Thomas Arndt

Eine Geschichte über rein gar nichts


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Susanne. »Und ich will dich auch nicht nerven, aber so richtig verstehe ich das noch immer nicht.«

      »Schon gut. Du nervst mich nicht, wenn du nachfragst, denn immerhin führt mir das die Situation noch einmal vor Augen und ich muss mich mit ihr auseinandersetzen. Es nervt mich aber, wenn du um den heißen Brei herumredest und nicht sagst, was du von mir willst. Wir sind doch verwandt, kennen und verstehen uns gut, wir können doch direkt sein, oder?«, sagte Tania versöhnlich lachend.

      »Hast ja Recht.«, erwiderte Susanne in einer Mischung aus verständnisvollem Seufzen und Lächeln. »Hast ja Recht, Cousinchen. Darf ich dir noch eine Frage stellen?«

      »Frag doch.«

      »Gut.«, sagte Susanne und suchte nach einer geeigneten Formulierung. Dann holte sie tief Luft und fragte: »Und wie soll es jetzt weitergehen? Ich meine, es betrifft ja nicht nur dich, sondern auch Paul.«

      »Genau!«, entgegnete Tania aufbrausend. »Da hast du es auf den Punkt gebracht. Paul! Paul! Paul! Wer auch immer durch wen auch immer davon erfährt, es dauert keine zwei Sätze und ich bin vergessen. Verstehst du, was ich meine? Ich werde nicht einmal gefragt, warum wieso weshalb ich ausgezogen bin, und diese Fragen könnte ich verstehen, aber jeder fragt mich, wie sich der arme Paul fühlt, wie es ihm geht und was weiß ich, was ich nicht schon alles gehört habe. Ich hab echt genug davon! Gibt es mich eigentlich auch noch?«

      Mit einem derartigen Ausbruch hatte Susanne nicht gerechnet und entsprechend überrascht saß sie regungslos auf ihrem Stuhl. Tania zündete sich eine Zigarette an, stand auf, sah aus dem Fenster und bat Susanne leise um Verzeihung. Dann drehte sie sich um und blickte ihre Cousine an.

      »Tut mir wirklich leid!«, wiederholte sie. »Ich wollte nicht laut werden. Wir sind doch nicht nur Cousinen, sondern auch Freundinnen, nicht wahr?«

      »Ja.«, antwortete Susanne und schaute Tania fragend an.

      »Kann ich mit dir reden? Also, ich meine eher, kann ich etwas loswerden?«

      »Natürlich kannst du.«, entgegnete Susanne.

      »Ich muss dich aber warnen: es könnte dauern und wahrscheinlich wird es ziemlich idiotisch klingen.«

      »Idiotisch?«, fragte Susanne neugierig. »Macht doch nichts. Schieß einfach los.«

      »Danke.«, sagte Tania. »Dann werde ich dir eine kleine Geschichte erzählen. Und wenn du keine Lust mehr hast, dem Unsinn zuzuhören, dann kannst du mich jederzeit unterbrechen und ich höre auf.«

      »Nein, nein! Ich höre zu.«, erklärte Susanne und nachdem Tania noch einmal tief eingeatmet hatte, begann sie zu erzählen:

      »Es war einmal ein kleines Mädchen, das den Namen Tanja trug. Dieses kleine Mädchen verlebte eine wunderschöne Kindheit, bis es von der eigenen Mutter eines Tages in den Kindergarten gebracht wurde. Sie begriff nicht, was die Mutter mit ihr tat und noch weniger konnte sie sich erklären, warum sie es tat. Sie war verzweifelt, konnte ihre Verzweiflung aber nicht ausdrücken. Am liebsten hätte sie getobt, gespuckt, um sich geschlagen und getreten, oder gekratzt und gebissen, um sich zu wehren. Sie war jedoch nicht in der Lage, überhaupt zu protestieren. So musste sie stumm und hilflos hinnehmen, was mit ihr geschah. Vollkommen passiv verhielt sie sich allerdings nicht. Sie unternahm einen Fluchtversuch, der unglücklicherweise bereits an der Tür des Kindergartens endete. Dieser Versuch scheiterte, weil sie nicht wusste, wie sie nach Hause zurückgelangen sollte; sie kannte schlicht und ergreifend den Weg nicht. Die Kindergärtnerinnen hatten davon nichts mitbekommen und hätten sie demnach auch nicht aufhalten können. Tanja aber wurde klar, wie hilflos sie war, sobald sie aus ihrer gewohnten Umgebung herausgerissen wurde. Sie dachte oft darüber nach und hatte Angst, weil sie nicht wusste, was man noch alles mit ihr machen würde. Sie konnte nicht abschätzen, welche Überraschungen das Leben noch für sie bereit hielt. Angesichts der Tatsache, von der eigenen Mutter weggegeben worden zu sein, glaubte sie, dass sich derartige Dinge wiederholen würden.

      Auf ihre natürlich noch sehr kindliche Art und Weise lernte Tanja das eine oder andere aus dieser Begebenheit. Sie beschloss, aufmerksam zu sein und genau zu beobachten, was um sie herum geschah. Von nun an stand sie ständig unter Strom, was ihr äußerlich, wie sie aus heutiger Sicht und der Meinung verschiedener Menschen über sie folgend sagen kann, nicht anzusehen war. Sie fühlte sich ohnmächtig und ausgeliefert. Und diesen Gefühlen konnte sie nur begegnen, indem sie herauszufinden versuchte, was ihr als nächstes bevorstand. Da sie voraussichtlich nicht würde verhindern können, nach dem Kindergarten in die Schule gehen zu müssen, wollte sie wenigstens darauf vorbereitet sein.

      Im Laufe der Jahre erlebte sie nie wieder solch eine böse Überraschung. Sie gab sich neugierig und fragte allen Erwachsenen Löcher in die Bäuche. Man hielt sie für klug, intelligent, wissbegierig und fleißig, nicht wenige waren begeistert von ihr. Doch warum sie so war, erfuhr nie jemand. Tanja konnte mit niemandem darüber reden. Sie begriff zwar schnell, dass dadurch ein falscher Eindruck von ihr entstand, aber das störte sie nicht. Darüber hinaus wurde ihr klar, dass sie eine Rolle spielte, die sie sich selbst auferlegt hatte und dass sie jemanden spielte, der nicht sie war. Als sie das verstanden hatte, und das ist noch nicht allzu lange her, zogen sich ihre Eingeweide zusammen, ihr wurde schlecht und sie musste sich tatsächlich übergeben. Nun verstand sie, dass sie sich einen noch größeren Schock versetzt hatte, als es damals ihre Mutter getan hatte. Indem sie viele Jahre lang alles, aber auch wirklich alles in ihrer Umgebung beobachtet, ausgespäht und so gut es ging analysiert hatte, um auf alle erdenklichen Katastrophen vorbereitet zu sein, hatte sie ganz und gar vergessen, sich mit einem Teil von ihr zu beschäftigen, der das Ich genannt wird. Ständig alles andere überwachend, wuchs sie still und heimlich in sich versteckt und vor ihren eigenen Blicken verborgen heran. Doch sie wuchs und wuchs, unaufhörlich, unentwegt, und eines Tages forderte diese Tanja ihr Recht.«

      An dieser Stelle unterbrach sie ihre Erzählung und blickte versonnen aus dem Fenster, während Susanne ihre Cousine anstarrte. Einige Augenblicke später fuhr Tania folgendermaßen fort: »Ja! Es ist wirklich so. Bei Paul auszuziehen und nun hier mit dir und den Jungs zu wohnen, war erst die zweite wirkliche Entscheidung, die ich in meinem Leben getroffen habe. Verstehst du mich? Ich meine so eine richtige Entscheidung, bedeutender und weitreichender, als zwischen zwei, drei, vier oder fünf Apfelsorten im Supermark zu wählen. Das war ich, verstehst du? Ich ganz alleine! Und davor haben mich meine Eltern in den Kindergarten und in die Schule gesteckt. Es war auch ihre Idee, dass ich aufs Gymnasium gehen sollte. Ich kann ein bisschen Gitarre und Flöte spielen, weil sie mir sagten, wie gut es sei, wenn ich ein oder besser mehrere Instrumente beherrsche. Gott!, wie hab ich meine Gitarrenlehrerin gehasst! Ich war so froh, als ich bemerkte, dass meine Eltern keine Wunderdinge von mir erwarteten, so konnte ich einmal im Monat den Unterricht schwänzen; die Lehrerin hat es nicht verraten, hat einfach des Geld genommen. Hätten Vater und Mutter sich ein musikalisches Wunderkind gewünscht, ich wäre es geworden. Doch um mit dieser blöden Ziege nicht noch mehr zu tun zu haben, habe ich immer schlechter gespielt, als ich konnte. Die anspruchsvolleren Sachen habe ich immer allein gemacht.«, sagte Tania bitter lachend.

      »Und was noch?«, fuhr sie überlegend fort. »Ach ja! Tanzschule, Fahrschule, Konfirmation! Alles ihnen zuliebe, weil sie es wollten. Und nun das Studium. Dass ich in einer anderen Stadt studiere, kam gar nicht in Frage. Und glaube mir, es ist nicht untertrieben, wenn ich sage, dass ich nur mit größter Mühe und Not verhindern konnte, von Mutter in BWL eingeschrieben worden zu sein. Außerdem musste ich, wie du weißt, während des gesamten ersten Semesters zu Hause wohnen. Dann hab ich gleichzeitig mit meinen Eltern Paul auf deiner Geburtstagsfeier kennengelernt. Er war ihnen sympathisch und seitdem hatten sie sich gewünscht beziehungsweise die Hoffnung geäußert, dass ich mir auch mal wieder einen Freund suche. Das hört sich jetzt bestimmt ziemlich schräg an, aber mit Paul eine Beziehung einzugehen und zu ihm zu ziehen, war auch nicht allein meine Entscheidung . . . Ich kann das nicht mehr!«, sagte Tania nach einer kurzen Pause. »Darum und noch vieler anderer Dinge wegen habe ich momentan große Probleme, auf Wünsche, Bedürfnisse und Erwartungen anderer einzugehen.«

      Mit diesen Worten beendete sie ihre Offenbarung. Sie setzte sich und zündete sich eine Zigarette an. Endlose Sekunden saßen sich Tania und Susanne stumm gegenüber. Nach einer Weile zündete Susanne sich