Manfred Rehor

Sannall der Erneuerer


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Residenzen des Meisters, das wusste Jeremiah aus dem Unterricht, waren so etwas wie die weltlichen Zentren der Magie. Sie wurden jeweils von einem mächtigen Magier geleitet, der dem Meister direkt unterstand. Gonther Virlan reiste von Residenz zu Residenz, um nach dem Rechten zu sehen, seine Vertreter zu unterstützen und die Eroberung der Welt durch die Magie weiter voranzutreiben. Noch nie hatte einer dieser Magier die unterirdische Schule besucht, nicht einmal ihre Namen waren bekannt. Denn die Sache der Magie stand nicht gut, draußen in der Welt des Fortschritts und der Technik. Geheimhaltung nahm man deshalb sehr ernst.

      „Du wirst unser Bote sein“, fuhr Walera fort. „Du wirst die Akademie verlassen, unsere Botschaft nach Paris bringen und dich gemeinsam mit dem dortigen Vertreter des Meisters auf die Suche nach ihm machen. Deine Ausbildung zum Magier wird abgebrochen, denn wir bezweifeln, ob sie überhaupt zu dem gewünschten Ergebnis führen würde.“

      „Die Akademie verlassen?“, rief Jeremiah erschrocken. „Aber ich bin der Beste unter den älteren Novizen. Ich will Magier werden!“

      „Wir hatten große Hoffnungen in dich gesetzt. Aber du wirst mit jedem Lebensjahr eigensinniger und unbelehrbarer. Deshalb ist diese Aufgabe auch ein Angebot an dich: Finde den Meister, beweise deinen inneren Wert. Gelingt es dir, werden wir erneut beraten und dich vielleicht trotz deiner Fehler zum Magier berufen.“

      Nie wäre Jeremiah auf die Idee gekommen, dass seine Eskapaden solche Folgen haben könnten. Schon deshalb nicht, weil auch andere Novizen immer mal wieder Streiche spielten oder die Akademie heimlich verließen, um die Welt an der Oberfläche zu erkunden. Doch der Schreck, den ihm Walera eingejagt hatte, hinderte ihn nicht daran, frech nach den Hintergründen zu fragen: „Wird mir mit der Entlassung aus der Akademie gedroht, weil sich unter den Magiern und Vorlesern kein Freiwilliger gefunden hat, der sich auf die Suche nach dem Meister begeben möchte?“

      „Schweig!“, donnerte Walera. Er stand mit einer einzigen, fließenden Bewegung auf und sah mit finsterer Miene auf Jeremiah herab. „Meine Entscheidung ist getroffen. Ich frage nur einmal, und ich stelle die Frage jetzt: Bist du bereit, diese Aufgabe zu übernehmen?“

      Angst und Zorn kämpften in Jeremiah um die Oberhand, und heraus kam eine Antwort, die gar nicht so trotzig gemeint war, wie sie klang: „Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig.“

      „So ist es! Aber ich hätte mir gewünscht, dass du mit Freude diese Chance ergreifst. Wie dem auch sei, du wirst nicht alleine gehen. Deine beiden Freunde Yblah und Wynfried werden dich begleiten, denn sie waren auch an den meisten deiner Streiche beteiligt. Wir werden euch, so gut es geht, vorbereiten auf die Aufgabe, für die ihr ausersehen seid.“ Walera klatschte in die Hände, und einer der Vorleser betrat die Kammer. „Es ist wichtig, dass euer Auftrag den Gegnern der Magie in der Welt nicht bekannt wird. Ihr werdet euch daher unterwegs als Assistenten eines Antiquitätenhändlers ausgeben, die in Ägypten nach Altertümern gesucht haben und nun auf der Heimreise sind.“

      Jeremiah stand auf. Er hatte seine Gefühle wieder unter Kontrolle und fragte sachlich: „Wann werden wir reisen?“

      „In zehn Tagen“, sagte Walera. „So lange benötigen wir, um euch das notwendigste Wissen über die moderne Welt zu vermitteln.“

      Mit einer Handbewegung beendete er das Gespräch. Jeremiah verbeugte sich und ging.

      Die folgenden Tage waren die härtesten in Jeremiahs bisherigem Leben. Nach dem Gespräch mit Walera brachte man ihn in einen abgelegenen Teil der Akademie zu den Einsiedlerzellen. Dorthin zogen sich die Vorleser zurück, wenn sie für einige Tage oder Wochen alleine sein wollten, um ihre magischen Fähigkeiten zu vervollkommnen.

      Hier traf Jeremiah auf Yblah und Wynfried. Er und seine Freunde wurden nun rund um die Uhr von mehreren Vorlesern auf das Verlassen der Akademie vorbereitet. Man vervollständigte ihr Wissen von der Welt draußen und verbesserte ihre geringen Französischkenntnisse durch Trancesitzungen. Sie mussten auch vieles über die Verhaltensweisen der Menschen in der modernen Gegenwart lernen. Lustige Dinge, wie zum Beispiel die Mode der Damen in Europa. Aber auch ernste, wie etwa, wann man wegen einer vielleicht gar nicht herabsetzend gemeinten Bemerkung zum Duell gefordert zu werden konnte.

      Dann kam der Tag ihrer Abreise. Man erlaubte ihnen nicht, private Gegenstände mitzunehmen, und sie durften sich auch nicht von ihren Freunden verabschieden. Alles, was mit ihrer geplanten Reise zu tun hatte, ging in größter Heimlichkeit vor sich.

      Erst an einem der versteckten Ausgänge aus der Akademie übergab man den Jungs ihr Gepäck. Man hatte an alles gedacht, auch an das nötige Geld für die Reise. Gonther Virlans Akademie verfügte über fast unbegrenzte finanzielle Mittel. Denn der Meister hatte bei seinen Studien nicht nur Hinweise auf Jahrtausende alte Bibliotheken und magische Stätten gefunden, sondern auch Schätze aus diesen längst vergangenen Zeiten. Gold war für die Vorleser und Novizen ein so alltägliches Material wie für einen Mitteleuropäer gewöhnliches Eisen. Banknoten allerdings kannten die Jungs bisher nur vom Hörensagen. Auch englische Pässe lagen bereit, denn für Franzosen konnten sie sich trotz des Intensivkurses nicht ausgeben.

      Ausgestattet mit Bargeld sowie Wechseln für die wichtigsten europäischen Banken und – erstmals in ihrem Leben – europäisch gekleidet, verabschiedete Walera sie persönlich.

      Oben, in der hellen Wüstennacht, wartete Sungear, der Vorleser, auf sie. Warum ausgerechnet er ausgewählt worden war, um sie zum Bahnhof in Medinet zu bringen, wussten die Jungs nicht. Um Sungear war immer etwas Geheimnisvolles gewesen, das ihn von den anderen Vorlesern unterschied. Vielleicht würden sie auf der Reise mehr von ihm erfahren.

      Sungear trug einen Kaftan, in dem er aussah wie ein riesiger Luftballon, der in einen Teppich gehüllt worden war. Und so schwerelos bewegte er sich zur Überraschung der Jungs auch. Leichtfüßig, als würde er über den Sand schweben, eilte er ihnen voraus zu einer nahe gelegenen Gruppe Palmen, unter der ein paar Esel warteten.

      „Reitet, Kinder, der Weg ist weit“, sagte er zuckersüß lächelnd. „Ich gehe zu Fuß.“

      Sein Tonfall erschreckte die Jungs mehr, als es jeder seiner früheren Zornesausbrüche getan hatte. Schweigend luden sie das Gepäck auf und setzten sich dann auf ihre Reittiere. Sungear griff sich den Zügel des vordersten Tieres und führte es den Weg entlang zur Stadt.

      Der Bahnhof in Medinet glich einem Basar. Schwefeliger Gestank von verfeuerter Kohle schlechter Qualität und der schwere Duft exotischer Gewürze erfüllten die Luft. Das Geschrei der Händler auf dem Vorplatz übertönte jeden Versuch einer Unterhaltung. Hier wurde alles angeboten, was Einheimische und Ausländer brauchen konnten: Früchte und Süßigkeiten, Tee und Wasser, Fladenbrote und Fleischspieße, Teppiche und Kunsthandwerk. Vor allem aber angeblich echte Altertümer als Mitbringsel für den gebildeten Europäer.

      Die Einheimischen deckten sich mit billigem Reiseproviant ein und bestiegen die für sie bestimmten einfachen Holzwaggons, wo sie eng zusammengedrängt auf die Abfahrt des Zuges warteten. Die Europäer mieden dagegen die Esswaren, interessierten sich jedoch um so mehr für die angebotenen Souvenirs.

      Sungear drängelte sich durch das dickste Gewühl zum Fahrkartenschalter, wo er mit der Miene eines Paschas vier Fahrkarten kaufte.

      „Warum vier?“, fragte Jeremiah, als sie eine ruhigere Ecke im den Europäern vorbehaltenen Teil des Bahnhofs erreichten.

      „Ich begleite euch nach Alexandria.“

      „Ob das Sembla Walera recht ist?“, wagte Yblah einzuwerfen.

      Sungear sah sich um und entdeckte einen Händler, der süße Feigen und Türkischen Honig feilbot. „Und wenn nicht, was wäre dann?“, fragte er. „Wartet hier auf mich.“ Er ging zu dem Händler und begann, um eine Riesenportion der Süßigkeiten zu feilschen.

      Die Jungs sahen sich auf dem Bahnhof um. So viele Menschen hatten sie in ihrem ganzen Leben noch nicht gesehen. Besonders die herausgeputzten Europäerinnen in ihren weiten, unbequem aussehenden Reisekleidern konnten sie gar nicht genug bestaunen.

      „Warum kommen die hier her?“, wandte sich Jeremiah an Yblah und Wynfried. „Das können doch nicht alles Archäologen und ihre