Thomas Arndt

Eine Geschichte über rein gar nichts


Скачать книгу

(einen Teller, eine Tasse, ein Messer und einen Löffel), las die bereits gelesene Tageszeitung, ohne dass ihm auch nur ein einziges Wort im Gedächtnis blieb, schloss ein Fenster . . . all das tat er innerhalb von etwa sieben Minuten. Paul war allein.

      Quälend langsam vergingen die Minuten, die Stunden währten ewig, Tage spürte er nicht mehr. Schließlich bemerkte er, wie sich sein Verstand, sein Gefühl und seine Intuition verselbständigten. Die sensible Abstimmung zwischen ihnen ging verloren, sie begannen einander zu blockieren, sodass er zusehends in Lethargie versank, jedoch ständig unruhig war. Alles, was seine Situation bestimmte, staute sich auf, konnte nicht verarbeitet werden, nahm an Dichte zu und füllte ihn schon bald in solchem Maße aus, dass es ihn lähmte und zugleich eine innere und äußere Spannung erzeugte, die ihn jederzeit auseinanderreißen konnte. In solch einem Augenblick betrat er den Balkon. Er sah, dass sich der Tag langsam verabschiedete und, die Sonne mit sich nehmend, seines Weges ging. Apathisch sah er sie an und hätte mit Sicherheit nicht bemerkt, hätte sie in einer anderen Farbe gestrahlt. Bedrückt blickte die Sonne auf ihn herab und wünschte ihm eine gute Nacht, wissend, dass ihr Wunsch nicht in Erfüllung gehen würde.

      Nur selten verließ Paul in diesen Tagen seine vier Wände. Tat er es doch, dann lediglich, um den Briefkasten zu leeren oder Lebensmittel zu besorgen, auch wenn er kaum etwas zu sich nahm. Er zog sich zurück und brach den Kontakt zur Außenwelt beinahe vollkommen ab. Er hatte schlicht keine Lust, irgendjemanden zu sehen, geschweige denn mit jemandem zu sprechen, es sei denn, es handelte sich um Tania. Er meldete sich weder bei seinen Freunden, noch bei seiner Familie, und auch für die Nachbarn, denen er zufällig im Treppenhaus begegnete, was er zu vermeiden suchte, fand er nur ein kurzes klangloses Grußwort.

      Verspürte er doch einmal den Drang, sich ein wenig Bewegung zu verschaffen und verließ aus diesem Grunde die Wohnung, dann kam es vor, dass er, unten angekommen, sich umsah, die Umgebung kurz betrachtete, auf der Türschwelle kehrtmachte und wieder nach oben ging. Ein Blick hatte ihm genügt, um irgendwo einen lachenden Menschen zu entdecken, der seiner Meinung nach sein Lachen in seine Richtung geworfen hatte. Paul war sehr empfindlich in diesen Tagen und fühlte sich von fröhlichen Menschen entdeckt, verraten und verfolgt. Auch wenn er genau wusste, dass sie keine Gelegenheit gehabt hatten, ihn im Hauseingang wahrzunehmen, ließ sich seine Empfindlichkeit dadurch nicht stören und ignorierte erfolgreich seinen Verstand, der noch immer recht kraftlos war.

      Selbst wenn es ihm gelang, die Türschwelle und die eingebildeten Blicke zu überwinden, verflog sein Bewegungsdrang schon nach kurzer Zeit. Ein paar Straßen überquerte er, ein paar hundert Meter lief er in eine beliebige Richtung und erreichte nach einigen Minuten wie von unsichtbarer Hand geführt die Straße, in der er wohnte. Nun genügten wenige Schritte, um das Haus zu erreichen, die Treppe emporzusteigen, die Tür zu öffnen und anzukommen in den halbleeren Räumen, denen es gleichgültig war, ob er kam oder ging, die sich ebenso wie er nach Tania, ihren Möbeln und den vielen Gegenständen sehnten, von denen sie vollgestopft gewesen waren. Nun atmete er wieder den beißenden Geruch der Verlassenheit, der in den Atemwegen und der Lunge ätzte und ihm die eine oder andere kleine Träne in die Augen trieb, den er aber freiwillig eintauschte gegen den Geruch der Straße, der der Geruch des Lebens und der Welt außerhalb der Wohnung war, den er jedoch nicht riechen konnte oder wollte, weil er ihm nichts bedeutete, da Leben und Welt für ihn zu Begriffen geworden waren, die einzig in Verbindung mit Tania einen Sinn besaßen. Nun war er wieder in der Wohnung, die ihm ohne sie fremd und unbehaglich vorkam, jedoch Ruhe schenkte und ihn versteckte. Paul verkroch sich in die Stille der Räume. Er bemerkte nicht, wie die Luft in ihnen stickig und auf eigentümliche Weise sauer und bitter zugleich wurde. Er atmete ein, was er ausgeatmet hatte.

      Langsam, geradezu unmerklich, vollzog sich ein gewisser Wandel in seinem Befinden. Er gewöhnte sich an seinen Zustand, da dieser sich einfach nicht veränderte. Das heißt nicht, dass es ihm nun etwa besser ging, er wurde lediglich gelassener und gefasster. Seine Gefühle beruhigten sich soweit, als dass sie davon abließen, seine Gedanken ständig um Tania kreisen zu lassen. Paul erlangte seine Geisteskraft zumindest ansatzweise zurück, wodurch die Ereignisse der letzten Tage von der seelischen Ebene gelöst und der rationalen zugänglich gemacht werden konnten. Die damit beginnende Verarbeitung der Geschehnisse ging zwar nur schleichend und nicht ohne emotionale Achterbahnfahrten vonstatten, doch wenigstens hatte sie überhaupt begonnen.

      Ihm fiel auf, dass Tania ihr Vorgehen allem Anschein nach sorgfältig geplant hatte. Der Termin des Auszugs musste bereits einige Zeit festgestanden haben. Zu kurz war die Spanne, die zwischen dem Tag der Ankündigung und dem Tag verging, an dem ihre Möbel aus der Wohnung verschwunden waren. Es musste eine Wohnung oder ein Zimmer gegeben haben, wo sie einziehen konnte. Außerdem hatte sie offensichtlich Freunde oder Verwandte organisiert, denn allein hätte sie die Arbeit nicht bewältigen können. Angesichts dieser Vorstellung wurde Paul sogar ein wenig froh darüber, die Aktion nicht miterlebt zu haben. Vermutlich war ihnen dadurch eine üble Situationen erspart geblieben, wie er meinte, und erinnerte sich, dass er nicht nur einmal von nun getrennten Paaren gehört hatte, die ihr Auseinandergehen auf diese Weise vollzogen hatten; Tanias Auszug folgte also Vorbildern.

      Nur wenige Augenblicke später wurde ihm klar, dass er es nur ihrer Gnade zu verdanken hatte, überhaupt über ihre Absichten in Kenntnis gesetzt worden zu sein. Denn genauso gut hätte sie ihn ohne ein einziges Wort verlassen können. Er stellte sich vor, wie er an jenem Tag nach Hause gekommen wäre und weder sie noch ihre Möbel vorgefunden hätte – einige Sekunden wurde ihm schwarz vor den Augen, dann wurde er wütend. Dass sie ihm keine Gelegenheit gab, mit ihr zu reden, steigerte seine Wut, und dass sie sich ihm entzog, indem sie verschwieg, wo sie nun zu erreichen war, ja dass sie nicht zu erreichen sein wollte, machte alles noch schlimmer. Und trotz allem trennte sie sich nicht von ihm, wollte, wie sie sagte, die Beziehung nicht aufgeben. Voller Zorn dachte er, es wäre besser gewesen, wenn sie Nägel mit Köpfen gemacht und ihn verlassen hätte. Obwohl er genau das nicht wollte, hätte er damit etwas anfangen können. Eine richtige Trennung sei etwas Handfestes, selbst wenn man die geliebte Frau verliert, sagte er sich, dann könnte man wütend sein und hassen, sich betrinken, etwas kaputt machen und vielleicht sogar weinen, aber man kann etwas tun, weil es einen konkreten Anlass gibt.

      Weg war sie, seine Freundin. Irgendwo anders und er wusste nicht wo. In den Armen eines anderen vielleicht? Und schon stach der Schmerz unerbittlich zu: ihm verkrampfte sich das Herz, ihm wurde schlecht. »Nein! Es gibt keinen anderen!«, stieß er schreiend in die leere Wohnung aus. So gut kannte er sie, in diesem Fall hätte sie Schluss gemacht. »Bleib still! Komm runter! Denk nicht mal dran!«, versuchte er sich zu beruhigen. Doch seine Wut über sie und ihre in seinen Augen unbegründete und unberechtigte Flucht überwand er nicht.

      Pauls Zorn hielt nicht lange vor. Sein Verstand wurde müde und wollte keinen weiteren Gedanken fassen. Doch all die im Herzen erlittenen Stiche hörten nicht auf, ihm weiterhin Schmerzen zu bereiten. Ihm war klar, dass er nichts anderes tun konnte, als möglichst wenig an sie zu denken. Andernfalls würde er sich den Gefahren neuerlicher Vermutungen und Erkenntnisse aussetzen. Je besser es ihm jedoch gelang, sich auf andere Gedanken zu bringen, desto heftiger spürte er seine Sehnsucht nach Tania. Was nützte es ihm also, mit größter Anstrengung seinen Geist zu manipulieren, solange seine verletzte Seele ihr kochendes Blut auf sein Herz schüttete? Paul wähnte sich in einer Falle. Er hetzte sich wie ein Tier mit seinen eigenen Gedanken, Emotionen und Gefühlen. Er drehte sich im Kreis, ihm wurde schwindlig und schlecht, er konnte nicht bremsen und auszubrechen vermochte er erst recht nicht; allein Tania konnte dieses perfide Karussell zum Stillstand bringen. Warum tat sie es nicht? Als er dieser Frage nachging, schoss ihm ein ganz anderer Gedanke durch den Kopf: Von wegen nicht erreichbar! Seit Tagen ist sie schon weg und ich Idiot denk nicht mal dran, sie auf dem Handy anzurufen...

      Umständlich hielt er sein Handy in der Hand. Er musste darauf achten, dass er es nicht fallen ließ. Er wunderte sich und bemerkte, wie stark er zitterte. Sein gesamter Körper war in Aufregung geraten und seine Nervosität steigerte sich noch, als er Tanias Nummer suchte. Er fand sie schließlich, nachdem er sie einige Male absichtlich überblättert hatte; er zögerte und wählte nicht sofort.

      Soll ich es wirklich tun?, fragte er sich. Gegen ihren Willen anrufen? Etwas Abstand und Zeit brauche sie, fiel ihm wieder ein. Sollte er ihren Bedürfnissen zuwiderhandeln? Er war sich nicht