Thomas Arndt

Eine Geschichte über rein gar nichts


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deren Hilfe es ihr gelang, die an sie gerichteten Erwartungen zu erfüllen.

      Ohne eine einzige echte Freundschaft geschlossen zu haben, die diese Bezeichnung verdient hätte, verließ Tania pünktlich nach drei Jahren den Kindergarten und wurde eingeschult. Darauf hatte sie sich indes gründlich vorbereitet. Durch Gespräche mit Mutter, Vater und anderen hatte sie frühzeitig in Erfahrung gebracht, dass ihre Rechnung hinsichtlich der zu absolvierenden Schuljahre nicht stimmte. Den großen Schrecken darüber, dass ihr mindestens eine neunjährige Schulzeit bevorstand, verbarg sie sogar dann noch äußerst geschickt und tapfer, als ihr erklärt wurde, dass zehn Jahre zu einem höheren Abschluss führten und dass sie nach zwölf Jahren sogar das Abitur in der Tasche hätte, mit dem sie studieren könne. Erst dann stehe ihr die Welt wirklich offen, wie ihr beteuert wurde, doch wurde ihre Bestürzung durch diese Aussichten nur noch vergrößert. Denn Tania begriff freilich nicht, was es mit den unterschiedlichen Schuljahren auf sich hatte und mit der Vorstellung einer ihr offenstehenden Welt konnte sie auch nichts anfangen. Sie fragte sich, was die Erwachsenen mit ihr vorhatten und wünschte sich in die Zeit ohne Kindergarten und Schule zurück. Weil sie jedoch hinnehmen musste, zu all dem gezwungen zu werden, wollte sie alles so schnell wie möglich hinter sich bringen, um danach in ihre geliebte Welt zurückzukehren. Zu diesem Zeitpunkt hatte ihr noch niemand gesagt, dass nach der Schule beziehungsweise dem Studium das Berufsleben wartete, obschon sie wusste, dass Erwachsene arbeiteten. Da aber ihre gesamte Aufmerksamkeit auf die Gegenwart gerichtet war, sah sie noch weniger als das ohnehin möglich gewesen wäre die eigene ferne Zukunft.

      In der Schule wurde Tania klar, dass die Tore ihrer Welt ein für allemal verschlossen waren. Noch in der Unterstufe begriff sie, dass es kein Zurück in eine Zeit ohne Institutionen gab, die sie durchlaufen musste, weil man es von ihr erwartete. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich mit ihrem Schicksal zu arrangieren und verschiedene Verhaltensweisen, Fertigkeiten und Taktiken zu entwickeln und zu erproben, mit deren Hilfe sie diesen ganzen Schlamassel möglichst unbeschadet überstehen konnte. Denn keine Sekunde bezweifelte sie, dass sowohl Kindergärten als auch Schulen etwas vollkommen Schlechtes seien.

      Über die Jahre entwickelte sich Tania zu einem stillen Kind. Die Eltern freuten sich, weil sie keine ernsten Probleme mit ihrer Tochter hatten, selbst dann nicht, als diese die Pubertät durchlief. Ihren Lehrern diente sie als gutes Beispiel, wenn andere Schüler den Unterricht störten. Und überhaupt staunten alle, die sie kennenlernten, über ihr geradezu irritierend gutes Auftreten.

      Eines Tages jedoch wurde ihr tadelloses Verhalten plötzlich kritisch gesehen und als auffällig erkannt. Im Nachhinein wusste niemand mehr recht zu sagen, wem es zuerst aufgefallen war und warum, doch stimmten nicht wenige darin überein, dass der deutlichste Unterschied zwischen Tania und Gleichaltrigen in der Kindern eigenen Unbeschwertheit liege. Sie lache viel zu wenig, wurde argumentiert, spiele selten mit anderen Kindern, ob nun in der Schule oder in der Freizeit, und mache auch sonst einen ernsten, gefassten und beherrschten Eindruck, der einem Kind nicht gut zu Gesicht stand.

      Tanias Mutter interessierte und beschäftigte sich wenig mit dieser Seite ihrer Tochter. Sie hielt sie für ein liebenswertes, nettes und intelligentes Mädchen, das sie zweifellos war. Und sehr wohl lache ihre Tania auch, erwiderte sie verständnislos, wenn man sie darauf ansprach, und natürlich spiele sie mit anderen Kindern, das könne doch niemand ernsthaft leugnen. In der Tat war es so gut wie unmöglich, die Mutter vom Gegenteil zu überzeugen, denn gewiss hatte sie recht. Dennoch entging ihren mütterlichen Blicken, was fremde Augen sahen: ein hochkonzentriertes Kind, das jegliche Spontaneität vermissen ließ. Die genauen Unterschiede in Worte zu fassen stellte jedoch jeden, der es versuchte, vor große Schwierigkeiten. Tania tat, was alle anderen Kinder auch taten, wodurch sie sich oberflächlich betrachtet nicht von ihnen differenzierte, nur tat sie es auf schwer zu beschreibende Weise anders.

      Eine fremde Frau, deren Schwester mit Tanias Mutter eng befreundet war, beschrieb dieses anders, als die drei Frauen sich eines Tages unverabredet auf einem Spielplatz begegneten und ihre Kinder beobachteten, in etwa folgendermaßen: ihr scheine, Tania würde, wenn sie mit anderen Kindern spiele, irgendwie doch nicht spielen. Sie sei merkwürdig zurückhaltend, gehe nicht aus sich heraus, wirke beherrscht, so als ob sie sich beim Spielen genauestens überlege, was als nächstes zu tun sei. Man solle einmal genau hinschauen! Das unkontrollierte Gebaren anderer Kinder wäre bei ihr nicht festzustellen. Tobt die Meute los, stehe sie noch Sekunden lang auf der Stelle, scheine zu beobachten, was die anderen taten und lief alsdann entweder hinterher oder warte, bis sie wiederkamen und etwas anderes taten.

      Tanias Mutter blickte, als sie die Fremde über ihre Tochter sprechen hörte, zum ersten Mal nicht durch ihre eigenen Augen auf ihr Kind, sondern vielmehr durch eine Art vorgeschobene objektive Perspektive, die sich über ihre Wahrnehmung gelegt hatte. Diese Worte gaben ihr zu denken. Ihr wurde klar, dass der Frau etwas aufgefallen sein musste, das ihr bisher verborgen geblieben war, etwas, das im Wesen ihrer Tochter lag und mehr zu ahnen als zu sehen war.

      Am Abend dieses Tages versuchte die Mutter mit Tania darüber zu sprechen. Die Einschätzung der Fremden, um die sie nicht gebeten worden war, die sie demzufolge unaufgefordert abgegeben hatte und die der Mutter deshalb umso ehrlicher erschien, gesellte sich in die Reihe derjenigen, die meinten, Tania sei ein kleines bisschen anders als andere Kinder. Die Mutter konnte sich nicht erklären, warum eine Stimme in ihr plötzlich dieser Meinung recht gab, obwohl sie nichts Neues gehört hatte.

      Eine merkwürdige Unruhe legte sich auf ihren Magen. Ihr war weder klar, wie sie an diese Angelegenheit herangehen sollte, noch wusste sie, wo genau das Problem lag. Nur war da dieses unangenehme Gefühl, das ihr keine Ruhe ließ und sie trieb, mit Tania zu sprechen und zu hören, dass da nichts sei, dass da rein gar nichts sei, einfach nichts, nichts. Denn sie konnte sich keine Vorstellung davon machen, was überhaupt sein könnte, sodass sie für das ungute Gefühl nicht einmal einen Namen fand.

      Als ihr während des Gesprächs schnell bewusst wurde, dass Tania offensichtlich nicht verstand, worum es ging, sagte sie offen heraus, sie frage sich, warum sie so wenig mit anderen Kindern spiele und sich auch in der Freizeit nicht mit ihnen verabrede. Das kleine Mädchen zuckte hilflos mit den Schultern, sah die Mutter erstaunt an und erwiderte, dass sie oft und gerne mit anderen Kindern spiele.

      Eine schönere Antwort hätte Tania nicht geben können! Eine Welle der Erleichterung ergoss ihre Flut über alle Bedenken und spülte die mütterlichen Sorgen fort. Schon war sie zufrieden und erklärte Tania, von der sie noch immer verwundert angesehen wurde, dass sie sie ein wenig beobachtet habe, wie Mütter das eben tun, und ihr aufgefallen sei, sie spiele und verhalte sich ein wenig anders im Vergleich zu ihren Spielkameraden. Tania schaute ihre Mutter verständnislos an, wiederholte, dass sie gerne spiele und wusste nichts hinzuzufügen. Die Mutter aber war beruhigt, da sie sicher zu wissen glaubte, ihre Tochter habe schlicht ihre eigene Art und ihr eigenes Wesen, wodurch ihr Verhalten hinreichend begründet wurde. Sie strahlte Tania an, strich ihr zärtlich übers Haar und sagte: »Keine Sorge, mein Schatz. Es ist ja nichts. Ich hab mich nur ein bisschen gewundert, dass du nicht so wild herumtobst wie die anderen Mädchen und Jungen. Aber das macht nichts, das macht gar nichts. So ist es auch gut, vielleicht sogar noch besser.« Diese Erklärung aber weckte Tanias Misstrauen und sie fragte: »Mama? . . . Hast du dich schon lange gewundert?«

      »Aber nein! Es ist mir nur so aufgefallen.«

      »Warum ist es dir aufgefallen?«, fragte Tania weiter.

      »Ich weiß nicht.«, antwortete die Mutter. »Man beobachtet dies und das und macht sich seine Gedanken.«

      »Und ist Papa das auch aufgefallen?«

      »Papa? Ich weiß nicht. Ich habe noch nicht mit ihm darüber gesprochen.«

      »Und Oma und Opa?«, bohrte Tania weiter.

      »Ich glaube nicht.«, beruhigte sie die Mutter.

      Unter dem Vorwand, etwas erledigen zu müssen, beendete sie das Gespräch und ließ Tania in ihrem Zimmer zurück. Während für sie die Angelegenheit geklärt war, dachte Tania noch lange darüber nach. Die Mutter wunderte sich also, dass sie nicht so herumtobte wie andere Kinder? Sie fand das aber gut, wie sie sagte, und für Tania gab es keinen Grund, daran zu zweifeln. Aber warum hatte sie sie dann überhaupt darauf angesprochen,