Thomas Arndt

Eine Geschichte über rein gar nichts


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und mit der Zeit würde er für sie eine immer weniger wichtigere Rolle spielen. Schritt für Schritt könne er sich unbemerkt zurückziehen, bis er nur noch seine Koffer zu packen und den Weg anzutreten hätte. Nur ein einziges Detail blieb offen: Paul passte nicht in die Familie. Als Liebling aller stand sein Weg in den Sternen und konnte sowohl gut, als auch schlecht verlaufen – aber das konnte nur die Zeit zeigen.

      Runde um Runde durch den Park drehend, führte Paul sich all das vor Augen, wobei er sich nicht jedes mehr oder weniger folgenreiche Ereignis detailliert ins Gedächtnis zurückrief, das in den Tiefen seiner Erinnerungen abgespeichert war. Dazu war er auch gar nicht mehr in der Lage, da seine Kräfte zu schwinden begannen. Außerdem hatte er das gar nicht vorgehabt. Ihm war daran gelegen, seine engsten Verwandten und deren Geschichten in einem großen Zusammenhang zu sehen, auf dessen Grundlage er später gedachte, sich den einen oder anderen tiefer gehenden Gedanken hinzugeben.

      Beinahe völlig entkräftet beschloss er, den Heimweg anzutreten. Die letzten Meter wollte er nutzen, um die vielen Gedanken, denen er hinterhergejagt war, zu systematisieren. Er hoffte, einen besseren Überblick über seine Lage zu bekommen. Da ihm das Denken nun jedoch sehr schwer fiel, machte er sich lediglich von Neuem klar, was er ohnehin bereits wusste oder wenigstens ahnte: nichts war so, wie es ihm erschien. Zu allem Überfluss hatte er es sich selbst zu verdanken, dass sich die Welt, in der er bisher gelebt hatte, vor seinen Augen in eine andere verwandelte, die sich zwar rein äußerlich von der ersten nicht unterschied, in der jedoch alles eine andere Bedeutung besaß. Und diese Bedeutung konnte Paul nicht nach seinem Willen und seinen Wünschen bestimmen. Nun galt es, sich neu zu orientieren.

      Nachdem er in seine Wohnung zurückgekehrt war, einen Schluck Wasser getrunken und geduscht hatte, fiel sein Blick auf das Blatt Papier, auf dem sich vor einigen Tagen siebenundzwanzig Worte verewigt hatten. Zum wiederholten Male las er die Verse und machte sich klar, dass die in ihnen aufgeworfenen Fragen noch immer einer Antwort harrten, denn schließlich habe er in der seitdem vergangenen Zeit keine grundlegend neuen und vor allem unanfechtbaren Erkenntnisse gewonnen. Vielmehr war das Gegenteil der Fall: er sah sich mit Problemen konfrontiert, die ihm jegliche Sicherheit raubten.

      Paul stand mit dem Zettel in der Hand im Wohnzimmer und fühlte sich unruhig, verlassen, unsicher. So fühlt man sich, dachte er, wenn fünfundzwanzig Jahre lang alles gut gegangen ist; wenn man überzeugt war, alles unter Kontrolle gehabt zu haben und es keinen wirklichen Anlass gab, etwas Gegenteiliges anzunehmen; wenn dann plötzlich Dinge geschehen, die alles auf den Kopf stellen, wenn man dadurch gezwungen wird, alles anders zu sehen und man bemerkt, dass wirklich alles anders ist und womöglich schon immer war; so fühlt man sich, wenn man nach fünfundzwanzig Jahren redlicher Träumerei zum Sehen gezwungen wird. Schließlich legte er das Blatt auf den Tisch, nahm einen Stift, dachte an Tania, an Frank, an seine Eltern und an die Möglichkeit ihrer Trennung, die ihm – so ahnte er dunkel – weit mehr als nur den Boden unter den Füßen entziehen würde und fügte vier weitere Zeilen hinzu:

      Weißt du, ob du noch lachen kannst

      Oder würdest du nicht lieber weinen

      Fühlst du dich denn wirklich stark

      Oder liegst du schon im Dreck

Zweiter Teil

      Bekanntschaften

      Das Zusammenleben mit Tania gestalte sich für Susanne weniger problematisch als erwartet. Vor Beginn des Experiments hatte sie mit erheblichen Zweifeln zu kämpfen. Sie wunderte sich, über welche dunklen Kanäle Tania in Erfahrung gebracht hatte, dass ein Zimmer zu vergeben war und warum sie ausgerechnet mit ihr die Wohnung teilen wollte. Auch schien ihre stets stumme und in sich gekehrte Verwandte kein ideales WG-Mitglied zu sein, sodass sie ernsthaft in Erwägung gezogen hatte, ihre Bitte mit Hilfe ihrer Mitbewohner zurückzuweisen. Das jedoch brachte die herzensgute Susanne nicht zustande und so unterstützte sie Tania überdies nach Kräften, als es an den Umzug ging.

      Letztendlich war es der Blutsverwandtschaft geschuldet, die ihr die Entscheidung, ihrer Cousine das freie Zimmer zu überlassen, erleichtert hatte. Doch selbst als die Tinte unter dem Mietvertrag getrocknet war, konnte Susanne sich lange nicht mit der neuen Situation anfreunden. Tanias Verhalten war in ihren Augen mehr als fragwürdig, nicht zuletzt, weil sie nicht damit einverstanden war, wie sie Paul behandelte, aber das ging sie nichts an, wie sie sich ständig vor Augen hielt.

      Kaum war Tania eingezogen, erlebte Susanne die ihr ganz und gar unwirklich anmutende Verwandlung ihrer Cousine. Schon bald musste sie sich angestrengt ins Gedächtnis rufen, dass diese lebensfrohe, aufgeweckte und spontane junge Frau identisch mit derjenigen war, die jahrelang niemanden zu nahe an sich herangelassen hatte. Auch begegnete sie der Streberin, die stets zu den Besten in ihren Seminaren gehörte, öfter mit einer Tasse Kaffee und einer Zigarette in der Küche, als mit einem Buch in ihrem Zimmer. Auch die Tania nachgesagte überdurchschnittliche Intelligenz, die bisher nur allzu leichtfertig und undifferenziert dazu benutzt wurde, ihr merkwürdiges soziales Verhalten zu erklären, wirkte sich nicht negativ aus, sondern erleichterte – von Tania geschickt eingesetzt – die Kommunikation.

      Es gab aber noch einen weiteren Grund, der Susanne in Bezug auf Tanias Einzug Bauchschmerzen bereitet hatte. Mit langsamen Schritten nahte der Tag, an dem sie vor knapp einem Jahr Paul ihrer Cousine vorgestellt hatte: ihr Geburtstag. Susanne fühlte sich jedes Mal beklommen, wenn sie daran zurückdachte. Dann war ihr, als entschwinde sämtliche Kraft aus ihren Beinen, sie taumelte, verlor ihren Halt und etwas, das vorher da war, war plötzlich weg und schaffte Raum für etwas ganz anderes.

      Sie erinnerte sich genau, wie sie damals ein paar Wochen vor ihrem Geburtstag von Freunden auf eine Party mitgenommen wurde. Dort erfuhr sie, dass ein gewisser Paul Geburtstag feierte. Später am Abend lernten sie sich kennen und verstanden sich von der ersten Sekunde an so gut, dass keiner von beiden den Alkohol als Ursache dafür anerkennen wollte, der an diesem Abend geradezu in Strömen floss. Sturzbetrunken gelang es ihnen, nicht nur nicht ihre Namen und Gesichter zu vergessen, sondern auch ihre Handynummern zu tauschen, die nach mehrmaliger Überprüfung fehlerfrei gespeichert wurden. Danach trafen sie sich hin und wieder. Und eines Abends lud ihn Susanne schließlich zu ihrer Geburtstagsparty ein, ohne zu ahnen, welch für sie unglückliche Entwicklung sie damit in Gang setzte. Zu diesem Zeitpunkt spürte sie bereits ein nur allzu bekanntes Gefühl heranwachsen, dessen sie sich zum ersten Mal bewusst wurde, als er sie eines Tages zur Begrüßung zaghaft umarmte und sie einen Geruch an ihm wahrnahm, der zwar nicht wirklich zu riechen war, der sie aber dennoch in Windeseile einnahm.

      Obwohl Susanne klar war, warum sie Paul eingeladen hatte, sich über seine Zusage wie blöde freute und ihn derart mädchenhaft strahlend anlächelte, dass sie vor Scham am liebsten in Grund und Boden versunken wäre, wollte konnte durfte sie diese Klarheit nicht ohne Weiteres akzeptieren und kämpfte einen sinnlosen Kampf gegen ihr törichtes Herz, das, kaum war ihre letzte Beziehung in die Brüche gegangen, nichts Besseres zu tun hatte, als eine neue kleine Verliebtheit auszubrüten, die sich weiß Gott jederzeit ohne ihr Zutun und gegen ihren Willen so mir nichts dir nichts in einen Flächenbrand ungeahnten Ausmaßes verwandeln konnte. Ihr Verstand hielt es nicht für angebracht, schon jetzt eine neue Liebelei zu wagen. Außerdem hatte sie herausgefunden, dass Paul vor nicht allzu langer Zeit seine Freundin verlassen hatte. Sie wusste, dass sich ihr von einem unwiderstehlichen Duft betörtes Herz nicht für solche unwichtigen Nebensächlichkeiten interessierte, und so hoffte sie insgeheim, dass es ihrem Verstand gelingen werde, ein Sandkorn des Zweifels in ihrem Herzen und eins der Vorsicht in ihrer Seele zu platzieren, allerdings nur, um bloß nichts Unüberlegtes zu tun.

      Was an ihrem Geburtstag zwischen Tania und Paul geschah, kann Susanne bis heute nicht verstehen. Sie machte als Gastgeberin diejenigen miteinander bekannt, die das nicht selbst tun konnten oder wollten, und zu denen, auf die beides zutraf, gehörte ihre Cousine. Wie nicht anders zu erwarten, saß Tania desinteressiert und – wie es schien – geistesabwesend am Tisch oder stand für eine Weile irgendwo herum, um nichts weiter zu tun, als die Gäste zu mustern.

      Susanne konnte sich rückblickend nicht erklären, durch was, wie aus dem Nichts, Tanias Aufmerksamkeit dergestalt auf Paul gelenkt