Thomas Arndt

Eine Geschichte über rein gar nichts


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um Stunde verrann, die Zeit verging, die Leere blieb und Paul fand keinen Weg, wie er sie loswerden konnte. Er versuchte sie auszuhusten, dachte daran sie auszukotzen, er hätte sich zur Ader gelassen, wenn auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg bestanden hätte. Doch in seiner Situation waren Zuversicht und Hoffnung zu Begriffen geworden, deren Bedeutung und Sinn im Verborgenen lagen. Längst fühlte er sich paralysiert und wusste, dass Bitterkeit, Verständnislosigkeit, Sehnsucht, Verlangen, Wut sowie andere Gefühle und Emotionen begonnen hatten, die Leere zu füllen; eine Leere also, die keine war und die aus nichts anderem als aus einer wahren Gedanken- und Gefühlsflut bestand – welche Möglichkeiten gab es denn, sich ihrer zu erwehren? Am schlimmsten aber war, dass Tania diese Qualen ausgelöst hatte. Seit beinahe einem Jahr waren sie zusammen.

      Vor etwa sechs Monaten war sie zu Paul gezogen, noch bis vorgestern hatten sie zusammen gelebt. Zuvor hatte er sich die Wohnung mit einem Kommilitonen geteilt, der die Universität gewechselt hatte. Sofort hatten beide erkannt, dass sie diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen durften und in Windeseile war Tanias Einzug beschlossene Sache. Die WG-Ordnung wurde aufgelöst. Pauls Zimmer diente als Schlafzimmer, während der Raum des ehemaligen Mitbewohners zum Wohnzimmer umfunktioniert wurde. Mehr oder weniger war es aber die gesamte Wohnung, die kräftig durcheinandergewirbelt und neu arrangiert werden musste. Der ehemalige Mitbewohner hatte seine Möbel, Gegenstände und Geräte mitgenommen, die einen Großteil des Hausrats ausgemacht hatten. Mit einer Unmenge verschiedener Einrichtungsgegenstände ließ Tania die entstandenen Lücken rasch verschwinden und sorgte dafür, dass die Wohnung nicht wiederzuerkennen war. Das Ergebnis war ein gemütliches Heim gewesen, das nun leer und einsam wirkte.

      Es wäre besser, wenn sie sich eine Zeitlang nicht sehen würden, lauteten die Worte, mit denen sie Paul aus heiterem Himmel ihren Auszug angekündigt hatte.

      An jenem Tag war sie vor ihm nach Hause gekommen, verwehrte ihm den üblichen Begrüßungskuss, sagte, dass sie mit ihm reden müsse (da lächelte er noch), bat ihn, sich zu setzen und teilte ihm ihre Entscheidung mit. Ruhig und sachlich schilderte sie die vollendeten Tatsachen, vor die sie ihn stellte. Im Wesentlichen waren das der Auszug und der Termin desselben, verbunden mit der eindringlichen Bitte, er solle an diesem Tag nicht in der Wohnung sein. Das wäre das Allerbeste in dieser Situation.

      Paul glaubte seinen Ohren nicht trauen zu können. Er versuchte ihr ins Wort zu fallen, sie aus der Fassung zu bringen in der Hoffnung auf ein plötzlich ausbrechendes Lachen, das ihm zeigen sollte, dass sie nur spaße (Aber was sollte das für ein Spaß sein?). Tania allerdings ließ ihn nicht zu Wort kommen. Abwehrend hob sie ihre Hände, wenn er versuchte, gegen das, was sie sagte, zu protestieren oder wenn er zu nahe an sie herantrat. Sie flüchtete regelrecht vor ihm durch die Wohnung. Paul verfolgte sie von der Küche auf den Balkon, zurück in die Küche, dann ins Wohnzimmer, ins Schlafzimmer, in den Flur und ins Bad. In jedem dieser Räume nahm sie einige Gegenstände ihres täglichen Bedarfs und stopfte sie hastig in eine große Sporttasche. Ihre Stimme wurde laut, hart und bestimmt, ohne dass sie schrie, wenn er sich ihr in den Weg stellte; und bevor sie ging, drückte sie ihm einen Zettel in die Hand, auf dem das Datum des Auszugs vermerkt war, damit er es nicht vergaß, und sagte, er solle nicht fragen, wohin sie gehe, sie würde sich bei ihm melden, wolle aber nicht, dass er sich bei ihr melde. Leise zog sie die Tür hinter sich zu. Er öffnete den Mund, so als ob er etwas sagen wolle, schloss ihn wieder, setzte sich im Flur auf den Boden und verstand nicht, was gerade geschehen war.

      Kurz vor dem Auszug rief sie an, um sicherzugehen, dass er wirklich nicht in der Wohnung sein werde. Paul musste sich zusammenreißen, um ihr nicht zu sagen, was er von alldem hielt und wie es ihm ging, um nicht einfach loszuschreien, um sich Luft zu machen wegen der Art und Weise, auf die sie ihn behandelte. Außerdem warteten zahllose Fragen darauf, beantwortet zu werden. Er verstand nicht, warum sie überhaupt ausziehen wollte. Und dass sie nicht mit ihm darüber sprach, erzeugte ein Gefühl, als werde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Da er vermutete, sie lege auf, sobald er gesagt habe, was sie hören wollte, antwortete er nicht auf ihre Fragen. Er konzentrierte die ihm gebliebene Kraft und nahm seinen gesamten Mut zusammen, um anzusprechen, worüber sie nicht mit ihm reden wollte.

      Er wollte wissen, ob er etwas falsch gemacht habe, wohin sie gehe, was aus der Beziehung werde. Tania wich seinen Fragen aus. Sie sprach von persönlicher Entfaltung und Freiheit, sie brauche ein wenig Abstand, Zeit und Raum. Wie lange wisse sie nicht, versicherte jedoch, dass sie die Beziehung nicht beende. Mehr könne sie im Augenblick nicht sagen.

      Er wusste nicht, was er davon halten sollte. Für ihn ergab das keinen Sinn. Er hielt ihre Worte für Ausflüchte, er fühlte sich abgefertigt und nicht ernst genommen. Mehr Freiheit forderte sie? Hatte er sie denn auf irgendeine Art und Weise eingeschränkt? Nie hatte sie etwas gesagt, das auch nur andeutungsweise in diese Richtung gewiesen hätte. Doch am meisten irritierte ihn, dass Tania ihn nicht verließ, indem sie aus der gemeinsamen Wohnung auszog und sie zusammen blieben, indem sie auseinander gingen.

      Seit einigen Tagen war Paul allein. Tania hatten ihn im Regen stehen lassen, dachte er oft, hatte ihn zurückgelassen in tiefer und auswegloser Ratlosigkeit, in der seine Gedanken unentwegt einzig um sie kreisten. Krampfhaft suchte er nach einem Ausweg aus seinem Leid, nach einer Möglichkeit, wie er mit der Situation umgehen konnte, doch es gelang ihm nicht. Er liebte sie, seit er sie zum zweiten, dritten oder vierten Mal gesehen hatte, daran würde sich so schnell nichts ändern, und genau das war sein Problem, wie er meinte.

      Trotzdem fragte er sich, ob er egoistisch sei, wenn er nur an sich dachte und sie bei sich wünschte. Um nichts in der Welt wollte er sie verlieren. Allein die Vorstellung, ohne sie zu sein, war für ihn ganz und gar absurd. Er fragte sich allerdings auch, ob nicht vielmehr sie egoistisch handelte, denn offensichtlich nahm sie keine Rücksicht auf ihn. Doch bei diesem Gedanken fiel ihm plötzlich wieder ein, dass sie noch zusammen waren und folglich alles nicht so dramatisch sein konnte. Sie hatte sich nicht von ihm getrennt und das war wichtiger als die Tatsache, dass sie ausgezogen war. Sie hatte ihn verlassen, ja, aber groteskerweise bedeutete das lediglich, dass die Beziehung weiterhin bestand. Er klammerte sich an die Vorstellung, dass sie seine Freundin war und blieb. Vielleicht brauchte sie wirklich nur etwas Abstand und Zeit.

      Die Wohnung war leer, nicht nur wegen der fehlenden Möbel. Paul betrat den Balkon, vor dem sich in etwa einhundert Meter Entfernung der Dom befand. »Der steht schon seit über siebenhundert Jahren auf der selben Stelle.«, murmelte er halblaut vor sich hin. Der Anblick von Beständigkeit tat ihm gut, gab ihm doch das uralte Bauwerk ein Gefühl von Sicherheit. Es beruhigte ihn schon allein deshalb, weil es noch immer auf seinem angestammten Platz stand.

      Der Dom wurde von Menschenhand konstruiert, über einen langen Zeitraum erbaut und bis heute beherrscht er das Bild der Stadt. Immer wieder musste und muss etwas ausgebessert und repariert werden, doch das war weder etwas Unmögliches noch etwas Ungewöhnliches, und der Dom machte den Eindruck, als wolle er auch den nächsten siebenhundert Jahren trotzen, komme, was da wolle. Diese Gedanken verglich Paul mit seiner Liebe zu Tania. Denn auch diese Liebe wurde konstruiert und erschaffen von Menschenhand und bedurfte sorgfältiger Pflege, wie er meinte. Hin und wieder muss etwas ausgebessert, verändert oder wiederhergestellt werden, um sie dauerhaft erhalten zu können. Vielleicht kümmerte sich Tania gerade jetzt um den Erhalt ihrer Liebe viel mehr, als er es tat. Sicher war er dessen jedoch nicht. Sie hätte mit ihm reden sollen, dachte er betrübt.

      Vergeblich bemühte er sich, den unerwünschten Gedanken beiseite zu schieben, dass das Fundament des Doms aus Steinen, Mörtel, Erde und vielleicht aus Holz bestand, während sich das Fundament ihrer Liebe aus etwas anderem zusammensetzte, worüber sie nie gesprochen hatten. Vielleicht war das der Grund, warum der Dom noch immer stand, dachte Paul und war sicher, dass es viel einfacher ist, materielle Dinge zu pflegen, die man in die Hand nehmen oder wenigstens berühren kann, als immaterielle, die sich nur allzu gern einem direkten Zugriff entziehen. Trotzdem stimmte ihn der Grundtenor seiner Gedanken optimistischer, denn Tania und er konnten an ihrer Liebe arbeiten. Sie waren noch zusammen, sie ist nur für eine unbestimmte Zeit ausgezogen, sagte er sich, das verwirrte und bedrückte ihn sehr, doch nicht alles war verloren.

      Anschließend lief er ruhelos in der Wohnung umher und versuchte vergebens, sich mit verschiedenen Betätigungen abzulenken: er kochte Kaffee, aß etwas, blätterte in einem Buch, in der Fernsehzeitung,