sind tot. Mir hat er’s gesagt. Er ist anscheinend jetzt ganz alleine.“
„Eine Freundin hat er noch. Patrizia. Das ist seine Rechtsanwältin. Die hat er auch schon angerufen. Die kümmert sich jetzt um unsere Papiere und so. Er denkt wirklich an alles.“
Kevin schwieg nachdenklich.
„Das können wir ihm nie wieder gutmachen“, sagte Nicole in die Stille hinein. „Jetzt schon nicht. Und wir sind noch nicht mal ’ne Woche bei ihm. Wer weiß, was ihm noch alles einfällt.“
„Vielleicht will er’s ja auch gar nicht. Vielleicht ist er ja selber froh, daß er uns aufgegabelt hat. Und uns kann’s doch nur recht sein, daß er sich so um uns kümmert. Am besten, wir warten einfach ab, wie’s weitergeht. Solange wie’s dauert, ist es doch super.“
Nicole nickte. Stumm sahen sie sich an. Kevin lächelte und griff nach ihrer Hand. Nicole lächelte zurück. Sie waren beide sehr glücklich.
Stephan kam herein. „Na, Du liegst ja schon wieder“, sagte er zu Kevin.
„Ja, Ich hab Nicci die Haare abrasiert und sie mit der Salbe eingerieben. Dann hat sie mich eingeschmiert.“
„Es geht ihm nicht gut“, sagte Nicole. „Er sagt, ihm ist schwindelig.“
„Kein Wunder. War ja vielleicht auch ‘n bißchen viel“, antwortete Stephan. „Aber Kopfschmerzen hast Du keine?“
Kevin schüttelte den Kopf.
„Halt die Birne still“, mahnte ihn Stephan. „Sonst wirst Dir nur noch mehr schwindelig. Ich geh uns mal Abendbrot machen. Bleibst Du bei ihm?“
Nicole nickte.
„Irgendwas Spezielles, was Ihr essen möchtet?“
„Wir wissen ja gar nicht, was Du hast“, antwortete sie.
„Mögt Ihr Krabben?“
„Keine Ahnung. Haben wir noch nie gegessen“, gab sie zurück.
„Na gut, dann probiert Ihr mal welche.“ Er wandte sich zur Tür. „Ich ruf Euch, wenn das Essen fertig ist.“
Er ging in die Küche und bereitete Rührei mit Krabben und Bratkartoffeln zu. Dazu machte er einen Salat.
„Essen ist fertig!“ rief er durch die offene Küchentür.
Nicole und Kevin kamen herunter. Nicole trug immer noch Stephans Bademantel, Kevin hatte ein T-Shirt und einen Slip übergezogen. Sie setzten sich an den Tisch. Stephan legte ihnen vor. Skeptisch musterten sie die kleinen, rosafarbenen Würmer in dem Rührei. Aber sobald sie davon probiert hatten, hellten sich ihre Gesichter auf.
„Das schmeckt ja super“, rief Kevin mit vollem Mund.
Stephan lachte. „Dann hau rein, Junge. Es ist genug da.“
Am Ende war Stephan sich dessen nicht mehr so sicher. Sie hatten alles aufgegessen. Auch von dem Salat war nicht ein Blättchen übrig.
„Seid Ihr satt geworden?“ fragte er besorgt.
„Ich platze gleich“, meinte Kevin und hielt sich den Bauch.
„Und Du?“
„Auch“, antwortete Nicole.
„Na, das freut mich ja. Sollen wir ins Wohnzimmer gehen? Da kann Kevin sich hinlegen.“ Er holte ihm Kissen und Decke aus seinem Zimmer.
Nachdem der Junge es sich bequem gemacht und zugedeckt hatte, fragte er: „Spielst Du Klavier?“
Stephan sah hinüber zu dem großen Instrument. „Nein. Meine Mutter und meine Schwester haben darauf gespielt. Jetzt benutzt es keiner mehr.“
Nicole, die sich neben ihn gesetzt hatte, nahm seine Hand. „Erzählst Du uns von ihnen?“
Stephan sah sie lange schweigend an. „Meine Schwester und ich, wir waren so alt wie Ihr, damals. Nur umgekehrt. Ich war fünfzehn und meine Schwester dreizehn. Wir waren in Namibia bei den Großeltern. Die wohnen in Tsumeb. Das ist eine kleine Stadt im Norden. Mein Vater mußte von dort nach Windhoek. Das ist die Hauptstadt von Namibia, etwa vierhundertfünfzig Kilometer weit weg von Tsumeb. Er hatte keine Lust, die lange Strecke mit dem Auto zu fahren. Es gab ja auch Flüge von Tsumeb nach Windhoek. Also ist er geflogen. Meine Mutter und meine Schwester wollten mitkommen, um ein bißchen einkaufen zu gehen, während er zu tun hatte. Ich hatte keine Lust. Einkaufen war nicht so mein Ding. Also blieb ich bei meinen Großeltern. Das Flugzeug mit Carmen und meinen Eltern ist abgestürzt. Sie waren alle sofort tot.“
Er machte eine Pause und wischte sich über die Augen. Nicole hielt noch immer seine Hand.
„Wir haben sie in Tsumeb begraben. Ich bin dann zurück nach Deutschland. Ich mußte ja weiter zur Schule gehen. Ich hatte hier noch eine Großmutter, die Mutter meines Vaters. Die hat sich um mich gekümmert. Vor zwei Jahren ist sie auch gestorben. Seitdem wohne ich alleine hier.“
Er stand auf und ging zu einem Wagen, auf dem Gläser und Flaschen mit allerlei Getränken standen. Dort schüttete er sich einen großen Whisky ein. Er nahm einen Schluck. Dann setzte er sich wieder zu den Kindern. Das Glas stellte er vor sich auf den Tisch.
„Tja, so war das.“, sagte er. „Mein Vater war Finanzmakler. Er hatte sehr viel Geld. Ich hab das alles geerbt. Jetzt versuche ich, seine Geschäfte weiterzuführen. Es klappt ganz gut. Ich kann mich nicht beklagen. Das seht Ihr ja. Aber hier in Deutschland habe ich jetzt niemanden mehr. Mein Vater hatte noch einen Bruder. Aber mit dem hatten wir so gut wie nie was zu tun. Ich weiß gar nicht, ob er überhaupt noch lebt, und wo. Als meine Oma noch da war, hieß es, er sei nach Australien abgehauen. Weil er Schwierigkeiten mit der Steuer hatte. Aber ob das stimmt, weiß ich nicht. Die Eltern meiner Mutter wohnen noch immer in Tsumeb. Sie hatte auch zwei Brüder. Der eine hat eine große Farm in der Nähe von Okahandja, und der andere ist Rechtsanwalt und wohnt in Windhoek. Ich besuche sie ein- oder zweimal im Jahr. Sie sind alle sehr nett. Aber dort hinziehen möchte ich nicht. Ich möchte in diesem Haus wohnen bleiben. Auch wenn ich hier allein bin.“
Er sah die beiden Kinder an.
„Oder allein war“, sagte er lächelnd. „Jetzt seid Ihr ja da.“
„Hast Du uns deshalb hergebracht? Damit Du nicht mehr allein bist?“ fragte Kevin.
Stephan schüttelte den Kopf. „Nein, Kevin. Ganz bestimmt nicht. Ich bin allein sehr gut klargekommen. Außerdem hab ich auch noch ’ne sehr gute Freundin, die mich gelegentlich besucht. Die werdet Ihr bestimmt auch bald kennenlernen.“
Er lachte und drückte Nicoles Hand. „Nee, Ihr beide, Ihr seid mir passiert. Das hab ich ja schon gesagt. Und jetzt bin ich froh, daß ich Euch ’n bißchen helfen kann.“
„’N bißchen ist gut“, meinte Nicole. „Was Du machst, ist schon mehr als ’n bißchen.“
„Naja, seh’n wir mal, wie’s weitergeht. Erstmal werde ich mich jedenfalls jetzt um Euch kümmern. Wenn Ihr wollt, heißt das.“
„Na klar wollen wir“, sagte Kevin. „Wir wären ja blöde, wenn nicht.“
„Na also, dann hätten wir das ja geklärt. Eure Mutter ist damit einverstanden, und Euer Vater kann in der nächsten Zeit erstmal gar nichts machen. Und in Eurer Schule wissen sie auch Bescheid.“
Zufrieden nahm er sein Glas und trank einen weiteren Schluck.
„Mögt Ihr auch was?“ fragte er.
„Davon?“ Nicole zeigte auf Stephans Glas. „Nee danke, ganz bestimmt nicht.“
Stephan lachte. „Nee, davon hättet Ihr auch ganz bestimmt nix gekriegt. Aber ’n Glas Saft vielleicht. Oder Milch?“
„Was hast Du denn für Saft?“ erkundigte Kevin sich.
„Eigentlich alles. Sag mir nur, was Du willst.“
„Dann Apfelsaft, bitte.“
„Und