Manfred Rehor

Sannall der Erneuerer


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Honig in den Mund und schmatzte genussvoll, während er fast unverständlich fortfuhr: „In England gilt die Wüstenluft als gesund für Leute, denen die stickige Luft in London zusetzt. Als Heilklima für Asthmatiker, um genau zu sein.“

      „Waren Sie schon einmal in London?“, fragte Yblah erstaunt.

      „Habe lange dort gewohnt“, grunzte Sungear. „Will aber nie wieder zurück. Schon allein wegen der hysterischen Weiber.“

      Die Jungs grinsten sich an. Welche Frau würde wohl einen Fettwanst wie Sungear an sich heranlassen? Kein Wunder, dass er Frauen für hysterisch hielt. Andererseits, so viel Erfahrung im Umgang mit dem anderen Geschlecht hatten die Jungs auch nicht. In der Akademie gab es zwar auch weibliche Novizen, aber die Jungs betrachteten sie als ihre Schwestern, so wie sie sich untereinander als Brüder verstanden. Dies hier war die erste Gelegenheit für Jeremiah und seine Freunde, junge Europäerinnen zu sehen.

      Ein Mädchen ungefähr in seinem Alter fiel Jeremiah besonders auf. Sie war sehr elegant gekleidet, soweit er das überhaupt beurteilen konnte. Und sie verhielt sich wie eine Prinzessin, die sich herablässt, mit gewöhnlichen Sterblichen Umgang zu pflegen. Überraschend war, dass sie von einigen der Europäer tatsächlich sehr zuvorkommend behandelt wurde. Zu gerne hätte Jeremiah sie angesprochen, sie gefragt, wer sie ist und ob sie ebenfalls die Reise mit dem Zug antreten würde. Aber er wagte es nicht, diesen Schritt zu tun; schon um sich vor seinen beiden Freunden nicht lächerlich zu machen, denen das Mädchen ebenfalls aufgefallen war.

      Auf dem Bahnhofsgelände trieben auch einige europäisch gekleidete Ägypter Handel. Sie verkauften besonders teure Andenken. Sarkophage und Mumien zum Beispiel, von denen sie Fotografien bei sich hatten. Diese Souvenirs wurden den Reisenden nach Hause nachgeschickt, so dass sie sich nicht mit dem sperrigen Gepäck abgeben mussten.

      Auch Wahrsager und Verkäufer von Glücksbringern gab es. Die standen düster in den Ecken und erwarteten, dass gerade ihre schweigsame Unnahbarkeit Kunden anlockte. Zu einem dieser Männer, einem alten Araber von asketischem Aussehen, ging das Mädchen nun hin. Es ließ sich von ihm Ringe und Anhänger zeigen. Das interessierte auch Jeremiah, er schlenderte neugierig näher. Yblah und Wynfried waren beeindruckt von seinem Mut, während Sungear es gar nicht bemerkte, so sehr war er mit dem Versuch beschäftigt, seine klebrigen Hände zu säubern.

      Der Händler trug seine Ware in einem kleinen Bauchladen vor sich. Das Mädchen wählte einen hübschen Ring aus, der durch helles Glänzen und einen bunten, eingefassten Edelstein von den anderen abstach. Sie schien erfahren im Umgang mit Orientalen, denn als der Händler einen Preis nannte, lachte sie und bot weniger als die Hälfte des genannten Betrags. Nach kurzem Feilschen wurden sie sich einig. Bevor sie jedoch zahlen konnte, mischte sich Jeremiah ein: „Entschuldige, aber dieser Ring ist nichts wert.“

      Überrascht drehte sich das Mädchen zu ihm um und musterte ihn. „Was geht dich das an?“, fragte sie von oben herab.

      „Es ist eine billige Imitation. Ein einfacher Goldring mit einem farbigen Glassplitter.“

      „Und das erkennst du, ohne ihn auch nur in die Hand zu nehmen?“

      Jeremiah machte eine Handbewegung über den Bauchladen des Händlers, sein Gesichtsausdruck wurde für einen Moment abwesend, dann griff er zielsicher einen unansehnlichen kleinen Anhänger heraus.

      „Dritte Dynastie“, sagte er mit absoluter Gewissheit in der Stimme. „Und zwar keine Grabbeigabe sondern ein Schmuckstück, das wirklich getragen wurde. Seine magische Aura ist schwach, aber glückverheißend. Besonders für Menschen, die über keine eigenen magischen Fähigkeiten verfügen.“

      Das Mädchen sah ihn erstaunt an. Dann nahm sie Jeremiah den Anhänger aus der Hand und betrachtete ihn eingehend, bevor sie seinen Tonfall imitierte: „Dritte Dynastie. Ja, das hätte ich auch gedacht. Keine Grabbeigabe, aber eine schwache magische Aura.“ Dann lachte sie laut auf: „Du hast das wirklich gut drauf. Ich werde diesen Anhänger auch noch kaufen.“

      Sie verhandelte noch einmal mit dem Ägypter, bekam umsonst noch eine hübsche Goldkette dazu und ging dann langsam weiter, während sie den Anhänger genauer betrachtete: „Ich werde ihn Daddy nicht zeigen. Er ärgert sich über magischen Firlefanz.“

      „Fährst du auch mit dem Zug nach Alexandria?“

      „Das ist keine sehr schlaue Frage: Es gibt nur diese eine Zugverbindung.“

      „Dann müssen wir uns beeilen“, sagte Jeremiah und zeigte zum Zug, wo die Europäer inzwischen einstiegen. „Sonst fährt er ohne uns.“

      „Nein, das wird er ganz gewiss nicht. Aber du hast recht, es ist Zeit zum Einsteigen.“ Ohne sich zu verabschieden, ging das Mädchen davon.

      „Wie heißt du?“, rief Jeremiah ihr nach.

      Sie drehte sich noch einmal zu ihm um. „Angelica. Wir sehen uns im Zug.“ Dann ging sie weiter und verschwand in einer Gruppe von Reisenden.

      Jeremiah kehrte zurück zu Yblah und Wynfried, die spöttische Bemerkungen machten.

      „Ihr seid ja nur neidisch, weil ich mit ihr gesprochen habe“, wehrte sich Jeremiah.

      Sie machten sich auf die Suche nach ihrem Waggon. Der Schaffner und ein Vertreter der Eisenbahngesellschaft begrüßten jeden Fahrgast persönlich, denn eine Erste-Klasse-Fahrkarte kostete für ägyptische Verhältnisse ein Vermögen. Wer sich das leistete, erwartete auch besondere Behandlung.

      Sungear zog die Billetts aus den Tiefen seines Kaftans und zeigte sie dem Kontrolleur, der erst in einer Liste nachsah, bevor er seine Mütze zog und sagte: „Mister Sungear und Begleitung. Willkommen. Sie haben Abteil vier. Wo ist Ihr Gepäck, wenn ich fragen darf?“

      Jeremiah drehte sich suchend um und zeigte dann auf einen einheimischen Gepäckträger, der am Rande der Menge neben mehreren Reisetaschen stand und wartete.

      „Sehr gut“, sagte der Schaffner. „Sie können das Abteil gleich beziehen. Wir werden in einer Stunde abfahren.“

      „Eine Stunde?“, grunzte Sungear. „Wir sollten eigentlich längst unterwegs sein. Wir müssen in Alexandria auf den Dampfer nach Nordfrankreich umsteigen und haben vorher noch etwas zu erledigen.“

      „Der Dampfer wird nicht vor der Ankunft des Zuges auslaufen“, versicherte der Kontrolleur.

      „Warum sind Sie da so sicher?“, wollte Jeremiah wissen.

      „Der Besitzer der Eisenbahnlinie, Mister Cyros, fährt heute mit uns. Und da er auch Besitzer der Schifffahrtsgesellschaft ist, wird der Dampfer warten, egal wie lange es dauert“, antwortete der Kontrolleur. „Außerdem hat auch Mister Cyros in Alexandria noch Geschäftstermine, wie er uns hat mitteilen lassen. Sie brauchen sich also keine Sorgen wegen Ihrer Schiffsverbindung zu machen, im Gegenteil. Sie werden vor Ihrer Weiterreise einen halben Tag Aufenthalt in Alexandria haben.“

      Bei der Erwähnung des Namens Cyros bekam Sungear ganz schmale Augen. Er sah sich um, als würde er gleich das schlimmste Unglück erwarten. „Folgt mir!“, sagte er dann zu den Jungs und schwang sich in den Waggon, als ginge es in eine Schlacht.

      Jeremiah erinnerte sich an das, was er in den Schulungen der letzten Tage über europäische Umgangsformen erlernt hatte. Er steckte dem Kontrolleur ein Trinkgeld zu. Der nahm es dankend an und verstand es als Aufforderung, ein wenig zu plaudern, während sie zusahen, wie der Gepäckträger die Reisetaschen in den Wagen brachte: „Tja, Mister Cyros wird heute wieder einmal mit seiner eigenen Zuglinie reisen. Er war in Kairo, um mit dem Khediven und dem englischen Generalkonsul den weiteren Ausbau des Eisenbahnnetzes zu besprechen. Anschließend ist er in diese abgelegene Gegend hier gekommen, um die Möglichkeiten für den Bau eines Kraftwerks zu erkunden. Er will hier Dampf und elektrische Energie erzeugen.“

      „Ein Kraftwerk am Rand der Wüste?“, wunderte sich Jeremiah.

      „Verrückt, nicht wahr? Aber hier in Ägypten spinnen alle in Bisschen, wenn Sie mich fragen“, fügte der Kontrolleur vertraulich hinzu. „Vor allem die Touristen. Könnten sich Reisen in die schönsten Weltgegenden