Thomas Arndt

Eine Geschichte über rein gar nichts


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ewig schien, verspürte er das Verlangen, diesen Ort zu verlassen. Längst hatte er seine Augen geschlossen, um die Ruhe noch besser genießen und aufnehmen zu können. Und als er sie wieder öffnete, um weiterzugehen, blickte er erneut in jene Finsternis, die er durchschritten hatte, bevor Luna und ihre Sternenkinder ihn mit ihrem Licht begrüßt hatten. Wieder fühlte er, wie er sich festen Schrittes vorwärts bewegte. Wiederum fragte er sich, ob es seine Füße waren, die ihn trugen, und auch diesmal fand er keine Antwort. Irgendwann werde es wieder heller, sagte er sich, eine Lichtquelle würde die Dunkelheit durchbrechen und ihm zeigen, wo er sich befand. Weitere Gedanken machte er sich nicht, denn in ihm war tiefes Vertrauen, das alles umfasste und weder begründet werden konnte, noch musste. Dieses Gefühl war einfach da und sorgte dafür, dass er mit allem, was er tat und auch mit allem, was ihm geschah, vollkommen im Einklang stand. Er schloss seine Augen aufs Neue und wollte sie erst wieder öffnen, wenn er von den unsichtbaren Füßen nicht mehr weitergetragen werden würde.

      Als Paul seine Augen wieder öffnete, fand er sich unversehens in einem Zugabteil wieder. Der abrupte Wechsel der Situation beunruhigte ihn nicht, er blieb entspannt. Ein Blick aus dem Fenster genügte ihm, um die Strecke zu erkennen. Unzählige Male schon hatte er sie im Zug befahren, wenn er von seiner Heimatstadt in die Stadt fuhr, in der er studierte und natürlich ebenso in umgekehrter Richtung. Er bemerkte, dass er der Universitätsstadt näher kam und bald deren Bahnhof erreichen musste; er nahm an, dass er in wenigen Minuten aussteigen würde. Als der Zug jedoch den Bahnhof erreichte, machte Paul keinerlei Anstalten, ihn zu verlassen. Er blieb sitzen, grundlos und unmotiviert, sah aus dem Fenster und beobachtete die Menschen, die mehr oder weniger hastig den Bahnsteig entlang eilten; dann fuhr der Zug weiter.

      Nach wenigen hundert Metern überkam Paul ein Gefühl der Beklommenheit. Ja, natürlich, er hätte aussteigen müssen! Warum war er geblieben, fragte er sich, war ihm doch völlig klar, am Ende der Reise angelangt zu sein. Er dachte nach und fand keine einleuchtende Antwort. Während er nachdachte, blickte er abwesend aus dem Fenster. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass ihm die Gegend entlang der Strecke ein anderes Gesicht zeigte, als er in Erinnerung hatte. Sicher, allzu oft fuhr er nicht hier vorbei und auch sonst bot ihm dieser Landstrich keine besonderen Gründe, ihn besser kennengelernt zu haben, doch begründete das nicht, was er sah beziehungsweise nicht sah.

      Schon kurz nach dem Bahnhof verschwanden die Häuser der Stadt und gingen in eine ländliche Gegend über. Dort, wo Paul das Industriegebiet erwartete, zeigten sich seinen Augen lediglich ein paar Äcker, Wiesen, vereinzelte Bäume und in weiter Entfernung konnte er geradeso noch eine Straße ausmachen. Er wunderte sich und überlegte, wo der Zug wieder Halt machte. Er erinnerte sich an ein kleines eingemeindetes Örtchen, das zwar über einen Bahnsteig, jedoch nicht über ein Bahnhofsgebäude verfügte, bestimmt hielt der Zug dort. Er würde aussteigen und zu Fuß in die Stadt zurückgehen müssen, sagte er sich; eine lange Wanderung stand ihm bevor.

      Immer fremder wurde die Gegend. Je weiter sich der Zug von der Universitätsstadt entfernte, desto schneller wurde er. Paul schien, es existiere ein geheimer Zusammenhang zwischen Geschwindigkeit und Fremdheit. Bald konnte er die Landschaft nicht mehr erkennen, sie verschwamm, wurde durch die Geschwindigkeit verzerrt. Nun fiel ihm auf, dass immer mehr Fahrgäste schwankend, mit den Armen rudernd und jeden sich bietenden Halt nutzend zu den Türen eilten, während der Zug unentwegt weiter raste und sein Tempo noch zu steigern schien. Er verstand sie nicht, verrückt mussten sie sein, meinte er, und presste sich tiefer in den Halt gebenden Sitz. Er war sicher, dass noch einige Minuten bis zum nächsten Halt vergehen würden. Die Menschen jedoch drängten in einer ständig größer werdenden Traube zum Ausstieg. Dort stießen sie einander an, verdrängten andere, wurden selbst verdrängt und strebten doch beharrlich, und ohne den geringsten Laut von sich zu geben, dem Ausgang näher und näher. Warum sie bei diesem Mordstempo schon zur Tür eilten, fragte sich Paul und staunte über die Selbstverständlichkeit, mit der sie das taten und die ihn erschütterte. Irrte er sich etwa? Saß er im falschen Zug? Fuhr er gar in die falsche Richtung? Oder gab es eine Station, die er nicht kannte?

      Plötzlich verlangsamte der Zug seine Fahrt und kam abrupt zum Stehen. Die Tür öffnete sich und die Wartenden in ihrer Nähe stürzten hinaus. Kaum einer von ihnen kam wieder auf die Beine, weil sie von den Nachrückenden einfach überrannt wurden. Obwohl Paul nicht wusste, wo er sich befand – das war nicht die Station, die er erwartet hatte –, lief er eilig zum Ausstieg, trat ebenso rücksichtslos auf die Liegenden und verließ den Wagon, sagte ihm doch eine zwingende Eingebung, dass hier Endstation war. Als er ausgestiegen war, fuhr der Zug sofort weiter und war binnen Sekunden in einem nahegelegenen Wald verschwunden.

      Ratlos stand Paul auf dem Bahnsteig und schaute sich aufmerksam um. Nur noch eine Handvoll der vielen Menschen, die wie er den Zug verlassen hatten, war zu sehen. Von den anderen fehlte jede Spur, sie schienen sich in Luft aufgelöst zu haben. Es gab weder ein Bahnhofsgebäude noch einen Bahnsteig, der diese Bezeichnung verdient hätte, sogar der obligatorische Fahrkartenautomat, der höchstwahrscheinlich defekt gewesen wäre, ließ sich nirgends finden; hier gab es absolut nichts, was einen haltenden Zug und aussteigende Menschen hätte rechtfertigen können. Ein paar Häuser, die anscheinend ein kleines Dorf bildeten, entdeckte er in einiger Entfernung hinter dem Gleis. Sie kamen ihm unwirklich vor. Seiner Meinung nach gehörten sie nicht hierher. Er kannte die Namen der Orte, die die Stadt umgaben, und ging sie der Reihe nach durch. Dieses kleine Dörfchen war ihm unbekannt.

      Was sollte er tun, überlegte er eine Weile und meinte, dass es am vernünftigsten wäre, auf den nächsten Zug zu warten, um in die Stadt zurückzufahren. Er hielt Ausschau nach einem Fahrplan, konnte jedoch keinen entdecken. Bei genauerer Betrachtung wies nichts darauf hin, dass hier jemals wieder mit einem Zug gerechnet werden konnte, wie ihm bewusst wurde.

      Paul befand sich im Nirgendwo, in der Nähe eines Ortes, den er nicht kannte, in einer Landschaft, die ihm fremd war, und selbst die wenigen Menschen, die noch hier waren, machten ebenso wenig wie er den Eindruck, als hätten sie einen Grund dafür. Unschlüssig standen sie entweder an Ort und Stelle, oder taten zaghaft ein paar Schritte irgendwohin, um schnell wieder umzukehren. Paul musste nicht lange überlegen, um zu erkennen, dass mit ihnen nichts anzufangen war.

      Er wurde ungeduldig, wollte nicht länger herumstehen und unnütz Zeit vergeuden. In seinen Augen lag es nahe, im Dorf nach einer Bushaltestelle zu suchen, um mit dem Bus in die Stadt zurückzugelangen; sollte es keine Haltestelle geben oder er könne keine finden, bestand immer noch die Möglichkeit, den Weg zu Fuß zurücklegen. Er war fest davon überzeugt, dass er vom Dorf aus weiter käme und sicher würde er auch Bewohnern begegnen, die ihm weiterhelfen konnten.

      Entschlossen marschierte Paul los und betrachtete die Menschen, die wie Vergessene-Abgestellte noch immer an Ort und Stelle standen, wo sie der Zug ausgespuckt hatte, und teilnahmslos vor sich hin starrten. Nach einigen Sekunden sah er zwei Männer auf sich zukommen, die sich angeregt unterhielten. Sie erweckten den Anschein, als hätten sie ein Ziel und Paul kam unvermittelt der Gedanke, sie anzusprechen und zu fragen, ob er mit ihnen gehen dürfe.

      Ach, wie gut es doch tat, die zwei Unbekannten zu sehen, die allein schon deshalb diesem Ort so etwas wie Normalität verliehen, weil sie miteinander sprachen. Denn obwohl Paul nicht allein hier war, fühlte er sich verlassen.

      Endlich waren sie ihm soweit entgegengekommen, dass er sie erkennen konnte. Überrascht stellte er fest, dass es Kommilitonen waren, mit denen er nicht nur einige Veranstaltungen besucht hatte, sondern auch einige Kneipen. Ihre pure Anwesenheit genügte, um ihm das Gefühl zu geben, nicht fehl am Platze zu sein. Aber was hatte sie hierher geführt, fragte er sich, warum entfernten sie sich vom Dorf und von diesem merkwürdigen Bahnhof? Wo wollten sie hin? Wäre ihnen seine Gesellschaft gar unlieb?

      Schon waren sie nicht mehr weit voneinander entfernt. Paul lächelte ihnen zu, als Zeichen, dass er sie erkannt habe und dass es ihn freue, sie zu sehen. Auch seine Kommilitonen erkannten ihn, lächelten ebenso und grüßten, unterbrachen ihre Unterhaltung jedoch nicht, sondern gingen eilig vorüber, ohne ihn weiter zu beachten. Auch Paul verlangsamte seine Schritte nicht, sah sich nicht nach ihnen um. Bestimmt wollten sie ohnehin nicht in die Stadt zurück, sagte er sich, und war froh, dass er nicht durch smaltalk aufgehalten wurde, aber auch betrübt, weil er nicht in den Genuss ihrer vertrauten Gesellschaft kam.

      Unmittelbar