Thomas Arndt

Eine Geschichte über rein gar nichts


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klar, dazu wehte ein sanfter Wind, der leicht ihrer beider Haut berührte. Sie redeten über dies und jenes und mit jedem Schluck wurden ihre Zungen schwerer und die Nacht dunkler. Bald schon saßen sie stumm nebeneinander und wussten nicht, was sie davon halten sollten. Die Stimmen ihrer Freunde, die sie eben noch vom Wind getragen im Flüsterton vernommen hatten, zogen sich diskret in den Garten zurück und überließen die beiden sich selbst. Nun waren sie allein, ohne dass sie das gewollt hatten, und sahen sich unschlüssig an. Auf diese Weise türmten sich die vergehenden Sekunden aufeinander und wuchsen zu einem riesigen, schweigenden Berg heran, der endlich hoch genug war, um den Himmel zu berühren. Nur ganz leicht und ohne jede böse Absicht touchierte er einen kleinen Stern, der sich unglücklicherweise zur falschen Zeit am falschen Ort befunden hatte; die Wucht der Kollision warf den im Schlaf beim Träumen überraschten Himmelskörper aus der Bahn und ließ ihn auf die Erde purzeln. Kerzengerade rauschte er vom Himmelszelt in die Tiefe und schlug nur wenige Meter neben der Bank auf, auf der Tania und Philip saßen. Erstaunlicherweise verursachte sein Aufprall lediglich ein leises Rascheln, geradeso, als würde ein kleines Tier durch nächtliches Gras laufen. Erschrocken blickten beide in die Richtung, aus der sie das Geräusch vernommen hatten, und als sie langsam ihre Gesichter wieder einander zuwandten, war es Tania, die, nun hellwach, die Gelegenheit nutzte, Philip in die Augen sah und ihn zu küssen begann.

      So unentschlossen, zögernd und misstrauisch Philip auch gewesen war, als sie ihn zu küssen begonnen hatte, er spielte mit ihr in dieser warmen Sommernacht inmitten einer Blumenwiese ein Spiel, dass beiden nur allzu gut gefiel; es war Tanias erstes Mal.

      Als sie wieder bei Sinnen waren, schworen sie einander, niemandem zu erzählen, was geschehen war. Philip fühlte sich sichtlich unwohl, hatte er doch vor wenigen Minuten erst vom Treueversprechen zwischen ihm und Laura gesprochen. Tania gefiel es, ihn beschämt und niedergeschlagen zu sehen. Die untrüglichen Zeichen, die ein schlechtes Gewissen in die Gesichter der Menschen zu stempeln vermag, tanzten in seinem Angesicht. Er fühlte sich wie ein Sünder, stand wie blöde da und wusste nicht, was er sagen oder tun sollte. Er kam sich so dumm vor, sich selbst so fremd, das hatte er nicht gewollt. Laura dürfe das nie erfahren, stammelte er unentwegt in einer Mischung aus Beschwörung, unterschwelliger Aggressivität, Unsicherheit und Verwunderung; Tania lachte in sich hinein.

      Niemand werde es je erfahren, versicherte sie, er könne sich ganz auf sie verlassen. Sie versuchte sich so gut wie möglich zu verstellen, um den Eindruck zu erwecken, als bereue sie die vergangenen Minuten genauso wie er. Sie wisse nicht, wo ihr der Kopf stehe, erklärte sie und fügte hinzu, dass sie sich unter keinen Umständen etwas anmerken lassen durften, denn schließlich habe er eine Freundin und sie einen Freund. Dann gingen sie in den Garten zurück.

      Tania glaubte ihr Ziel erreicht zu haben. Nach dem, was geschehen war, hatte Philip in ihren Augen kein Recht, sich allzu sehr über Laura aufzuregen, sollte er je von dem Kuss erfahren. Außerdem hatte sie nun ein Druckmittel in der Hand; sein Fehltritt ließe sich gegen ihn ins Feld führen, wenn es nötig werden sollte.

      Nachdem die beiden den Garten wieder betreten und sich unter die Feiernden gemischt hatten, teilte Tania Laura mit, sie habe mit Philip gesprochen, ohne dass dieser auch nur den geringsten Verdacht hätte schöpfen können; sie sei sich ziemlich sicher, dass sich der Ärger in Grenzen halten würde, sollte er jemals von dem Kuss erfahren. Tanias Worte machten Laura augenblicklich glücklich und überschwänglich dankte sie ihr für alles, was sie getan hatte. Tania fühlte sich gut. Als sie dann sah, wie innig sich Laura und Philip küssten, verstärkte sich noch dieses Gefühl. Offen blieb nur die Sache mit Benjamin, der schon auf sie zukam.

      Tanias angeblicher Plan war alles andere als bis ins kleinste Detail sorgfältig ausgetüftelt. Im Grunde genommen hatte sie lediglich einige vage Ideen verfolgt, die allesamt darauf zielten, Lauras und Philips Beziehung zu retten – nicht mehr und nicht weniger. Sie war überzeugt, umsichtig und richtig gehandelt zu haben, da weder der Kuss, noch der One-Night-Stand jemals ans Tageslicht kamen, außerdem festigte sich das Band, das Laura und Philip noch viele Jahre verbunden hielt.

      Dennoch darf man fragen, ob es wirklich nötig war, mit Philip zu schlafen, nur um ihm rein präventiv den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ist denn nicht vorstellbar, dass Philips Freund geschwiegen hätte? Sicher ist das eine nicht von der Hand zu weisende Möglichkeit. Doch darum geht es nicht. Was geschehen ist, ist geschehen, sagte sich Tania, wenn sie von Zeit zu Zeit an jene Nacht dachte, und bei diesen Gelegenheiten versäumte sie nicht, sich die unabweisbare Notwendigkeit ihres Handelns ein ums andere Mal zu bestätigen. Dadurch erhärtete sich ihre Vorstellung, sie habe tatsächlich nach einem Plan gehandelt, dessen strikte Einhaltung und Durchführung den angestrebten Erfolg gesichert hatten, und selbstredend wiesen Pläne auch weniger angenehme Seiten auf.

      Was auch immer von ihrem Plan im Endeffekt zu halten ist, eines ist sicher: an dieser Stelle bietet sich ein interessanter Einblick in Tanias Wesen Psyche Charakter. Verfolgte sie denn nicht in ihrem bisherigen Leben stets irgendwelche Pläne? Doch wie waren diese beschaffen? Verdienten sie wirklich die Bezeichnung Plan? Ähnelten sie nicht eher rohen Entwürfen, Skizzen und Ideen, die allesamt niemals wirklich detailliert ausformuliert worden waren? Oder hatte sie vielmehr ständig Fakten geschaffen, mit deren Hilfe sie ihr Leben ordnen konnte und ein wenig auch ihre nächste Umgebung? Und zu guter Letzt: gleicht ihr Leben, ihr ständiges Beobachten der Welt, ihr unentwegt auf sie selbst zurückfallender Blick, ihr andauerndes sich selbst in Bezugsetzen zu . . . nicht doch einem Plan? Ideen - Entwürfe - Pläne: Voraussetzungen relativer Sicherheit in einer unsicheren Welt; sicherer Untergrund für einen festen Stand; ein gemütliches Zuhause während draußen der kalte Wind heult. Wer interessiert sich angesichts solcher Vorzüge für das Kleingedruckte? Was zählt ist das eigene Leben als Resultat eigener Handlungen, die der eigenen Souveränität entspringen und somit Zeugnis ablegen über die eigene Autonomie, oder anders ausgedrückt, den Beweis liefern, ein selbstständig handelndes Wesen zu sein.

      Ein vergessener Gott

      Bereits bei seiner Geburt (wenn man im Falle eines Gottes überhaupt von Geburt sprechen kann) vor einigen tausend Jahren war Morpheus’ Schicksal besiegelt. Als Sohn des Hypnos und einer namentlich nicht bekannten Mutter war es seine Bestimmung, durch den Schlaf der Menschen zu wandeln und ihnen Träume zu schenken. Dieser Aufgabe kam er über einen langen Zeitraum gewissenhaft nach. Es gab keinerlei Beschwerden, die auch nur den geringsten Zweifel an seiner Tüchtigkeit aufkommen ließen. Wie sollte es auch anders sein, fragt man an dieser Stelle zu Recht, schließlich ist hier von einem Gott die Rede.

      Doch ganz so einfach darf man sich das Götterdasein nicht vorstellen. Es war Morpheus nicht möglich, auf bestimmte Aspekte seines Wirkens Einfluss zu nehmen, obwohl es keinerlei Vorschriften gab, die reglementierten, wie er seine Arbeit zu verrichten hatte. Dennoch war er alles andere als frei; er war gefesselt an seine Bestimmung, die ihm keine Wahlmöglichkeit ließ und ihn festlegte auf das Erschaffen von Träumen, ganz gleich, ob ihm das genügte, vielleicht sogar gefiel, oder nicht.

      Morpheus tat, was vermutlich jeder andere Gott an seiner Stelle auch getan hätte. Er variierte die Gestalt, in der er den Schlafenden erschien, veränderte die Länge der Träume, bewirkte verschiedene Arten ihrer Intensität und schlich stets auf verschiedenen Wegen in den Schlaf der Menschen hinein. Am liebsten jedoch sorgte er dafür, dass immer neue, bisher ungeträumte Träume geträumt wurden. All das tat er nicht zuletzt, um gegen die beginnende Eintönigkeit anzukämpfen, die nach mehreren tausend Jahren Dienst wohl keiner weiteren Erklärung bedarf. Auch Götter kennen den Begriff Tagesgeschäft, samt seiner Bedeutung.

      Dieser Unannehmlichkeit zum Trotz hätte sich aus Morpheus’ Sicht am Verhältnis zwischen Göttern und Menschen niemals etwas ändern müssen. Doch die Geschichte endete nicht in der Antike. Viel Neues machte sich überall breit, viel Altes geriet in Vergessenheit. Auch die Götter der Griechen bekamen das zu spüren. Allmählich wurde die ihnen entgegengebrachte Verehrung anderen zuteil.

      Morpheus und seine Kollegen unternahmen alles in ihrer Macht stehende, um dieser Entwicklung entgegenzuwirken. Seltsamerweise aber blieb ihnen jeglicher Erfolg versagt. Ihre Lage wurde umso misslicher, je mehr Zeit verging. Die Menschen hörten einfach nicht auf, sich von ihnen abzuwenden. Ihr Verhalten