dir aber heute noch was sagen.“

      Er setzte sich zu ihr auf die Bettkante. „Was gibt’s denn noch so Wichtiges?“

      Sie nahm seine Hand. „Danke“, sagte sie leise.

      Er strich ihr sanft über die Stirn. „Och Mäuschen. Das hab ich doch gern gemacht.“

      Sie fing an zu weinen. Stephan beugte sich über sie und nahm sie vorsichtig in die Arme. Auch sie hatte weder Schlafanzug noch Nachthemd an. Er streichelte ihren nackten Rücken und hielt sie fest, bis sie sich beruhigt hatte. Dann legte er sie wieder hin und deckte sie zu. Noch einmal strich er ihr über die Stirn.

      „Schlaf schön, mein Mäuschen.“

      Er wollte aufstehen, aber sie griff schnell nach seiner Hand. Er setzte sich wieder. Sie sah ihn mit ihren großen, braunen Augen an. Ganz fest hielt sie seine Hand umklammert. Stephan lächelte sie an. Nach einer Weile spürte er, wie sie sich entspannte. Sie schloß die Augen. Trotzdem blieb Stephan bei ihr sitzen und hielt ihre Hand, bis sie eingeschlafen war. Erst als er ihre ruhigen und gleichmäßigen Atemzüge hörte, ließ er sie los und stand auf. Noch einmal zog er ihre Bettdecke zurecht. Ganz vorsichtig drückte er ihr einen kleinen Kuß auf die Schläfe, bevor er durchs Badezimmer hinüberging zu Kevin.

      Der Junge hatte von alldem nichts mitbekommen. Er schlief tief und fest. Stephan betrachtete ihn. Er hatte sich in die beiden verliebt, gestand er sich ein. Sie waren dabei, ihm ans Herz zu wachsen. Ein angenehm warmes Gefühl der Zufriedenheit durchströmte ihn. Was immer jetzt daraus werden mochte, er war sich sicher, daß es gut ausgehen würde. Lächelnd schlich er hinaus und zog leise die Tür hinter sich zu.

      ***

      Stephan hörte Geschirrklappern in der Küche, als er am nächsten Morgen aus dem Schwimmbad kam. Ohne Hineinzusehen lief er schnell an der offenen Küchentür vorbei nach oben, um sich anzuziehen.

      „Guten Morgen, Nicole“, begrüßte er das Mädchen, als er wenig später zurückkam. „Du bist aber schon früh aufgestanden.“

      Sie drehte sich zu ihm um. „Hallo Stephan. Ich dachte, ich mach schon mal Frühstück.“

      Lächelnd sah sie ihn an. Etwas Erwartungsvolles lag in ihrem Blick, und dann schien sie ein wenig enttäuscht, daß die Erwartung nicht erfüllt wurde. Anscheinend hatte sie darauf gehofft, daß Stephan sie zur Begrüßung in den Arm nehmen würde, so wie er das am Abend zuvor getan hatte, als sie weinend im Bett lag. Aber er tat nichts dergleichen.

      Möchtest Du was besonderes essen?“ fragte sie.

      Stephan schüttelte den Kopf. „Nee. Brot, Wurst, Marmelade und Kaffee. Das genügt.“

      „Den Kaffee mußt Du Dir aber selber machen. Mit Deiner Maschine kann ich nicht umgehen.“

      „Komm her, ich zeig’s Dir.“

      Sie standen dicht nebeneinander, als er die Kaffeemaschine fertigmachte. Aber sie berührten sich nicht. Nicole war enttäuscht. Stephan schaltete die Maschine ein.

      „Alles klar?“ fragte er und sah sie lächelnd an.

      Sie nickte.

      „Dann setz Dich. Ich komm gleich, sobald die Höllenmaschine hier fertig ist.“

      Das Gerät gab eine Reihe spuckender Geräusche von sich.

      „Was ist mit der Salbe, Nicole?“ fragte er über die Schulter hinweg. „Hast Du Dich gründlich eingerieben?“

      „Hat Kevin gemacht“, antwortete sie. „Und dann hab ich eins von den neuen Höschen angezogen, die Du uns gekauft hast.“

      „Und,