Thomas Arndt

Eine Geschichte über rein gar nichts


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glaube ja.«, antwortete Paul mit unsicherer Stimme und log, weil er nicht darauf aus war, noch einmal Roberts wirren Gedanken folgen zu müssen.

      »Gut! Dann tue dir den Gefallen und denk über das eine oder andere nach. Fang alleine an, das wird besser sein. Denn was hätte es für einen Nutzen, wenn ich dir sage, was ich von Diesem und Jenem halte. Ich würde dir nur meine Gedanken und Denkweisen einimpfen. Du bist aber nicht ich und ich habe meine Gründe, zu denken, was ich denke und wie ich es denke. Du aber wirst einen eigenen Weg gehen müssen und wenn du es tatsächlich geschafft hast, wenigstens einen Anfang zu finden, dann können wir darüber reden, was vor einigen Tagen geschehen ist.«

      *

      Robert: als die Worte zu leben begannen, stachen sie mir mitten ins Herz. Und als ich den Schmerz bewahren wollte, verließ er mich . . . für immer. Nur ein Nichts von mir blieb zurück, in einer kalten Hölle ohne Sinn. So bewegungslos das Leben, nur die Stille blieb sie selbst. Tausend Foltern, die nicht mehr quälten. Immer während verging die Zeit. Die vielen Arten, auf die ich nicht schrie, stauten noch mehr Worte in mir auf. Klarstes Verständnis betrübt vollkommen, formt aus Unwahrheiten nichts als Zweifel, erschafft aus freiem Willen Einsamkeit, baut mir eine neue Welt. Unvergleichlich ist diese Leere. Noch nie gesehen solch hohe Mauern. Eingesperrt oder ausgeschlossen? Irgendetwas hat diese Frage verschluckt . . .

      Robert: Daneben

      *

      Robert: und niemand könnte die Frage beantworten, wie er eines Tages in Pauls Freundeskreis geraten war. Damals schon vollzog sich eine tiefgreifende Veränderung in ihm, die er zwar selbst ausgelöst hatte, jedoch schon bald nicht mehr beeinflussen, geschweige denn kontrollieren konnte.

      Robert: Sohn eines Vaters, der zwar ein gutes Händchen fürs Geschäft, nicht aber für Frauen hatte. Sohn einer Mutter mit guten Händen fürs Geschäft, solange dies auf Männer bezogen war.

      Eine der frühesten Kindheitserinnerungen, die er niemals vergessen sollte, waren Worte, die sein Vater einer Litanei ähnlich ständig wiederholte, nachdem die Mutter ihre Koffer gepackt und die Familie verlassen hatte: »Heirate niemals die Erstbeste, Junge! Niemals! Hörst du!«

      In einem Aufsatz setzte Robert mit einer Virtuosität auseinander, die man von einem Fünftklässler nicht erwarten konnte, warum ein Mann sich hüten sollte, überhaupt jemals zu heiraten. Die Lehrerin, die über die Familienverhältnisse im Bilde war, vermutete zu Recht, dass der Vater hinter den Gedanken des Jungen steckte und wies ihn und dadurch seinen Vater zurecht. Sie schärfte ihm ein, nicht viel von Frauen zu verstehen und betonte, dass man von einer nicht gleichsam auf alle schließen könne.

      Robert fühlte sich missverstanden und versuchte sich verständlich zu machen. Seine Lehrerin beharrte jedoch auf ihrer Ansicht und ließ eine Richtigstellung nicht zu. Indem sie Vater und Sohn gleichermaßen tadelte, fühlte sich Robert ob dieser ungerechten Behandlung noch stärker seinem Vater verpflichtet. Mehr noch: die Lehrerin wurde zum perfekten Exempel und Experimentierfeld einiger nicht immer ernst gemeinter Äußerungen seines Vaters, der, obwohl seine Frau ihn sitzen gelassen hatte, weder seinen Humor verlor, noch die Liebe zu den Frauen. Doch Roberts Vater, oft bis in den späten Abend und auch an den Wochenenden mit seinen Geschäften befasst, bemerkte nicht, dass sein Sohn seine Worte ernster nahm, als gut gewesen wäre.

      Schließlich erreichte Robert das Alter, in dem er sich für Mädchen zu interessieren begann. In dem Maße, wie er von den dunklen, geheimnisvollen Augen einer Mitschülerin angezogen wurde, traten die Unmittelbarkeit seines Vaters und all die Worte sowie die Ratschläge, die er seinem Sohn jemals in Puncto Frauen gegeben hatte, in den Hintergrund. Erst viel später, als er bereits studierte, als weitere Erfahrungen sein Denken und Empfinden beeinflussten und veränderten und er genau das tat, was er Paul eben erst geraten hatte, nämlich sich mit sich selbst und seinen Mitmenschen auseinanderzusetzen, begegnete er den Einflüsterungen seines Vaters in einem Winkel seines Geistes wieder, wo er sie nicht vermutet hätte. Ungewollt vermischten sie sich mit der Wirklichkeit, in der er lebte, und legten sich wie ein Filter auf seinen Blick. Obwohl sein Leben nicht das seines Vaters war, obwohl Vater und Sohn zwei ganz und gar verschiedene Menschen waren, mengte sich auf diese Weise ein kleiner, jedoch bedeutender und – wie sich herausstellen sollte – äußerst einflussreicher Teil der väterlichen Persönlichkeit, des väterlichen Charakters und der väterlichen Ansichten in Roberts Persönlichkeit und Leben.

      Als ihm dies bewusst wurde, setzte er alles daran, diesen Überbleibseln längst vergangener Zeiten nicht allzu viel Zeit und Raum in seiner geistigen Welt zu überlassen. Obschon das Verhältnis zu seinem Vater durch nichts belastet war, wollte er lieber seine eigenen Gedanken denken und sein eigenes Leben leben. Er fühlte sich alt genug, um auf eigenen Beinen zu stehen. Sein Vater hatte sich lange um ihn gekümmert, doch nun war er den Kinderschuhen entwachsen.

      Zu diesem Zeitpunkt stieß Robert auf ein ernsthaftes Problem, das nur sehr schwer verständlich zu machen ist. Es resultierte aus Spannungen, die unmöglich in Worte gefasst werden konnten: einerseits lebte er sein Leben genauso, wie er es sich vorstellte, ungeachtet all dessen, wodurch er beeinflusst wurde; andererseits waren gerade diese Einflüsse die Ursache dafür, dass er immer wieder auch die Eigenschaften und Gedanken, die er für seine individuellsten hielt, bei anderen Menschen entdeckte. Er erkannte, dass sein eigenes Leben, ja seine eigene Person, die er für absolut einmalig und unvergleichbar hielt, kaum wirkliche Unterschiede zu anderen Menschen und deren Leben aufwiesen. Lebte er also wirklich sein Leben? Was bedeutete das eigene Leben? Und was veranlasste Robert überhaupt, solcherart über derlei Probleme nachzudenken?

      *

      Folgendes war geschehen: im Grunde genommen war nichts geschehen! Obwohl dies der Wahrheit entspricht, befriedigt eine solche Erklärung in keiner Weise, schon gar nicht an dieser Stelle. Deshalb muss einiges klar gestellt und präzisiert werden. Also noch einmal: was war geschehen?

      Folgendes war geschehen: im Grunde genommen war nichts geschehen! Zumindest war nichts Außergewöhnliches geschehen, wodurch Roberts Situation erklärt werden könnte. Bezogen auf Prinzessinnen und Prinzen hätte man auf eine Laune schließen können, auf eine Grille, auf einen Stein in seinem Schuh oder auf die Mücke, die ihn ins linke Ohrläppchen gestochen hatte; mit viel Wohlwollen wäre seine Entgleisung nachvollziehbar, denn die banalsten Dinge rufen mitunter völlig unangemessene Reaktionen hervor. Im Dunkeln bliebe allerdings seine Vergangenheit, über die nur sehr wenig bekannt ist und die deshalb bereits des öfteren seine Freunde ins Grübeln gebracht hatte.

      Wenn aber nichts Ungewöhnliches geschehen war, wenn zumindest kein auslösendes und allein verantwortliches Ereignis oder eine bestimmte Befindlichkeit zu diagnostizieren war, die Roberts Verhalten eine befriedigende Erklärung gab, dann, so schlossen seine spekulationsfreudigen Freunde, musste davon ausgegangen werden, dass irgendwann irgendetwas passiert war, wonach wahrscheinlich wieder etwas geschah und danach auch und danach und so weiter und so fort, bis Robert schließlich sagte, die Prinzen seien dort, wo die Prinzessinnen sind.

      *

      Wie schön sie war! Und diese dunklen Augen! Und ihr Name erst: eine geradezu unirdische Melodie erzeugt durch die unwahrscheinlichste aller Buchstabenfolgen: Jasmin! Ein Name wie aus Tausend und einer Nacht, ein Zauberspruch, eine Beschwörungsformel; ein Name eben, der dazu einlud, verpflichtete und befahl, man möge ihn unentwegt der Welt kundtun – meinte jedenfalls der heranwachsende Robert, der übrigens die fünfzehnjährige Jasmin nicht für eine Prinzessin hielt, sondern die Meinung vertrat, sie sei eindeutig eine Elfe, und wenn nicht, so doch wenigstens eine Fee, was durch ihre Zauberkräfte nicht weiter bewiesen werden musste.

      Bis über beide Ohren war Robert in Jasmin verliebt. Doch zu seinem Unglück wollte sie nichts von ihm wissen. Warum? Das konnte sie nicht erklären. Aber brauchte sie eine Erklärung? Genügte es denn nicht, dass es keine Gründe gab, mit einem Jungen zu gehen, der so alt war wie sie und in die Parallelklasse ging? Es kam einfach nicht in Frage! Und in Jasmins Augen bedurfte das keiner weiteren Erklärung, so wie viele andere Dinge auch, die sie hinnahm, weil sie der Meinung war, sie hinnehmen zu müssen. Sie war schön! Reichte das nicht? Sagte das nicht alles über sie? Was denn noch? Ja was denn