Thomas Arndt

Eine Geschichte über rein gar nichts


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Schicksal fügend nahm er den Hörer in die Hand, nuschelte etwas, was wohl sein Name sein sollte und wartete halb ohnmächtig darauf, die Stimme am anderen Ende zu hören.

      »Na, Brüderchen!«, tönte es ihm fröhlich entgegen und noch bevor er etwas sagen konnte, fuhr die Stimme gutgelaunt und spöttisch fort: »Sag mal, wart ihr in den letzten Tagen nicht da? Ich habe so oft angerufen, aber mit mir will ja keiner reden. Nicht mal ans Handy bist du gegangen und sag mir ja nicht, dass dein Akku leer ist. Tania geht auch nicht ans Handy. Also ehrlich! Ich will nicht wissen, was ihr in den letzten Tagen getrieben habt! Aber das geht mich auch nichts an. Wie auch immer, du hast bald Geburtstag und ich soll von Mutter fragen, ob du zu Hause feiern möchtest. Na, was sagst du? Ist das nicht eine gute Idee? Du darfst sogar Wünsche hinsichtlich eines Kuchens äußern!«

      Die Worte seiner Schwester ließen Paul erstarren. Stocksteif stand er mit dem Telefon am Ohr auf der Stelle und atmete so flach, dass man ihn hätte für tot halten können. Weil er nicht reagierte und seine Schwester sich deshalb auf den Arm genommen fühlte, rief sie ins Telefon, dass er ruhig auch mal etwas sagen dürfe. Ihre Aufforderung verfehlten eine gewisse Wirkung nicht. Tania habe ihn verlassen, brachte Paul mühsam heraus, von den Anrufen habe er nichts mitbekommen. Er erklärte, momentan nicht gewillt zu sein, ihr die ganze Geschichte zu erzählen, es aber nachzuholen, wenn sie sich anlässlich seines Geburtstages sehen würden. Er bat seine Schwester um den Gefallen, die Familie über sein Unglück in Kenntnis zu setzen und sie darauf einzustimmen, dass er wahrscheinlich nicht das Bedürfnis verspüren werde, mit den Eltern und den Verwandten darüber zu reden.

      Die Schwester stimmte seinen Bitten zu und erkundigte sich – betrübt über ihre Worte, die ihr trotz der Entschuldigung der Unwissenheit über das ihrem Bruder Widerfahrene vollkommen verfehlt erschienen –, ob es ihm dennoch einigermaßen gut gehe. Paul entgegnete, dass die ersten Tage schlimm gewesen waren, und um sie zu beruhigen sagte er, dass er langsam wieder zu sich komme, sein Befinden sich zunehmend bessere und außerdem berichtete er von Franks Besuch, der ihm gut getan hätte. Auch wenn das alles nicht wirklich zutraf, sah Paul darin die einzige Chance, in der Zeit bis zu seinem Geburtstag besorgte Anrufe von Mutter und Schwester zu verhindern. So erbat er sich am Ende des Telefonats, dass die Familie ihm ein wenig Ruhe gönnen möge. Bald werde man sich wiedersehen und bis dahin wolle er sich ein wenig erholen.

      Er machte sich keine Illusionen darüber, dass die Tage, die er bei seiner Familie verbringen würde, erholsam sein könnten. Er malte sich die besorgten und mitfühlenden Blicke seiner Angehörigen, die mit Ausnahme seiner Schwester keinerlei Einblick in sein Liebes- und Gefühlsleben hatten, in übertriebenen Bildern aus. Er wusste, dass sie auf diese Weise zu verstehen geben wollten, wie leid es ihnen tue, doch würden sie ihn dadurch nur an seinen Schmerz erinnern.

      Als er so über die kommenden Tage nachdachte, überlegte er, ob es vielleicht besser wäre, seinen Geburtstag in dieser Situation nicht im Schoße der Familie zu begehen. Es fiel ihm schwer genug, allein klarzukommen, noch schlimmer wäre jedoch, wenn vor allem Mutter, wie er befürchtete, ihn zu trösten versuchte. Prinzipiell sei es annehmbar, sagte er sich, mit der Schwester oder Frank oder einigen anderen Freunden auf welche Weise und unter welchen Umständen auch immer Zeit zu verbringen, doch die Vorstellung von Familie und Geburtstag wurde Paul umso unerträglicher, je öfter er sich den Besuch zu Hause vorstellte. Dennoch gab es keinen Ausweg, seiner Verwandtschaft zu entrinnen. Der Anruf seiner Schwester war nur die Erinnerung an ein lange zuvor gegebenes Versprechen: sein fünfundzwanzigster Namenstag gehörte der Familie.

      Grübelnd saß er auf der Couch und dachte darüber nach, wie zu vermeiden wäre, was unvermeidbar schien: eine auf Tania bezogene Anspielung, die Frage nach seinem Befinden und die Unterhaltungen der Familienmitglieder, die auch ohne seine Teilnahme und ohne Kenntnis von Einzelheiten und Hintergründen das Thema gründlich erörtern würden. Deshalb dachte er an ein paar Blätter Papier, die Tania einst unterschrieben hatte und fiel in die Gnade einer trügerischen Hoffnung. Vielleicht, stellte er sich vor, legte sich der Sturm ebenso schnell wieder, wie er heraufgezogen war. Selbst wenn Tanias Rückkehr wegen der knappen Zeitspanne nicht möglich sein sollte, könnte sie an der Feier teilnehmen.

      Doch Tania kam nicht zurück! Und mehr noch: auch auf ein Lebenszeichen wartete Paul vergebens. Die Tage gingen dahin, ohne dass sich etwas änderte und ein wenig erstaunt nahm er immer gleichmütiger hin, dass Frank wahrscheinlich recht hatte und er nicht auf ihre Rückkehr warten sollte. Von Zeit zu Zeit kam ihm sogar der Gedanke, dass es besser wäre, sie ganz und gar zu vergessen. Doch wie dies zu bewerkstelligen sei, konnte er sich nicht im Entferntesten vorstellen.

      Drei Tage verbrachte er bei seiner Familie und entgegen seinen Erwartungen wurde er mehr oder weniger in Ruhe gelassen. Die Schwester hatte offenbar erreicht, dass ihn niemand auf Tania ansprach. Nur die besorgte Miene der Mutter, die um ihren Sohn herumschlich und ihn, wie er nur allzu gut wusste, am liebsten in die Arme genommen und an ihre Brust gedrückt hätte, sowie eine Bemerkung seiner Nichte verrieten ihr Werk. Als die Vierjährige nach Tania fragte, der sie ihre neuen Puppen zeigen wollte, stand für einen Augenblick die Welt um Paul herum still. Die Kleine sorgte allerdings anschließend dafür, dass sie sich geschwind weiterdrehte, indem sie ihren Onkel verpflichtete, mit ihr zu spielen. Zwar wollte die Schwester ihre Tochter zurückhalten, weil sie Paul nicht in der rechten Stimmung vermutete. Doch beharrlich forderte sie ihr Recht und bescherte ihm ausgelassene Minuten voller Gelächter, in denen er nicht an Tania dachte.

      Am Tag seiner Abreise folgte das längst fällige Gespräch mit der Schwester. Paul erzählte alles und ließ kein Detail aus, so sehr es auch schmerzte. Die Schwester lauschte geduldig und unterbrach ihn nicht. Anstatt ihn zu trösten – was Paul von ihr ohnehin nicht erwartet hatte –, erinnerte sie ihn anschließend daran, von Anfang an auf einige ihr merkwürdig vorkommende Eigenschaften Tanias hingewiesen zu haben.

      Schon als Paul Tania vorstellte, wunderte sie sich über die stillen Augen und den ständig konzentrierten Blick der neuen Freundin ihres Bruders. Ihr schien, als warte Tania auf etwas Unvorhersehbares, für das sie bereit sein wollte, auch wenn es nicht eintreten würde. Ein Blick genügte der Schwester, um zu erkennen, dass diese Frau die Last eines unausgeglichenen und überspannten Wesens trug. Außerdem irritierte sie Tanias ausgesprochen höfliche, doch zurückhaltende Art, die ihrer Meinung nach nur absoluter Selbstkontrolle entspringen konnte. Es war so gut wie unmöglich, ein normales Gespräch mit ihr zu führen; sie beantworte lediglich die an sie gerichteten Fragen, um anschließend in ihr beobachtendes Schweigen zurückzufallen. Zwar war sie hilfsbereit und zuvorkommend und half bei anstehenden Arbeiten stets mit, ohne dass man sie darum bitten musste. Die Schwester vermutete jedoch, Tania beschäftige sich beispielsweise lieber mit dem Abwasch als mit der Familie. Durch ihr Verhalten wahrte sie eine unverständliche Distanz nicht nur Pauls Angehörigen gegenüber, sondern auch zu ihm.

      Paul bestritt diese Vorwürfe heftig. Sie kenne Tania nicht, entgegnete er, und verstehe sie deshalb falsch. Die Schwester aber ließ sich nicht beirren und riet, dass man sich bei Menschen von Tanias undurchsichtiger Art am besten auf alles gefasst mache, obgleich sie dem Bruder nichts anderes wünschte, als dass er mit ihr glücklich werden möge.

      »Es ist schon komisch, was so alles passiert und noch passieren könnte.«, sagte sie nachdenklich, als es über Tanias Auszug nichts mehr zu sagen gab.

      Paul sah sie unverwandt an und verstand nicht, in welche Richtung ihre Anspielung wies. Als er nicht darauf einging fuhr sie schließlich fort: »Bei dir ist es die Frau gewesen, die ausgezogen ist. Hier könnte es der Mann sein.«

      »Was?«, rief Paul verwundert. »Aber was ist denn los mit euch? Den ganzen Tag über habt ihr einen ziemlich harmonischen Eindruck gemacht!« Seine verwirrten Blicke trafen die Augen der Schwester.

      »Oh! . . . Nein, nein! . . . Tut mir leid! Ich habe mich missverständlich ausgedrückt. Es geht nicht um uns. Bei uns ist alles in Ordnung.«, entgegnete sie und sah ihren Bruder forschend an. Nachdem sie jedoch nichts als Unverständnis in seinem Blick entdeckte, erklärte sie, dass es um die Eltern ging und es im Gegensatz zu den vielen kleinen Krisen, die sie im Laufe der Jahre gemeistert hatten, nun wirklich ernst werden könnte. Die Situation werde immer komplizierter, sagte sie. Anscheinend hätten Mutter und Vater es aufgegeben, ihre Probleme zu lösen. Sie habe den Eindruck, als würden