Manfred Rehor

Sannall der Erneuerer


Скачать книгу

aus dem Munde eines Vorlesers konnten unangenehme Konsequenzen für den Betroffenen haben, denn aufgrund ihrer Tätigkeit kannten sie die schlimmsten Flüche der letzten Jahrtausende in- und auswendig.

      „Ein Glück, dass er nicht uns meint“, sagte Jeremiah deshalb. „Es muss etwas passiert sein, während wir weg waren. Hören wir uns mal um.“

      Jeremiahs Auftrag

      Jeremiah, Wynfried und Yblah zogen sich um und gingen in den Speisesaal, um nachzusehen, ob noch etwas für sie übriggeblieben war. Sie fanden den Saal leer bis auf einen Novizen, der Geschirr zusammenräumte. Jeremiah fragte ihn, was geschehen sei.

      „Die Vorleser sagen zwar nichts, aber es heißt, der Meister sei verschwunden.“

      „Verschwunden? Es weiß doch nie jemand, in welchem Land der Erde er gerade weilt.“

      „Angeblich hat er aber seinen Besuch angekündigt“, erzählte der Junge, während er weiter schmutziges Geschirr einsammelte und auf einen Wagen stellte. „Heute hätte er hier eintreffen sollen.“

      Gonther Virlan kam selten in die Akademie. Obwohl Jeremiah fast sein ganzes Leben hier verbracht hatte, war er Gonther Virlan nur wenige Male begegnet. Der Meister war so etwas wie ein König in alten Zeiten: Man weiß, dass er das Land regiert, aber man hat persönlich nichts mit ihm zu tun.

      „Warum hat man uns nicht informiert?“, wunderte sich Wynfried. „Sonst wird doch ein Riesenaufwand getrieben, wenn der Meister erwartet wird. Alle Räume putzen und so weiter.“

      „Weiß nicht. Ist ja auch nur ein Gerücht. Jedenfalls fiel der Unterricht heute aus, das ist doch immerhin etwas. So, ich bin fertig. Bis später.“ Der Junge schob seinen Wagen an ihnen vorbei zur Küchentür.

      Jeremiah und seine Freunde folgten ihm und erbettelten von der Köchin, einer resoluten Russin, einige Fladenbrote und Obst. Damit kehrten sie in ihre Kammern zurück, wo sie über ihre Erlebnisse sprachen. Was bedeutete die merkwürdige magische Aura der Eisenbahn? Sollte sie etwas mit dem Verschwinden von Gonther Virlan zu tun haben?

      Früh am folgenden Morgen hallte dreimaliger Gongschlag durch die Räume und rief alle Bewohner der unterirdischen Akademie in den großen Versammlungssaal. Sembla Walera, der aus dem Kongo stammende Leiter der Akademie, berichtete, was die Jungs schon wussten: dass man den Meister in der vergangenen Nacht erwartet hatte, er jedoch aus unbekannten Gründen nicht kam. Die Magier und Vorleser versuchten, mit vereinten magischen Kräften Kontakt mit ihm aufzunehmen, aber das gelang nicht.

      „Niemand braucht sich Sorgen zu machen“, fuhr Walera fort und erreichte mit diesem Satz natürlich genau das Gegenteil. „Die Novizen bitte ich, mit ihren Studien fortzufahren oder aber dem Personal bei den üblichen Arbeiten zu helfen. Einige von euch werde ich im Laufe der nächsten Stunden zu mir bitten, um ihnen besondere Aufgaben zuzuweisen. Das wäre für jetzt alles.“

      „Sonderaufgaben?“, nörgelte Wynfried, während sie zurück zu ihren Kammern gingen. „Jetzt kommt doch wieder die übliche Putzerei vor einem Besuch des Meisters. Als Strafe für unseren Ausflug letzte Nacht wird man uns die besonders schmutzigen Ecken ausfegen lassen, wetten?“

      „Wäre nicht das erste Mal. Aber vielleicht ist heute wirklich etwas Besonderes geplant. Bis später!“, sagte Jeremiah, bevor er die Tür seiner Kammer hinter sich schloss.

      Warten war für Jeremiah kein Problem. Ein großer Teil seines Lebens hatte aus Warten bestanden, genauer gesagt, aus Versenkungs- und Konzentrationsübungen. Denn das Erlernen von Gesten und Sprüchen machte aus einem Menschen noch keinen Magier. Dazu war neben Talent auch ständiges geistiges Training erforderlich.

      Jeremiah setzte sich auf die abgewetzte Meditationsdecke und konzentrierte sich auf die Strömungen der magischen Felder, die durch die unterirdische Akademie zogen. Eine Harmonie stellte sich ein zwischen ihm und dem starken magischen Potential dieses Ortes. Sein Geist wurde ruhig und leer.

      In diesem Zustand der Versenkung spielten Minuten oder Stunden keine Rolle. Sie vergingen unbemerkt. Und manchmal konnte man auch nicht sicher sagen, ob man nicht doch dabei eingeschlafen war, wie es jedem Novizen ab und zu widerfuhr. Jeremiah schreckte hoch, als jemand an seine Tür klopfte. Einer der Vorleser stand draußen und bat ihn, mitzukommen.

      „Doch nicht etwa wegen einer dieser Sonderaufgaben?“

      „Warte ab. Du wirst überrascht sein“, antwortete der Vorleser, ein dürrer großer Mann aus Nordeuropa.

      „Toll!“

      „Ich habe nicht gesagt, dass es eine positive Überraschung sein wird.“

      Mehr war aus dem Vorleser nicht herauszubekommen. Schweigend gingen sie nebeneinander her zu den Privaträumen des Leiters der magischen Akademie.

      Sembla Walera hatte seinen privaten Bereich – völlig entgegen dem üblichen, spartanischen Stil seiner Untergebenen – sehr üppig ausgestattet. Die Wände waren mit Tierfellen und bunten Geweben behängt, in den Ecken standen kultische Gegenstände aus seiner Heimat im westlichen Afrika. Im Vorzimmer, in dem Jeremiah zunächst wartete, waren sogar einige der Lichtziegel abgedeckt, so dass ein ungewohntes Halbdunkel herrschte.

      „Tritt ein“, forderte ihn eine leise Stimme auf.

      Jeremiah ging zögernd durch den niedrigen Türbogen, der in die nächste Kammer führte.

      Walera saß im Schneidersitz auf dem Boden. Er trug ein einfaches Leinengewand ohne jede Verzierung. Gerade deshalb wirkte er zwischen der üppigen Dekoration fehl am Platz. Mit einer einladenden Handbewegung bat er Jeremiah, sich zu ihm zu setzen. Jeremiah ließ sich auf den Boden nieder und wartete, bis Walera das Wort an ihn richtete. Doch Walera musterte ihn zunächst nur aufmerksam. Momente wurden zu Minuten, die schweigend vergingen. Jeremiah hütete sich, Ungeduld zu zeigen.

      Schließlich begann Walera zu sprechen: „Ich habe lange über dich nachgedacht, Jeremiah Kendall. Du bist ein sehr unternehmungslustiger junger Mann. Aber das Befolgen von Vorschriften ist deine Sache nicht. Der Ausflug gestern war nicht deine erste Übertretung der Regeln. Wie ich höre, bringst du auch den Weisungen der Vorleser nicht immer die nötige Ehrfurcht entgegen.“

      „Ich bin ...“, begann Jeremiah eine Rechtfertigung, doch Walera unterbrach ihn.

      „Du wurdest als kleines Kind von Gonther Virlan aus einem Waisenhaus gerettet, wo er dein magisches Talent erspürte. Er war es, der dich zur Ausbildung hierher gebracht hat. Sonst hättest du deine ganze Kindheit und Jugend in einem Londoner Findlings-Hospital verbracht. Dort herrscht ein Elend, das unvorstellbar ist für dich, der du in der Geborgenheit unserer Akademie aufgewachsen bist.“

      Walera schwieg einem Moment, aber er schien keine Antwort zu erwarten. Statt dessen fuhr der Schulleiter fort: „Die Vorleser und ich haben schon mehrfach darüber beraten, ob du von der Akademie verwiesen werden solltest. Nicht nur wegen deiner Streiche, sondern weil du andere Novizen mit deiner Abenteuerlust ansteckst. Du weißt, dass wir eine solche Maßnahme bisher noch nie in der Geschichte der Akademie ergreifen mussten.“

      Jeremiah fuhr der Schreck in die Glieder. Er wäre beinahe aufgesprungen, was ein grober Verstoß gegen die Verhaltensregeln in der Akademie war. Gleichzeitig öffnete sich sein Mund, ohne dass er wusste, was er eigentlich sagen wollte. Eine Handbewegung Waleras bedeutete ihm, zu schweigen.

      „Nun hat das Schicksal uns diese Entscheidung aus der Hand genommen. Der Meister ist nicht wie erwartet eingetroffen. Wir wissen, dass draußen in der Welt etwas vorgefallen sein muss, das er mit uns besprechen wollte. Etwas so Schwerwiegendes, dass es die weitere Existenz der Akademie bedroht.“

      „Die Gedanken des Meisters sind unergründlich“, murmelte Jeremiah einen Spruch, der in der Akademie ein geflügeltes Wort war. Nicht, weil es in dieser Situation Sinn gemacht hätte, sondern weil er irgendetwas sagen musste, um seiner inneren Anspannung Herr zu werden.

      „Das ist wohl wahr“, bestätigte Walera mit einem bitteren Unterton in der Stimme, der Jeremiah überraschte. „Jedenfalls