Gedanken behielt er besser für sich. Sein Ruf als Querkopf und Zweifler trug ihm schon genug Ärger ein.
„Heute sind die Vorleser und Magier ziemlich nervös“, flüsterte Wynfried. „Sollen wir unseren Plan nicht besser verschieben?“
Mit einer Handbewegung bedeutete Jeremiah ihm, still zu sein. Selbst diese kleine Geste entging Sungear nicht, wie ein kurzes, abfälliges Zucken seiner Mundwinkel erkennen ließ. Aber im Gegensatz zu anderen Tagen war es heute ein gutes Zeichen für Jeremiah, dass Sungear ihn besonders im Auge behielt. Es deutete darauf hin, dass Jeremiahs Vorhaben gelingen könnte. Sobald Sungear seine Lesung beendete, kam der entscheidende Moment: die Verteilung der Tagesaufgaben an die Novizen. Aber noch war es nicht so weit.
Jeremiahs Blick schweifte an den Wänden entlang, die aus uralten Ziegeln gemauert waren. Zwanzig Meter unter der Erde befanden sie sich hier. Genauer gesagt, unter der Wüste am Rande des ägyptischen El-Faijum-Gebietes, einem der frühesten Siedlungsgebiete in der Geschichte der Menschheit. Vor fünftausend Jahren hatten Magier, deren Namen und Absichten längst vergessen waren, diese unterirdische Anlage erbaut. Durch die Wände der Räume liefen magische Felder, die an Stärke alles übertrafen, was man sonst auf der Welt kannte. Die in die Decken eingelassenen Glassteine lieferten echtes Tageslicht als wären es Fenster, und das mittels einer Magie, von der nicht einmal Jeremiahs Lehrer eine Vorstellung hatten. Ähnlich verhielt es sich mit der frischen Luft, die unablässig aus den porösen Ziegelwänden strömte.
Die Erbauer nutzten die Anlage damals nur wenige Jahrzehnte lang. Dann verschwanden sie, ohne in den Geschichtsbüchern Spuren zu hinterlassen. Jeremiah dachte jedoch nicht weiter über diese rätselhaften Erbauer nach. Er interessierte sich in letzter Zeit eher für moderne Dinge. Dampfschiffe, zum Beispiel, oder Eisenbahnen. Leider war alles Moderne in der magischen Akademie unerwünscht. Aktuelle Zeitungen und Bücher über Technik gab es zwar, aber sie wurden weggeschlossen.
Natürlich reizte das Jeremiah um so mehr, einen Blick hineinzuwerfen. Darüber hatte er sich am frühen Morgen auch mit seinen beiden Freunden Yblah und Wynfried unterhalten. Wynfried prahlte wieder einmal: „Ich habe es mit eigenen Augen gelesen: Die modernste Eisenbahn der Welt fährt jetzt hier in der Nähe vorbei!“
„Wo steht das“?
„In der Cairo Times, die Walera regelmäßig bekommt. Ich konnte einen Blick reinwerfen, als ich in seinem Büro war.“
„Einmal möchte ich so eine Maschine sehen“, sagte Yblah.
„Ich auch“, gab Jeremiah zu. „Wie wär's? Kommende Nacht?“
„Bist du verrückt? Wir wissen nicht einmal, wo genau die Bahnstrecke verläuft. Und wenn wir erwischt werden, kommen wir dieses Mal nicht mehr so glimpflich davon.“
„Ich will schon lange einen neuen Zauber an Sungear ausprobieren“, sagte Jeremiah. „Das ist die passende Gelegenheit. Ich beeinflusse ihn so, dass er mich gegen seinen Willen zum Bibliotheksdienst einteilt. Dort finde ich schon eine Möglichkeit, in die Kammer mit den modernen Schriften zu kommen und mir die Zeitung anzusehen.“
„Schon wieder so eine Idee von dir, die uns jede Menge Strafarbeiten einbringen wird.“
„Na, und? Macht ihr mit?“
Klar machten sie mit. Und so hatte Jeremiah noch vor dem Frühstück das magische Ritual ausgeführt. Nichts wirklich Kompliziertes, es dauerte nur ein paar Minuten. Aber Sungear, dem fetten Vorleser, würde den ganzen Tag über der Name Jeremiah Kendall im Kopf herumschwirren, zusammen mit diffusen Bildern von alten Folianten, Papyrusrollen und Keilschrifttafeln.
Es war gefährlich, magische Sprüche auf Vorleser loszulassen, denn Magie war deren Beruf und Berufung. Jeremiah allerdings glaubte sich das erlauben zu können, denn seine magischen Fähigkeiten übertrafen schon jetzt die der meisten Lehrkräfte.
Er merkte auf, denn Sungears monotoner Singsang ging nun über in einen befehlenden Tonfall. Sungear legte die Papyrusrollen beiseite und begann mit der Verteilung der alltäglichen Pflichten der Novizen. Exerzitien, Küchendienst, Bibliotheksdienst – jeder bekam seine Aufgabe für diesen Tag zugewiesen, ganz nach Sungears Belieben.
Es gab keinen festen Plan dafür; die Vorleser entschieden täglich neu. Dabei wurde natürlich darauf geachtet, dass die nicht so strebsamen Novizen die unbeliebteren Arbeiten zugeteilt bekamen. Das war die einzige Art von Bestrafung, die es in der Akademie gab. Deshalb war dieser Moment am Morgen immer besonders spannend. Jeremiah zwinkerte Wynfried und Yblah zu, als es so weit war.
„Jeremiah Kendall, du hast heute ...“ Sungear zögerte und schien einen Moment unkonzentriert, bevor er fortfuhr: „... Bibliotheksdienst.“
„Sehr gut“, rutschte es Wynfried heraus.
Sungear runzelte die Stirn und verdonnerte Wynfried prompt zum Küchendienst. Auch der Dritte im Bunde der Tunichtgute in der Akademie kam heute nicht gut weg: Yblah wurde zum Putzen eingeteilt.
Nachdem alle Novizen mit ihrer Tagesaufgabe bedacht waren, erhoben sie sich schweigend und verließen den Speisesaal. Jeremiah, Wynfried und Yblah gingen zufrieden nebeneinander her. Sie sahen nicht, dass Sungear hinter ihrem Rücken grinste, während er ihnen nachsah.
Die Jungs hätten unterschiedlicher nicht sein können. Jeremiah war eindeutig ein Europäer, groß gewachsen, schlank, mit dunklen, lockigen Haaren. Yblah dagegen war Schwarzafrikaner, etwas kleiner als Jeremiah und außerordentlich kräftig. Wynfried schließlich mit seinem rotblonden Haar, den Sommersprossen und der pummeligen Figur stammte aus Amerika.
Die Bibliothek, ein Gewirr von niedrigen Räumen und Gängen, befand sich in einem besonderen Flügel der unterirdischen Akademie. Viele der hier gelagerten alten Papyrusrollen und Tontafeln hatten aus demselben Grund die Jahrtausende überdauert wie die Ziegelsteine der Wände: Sie waren mit Magie gesättigt und so gegen Verfall geschützt.
Jeremiah ging zunächst der Bibliothekarin zur Hand, einer alten Inderin, die einen grün glänzenden Sari trug und nach Sandelholz duftete. Sie zeigte ihm einen großen Stapel Tontäfelchen, die in einem Korb lagen. Sie waren verschmutzt, teilweise zerbrochen, aber alle beschriftet. „Eine kürzlich gefundene Keilschriftensammlung. Du musst die Tafeln aussortieren, die nur mit Handel und Gewerbe zu tun haben. Die brauchen wir nicht.“
Jeremiah griff wahllos einige Tafeln heraus. „Eine Rechnung über den Verkauf von einer Ziege und vier Kruken Getreide“, sagte er, nachdem er den Text entziffert hatte. „Und hier: Steuererhöhungen für Bauern, die gegen den Landvogt nicht ehrerbietig waren. Schriftverkehr über eine Schiffsladung Bauholz. Alles maßlos uninteressant.“ Er warf die Tontafeln wieder zurück in den Korb.
„Geh vorsichtig damit um, es können auch Tafeln mit magischem Inhalt darunter sein. Erfasse alle Tafeln in dieser Liste und rufe mich, wenn du fertig bist.“ Nachdem die Bibliothekarin sich davon überzeugt hatte, dass Jeremiah die Keilschriftzeichen gut genug kannte, um keine Fehler zu machen, ließ sie ihn alleine.
Jeremiah schaltete auf brav und begann mit der Arbeit, denn er wusste, dass sie noch einmal kommen würde, um ihn zu kontrollieren. So geschah es auch. Die Bibliothekarin überprüfte seine Einträge, lobte ihn für seine Sorgfalt und ging wieder. Sie war bekannt dafür, dass sie gerne in einer ruhigen Ecke ein Buch las, während ein Novize ihre Arbeit machte.
Nun konnte Jeremiah sicher sein, für eine Weile in Ruhe gelassen zu werden. Leise schlich er zu der Tür, die zum verbotenen Teil der Bibliothek führte. Das Türschloss bestand aus einem kleinen Kristall, der magisch bewegt werden musste. Eine schwierige Aufgabe für einen Novizen, aber Jeremiah war seinen Altersgenossen in der Akademie auch in dieser Hinsicht weit voraus. Eine kurze Handbewegung, ein Moment äußerster Konzentration und die Tür schwang geräuschlos auf.
Der Raum dahinter war groß und hell. In langen Regalen standen Bücher, die nach Ansicht der Magier und Vorleser nicht in die Hände von Novizen gehörten. Manche enthielten Anweisungen für gefährliche magische Rituale, andere beschäftigten sich mit dem Gegenteil von Magie, nämlich mit Technik.
Auch die Zeitungen und Zeitschriften, die auf Umwegen die Akademie erreichten,