Thomas Arndt

Eine Geschichte über rein gar nichts


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den sie nicht erraten konnte. Also machte sie es sich zur Aufgabe, genau zu beobachten, ob sie sich wirklich anders verhielt als andere Kinder.

      Gemessen an ihrem Alter hatte Tania eine außerordentliche Beobachtungsgabe entwickelt. Einige Situationen genügten ihr, um innerhalb der Grenzen ihres Verstandes zu sehen und zu begreifen was ihre Mutter meinte. Sie verstand, dass man von ihr erwartete, sich nicht allzu sehr von anderen Kindern zu unterscheiden, ohne dass sie begreifen konnte, warum das so sein sollte.

      Tania gelang es hier und da, das eigene Verhalten dem anderen Kinder anzupassen. Sie nutzte nicht wenige Gelegenheiten sie nachzuahmen und es ihnen gleich zu tun. In einigen Fällen führte das soweit, dass sich beispielsweise einige Lehrer über sie zu beschweren begannen: sie störe durch Schwatzen den Unterricht, raufe mit anderen Mädchen und sogar mit Jungs. Dies und anderes mehr tat sie nicht, weil sie es tun wollte oder weil es ihrem Charakter entsprochen hätte, sondern weil sie noch immer nicht vergessen, geschweige denn verarbeitet hatte, wie sie ohne jegliche Vorwarnung eines Tages aus ihrer behüteten Welt verbannt worden war.

      Dieser Tag ging ihr einfach nicht aus dem Kopf. Inzwischen vermutete sie, dass sie etwas getan hatte, was die Mutter zu diesem drastischen Schritt gezwungen hatte, wusste jedoch nicht, was es gewesen war und meinte, es vergessen zu haben. Fortan wurde eine gewisse Unsicherheit ihr ständiger Begleiter, denn die schiere theoretische Möglichkeit, dass ihr etwas Ähnliches noch einmal widerfahren könnte, war nicht von der Hand zu weisen. In ihr fand sie den Antrieb und die nötige Energie, um ihre geheimen Spionage- und Verhörtechniken zu verfeinern, mir deren Hilfe sie unbemerkt schon so manchem Erwachsenen das eine oder andere Geheimnis entlockt hatte, wenn sie herauszufinden versuchte, was von ihr erwartet wurde und was nicht. Auf diese Weise gelang es ihr aus eigener Kraft, ihren Status quo zu festigen. Sie richtete sich ein in dieser zweiten ungewollten Welt; und je klarer sie erkannte, dass sie in dieser Welt ihre eigenen Regeln erschaffen konnte, desto wohler fühlte sie sich, ohne jedoch ihre geliebte wie auch vermisste mütterlich behütete Welt jemals zu vergessen.

      Aus der Ferne betrachtet konnte ein jeder mit ruhigem Gewissen behaupten, Tania entwickle sich ganz normal. Sie fand einige Freundinnen in der Schule, mit denen sie ihre Geburtstage feierte, sie bekam viele gute Noten und nur wenige schlechte, zeigte sich zurückhaltend und freundlich, doch konnte ebenso bösartig und rücksichtslos wie alle anderen Kinder sein, was zwar in entsprechenden Situationen getadelt, doch ebenso in gewisser Weise toleriert wurde, wie sie längst bemerkt hatte. Kurz gesagt, Tania war ein Kind wie jedes andere, nur das sie es deshalb war, weil sie ständig ihr Umfeld überwachte und zu sich in Beziehung setzte. Sie bemühte sich sehr und es kostete ihr einige Anstrengungen, sich ihren Beobachtungen entsprechend anzupassen. Doch sah sie in diesen Investitionen den Schlüssel zu ihrem Glück, der die Tür zu ihrer Unsicherheit zu schließen vermochte und ihr einzutreten und sich zu bewegen erlaubte in der zweiten Welt.

      Es kam die Zeit, in der ihre Freundinnen das andere Geschlecht entdeckten. Kaum hatte die erste einen Freund präsentiert, eiferten ihr auch schon andere nach und Tania meinte, nichts anderes als eine Seuche grassiere, die ihren Freundinnen die Sinne vernebelt hätte.

      Im Laufe der Zeit war es ihr gelungen, zu einer Vertrauensperson zu werden, mit der man über alles reden konnte. Deshalb wusste sie, dass nicht wenige Mädchen, die plötzlich so unsterblich verliebt waren, als wären sie niemals nicht verliebt gewesen, noch ein paar Tage zuvor keinerlei Interesse an Jungs gehabt hatten. Plötzlich sah sie sich von einer Horde wild knutschender Altersgenossen umgeben, die nicht mehr ihre Hände und Münder voneinander lassen konnten und sich an Stellen ihrer jugendlichen Körper krabbelten, küssten und berührten, an denen es ihr, wenn nicht absurd, so doch wenigstens vollkommen merkwürdig erschien.

      Tania war klar, dass all dies auch auf sie zukam. Sie ahnte, dass ihre Freundinnen sie bald ausfragen würden, ob es nicht einen süßen Jungen gäbe, den sie möge. Sie beschloss, die verbleibende Zeit, in der sie mit solcherlei Angelegenheiten nicht konfrontiert wurde, in Ruhe verstreichen zu lassen.

      Nach einigen Monaten konnte sie sich der Notwendigkeit eines Freundes nicht länger entziehen. Sie entschied sich für Benjamin, einem Mitschüler aus der Parallelklasse, der bei den Mädchen ob seiner freundlichen Art und seines guten Aussehens nicht gerade unbeliebt war. Dass keine andere bisher mit ihm zusammengekommen war, lag in seinem vergleichsweise weit entwickelten männlichen Äußeren. Seine stark behaarten Arme und Beine nämlich sowie die unschönen Pickel in seinem Gesicht, gereichten ihm ebenso zum Nachteil wie seine markanter werdenden Gesichtszüge. Bezüglich seiner ungegelten Haare entbrannte unter den Mädchen sogar eine angeregte Spekulation über die Ursachen, in die recht schnell die Fragen einbezogen wurden, wie es um seine Brustbehaarung bestellt war und ob er sich die zweifellos sprießenden Schamhaare rasiere oder nicht. Obwohl Benjamin also einige interessante Eigenheiten besaß, konnte man so einen Kerl nie und nimmer vor seinen Freundinnen als süß bezeichnen – und das war ein kaum zu kompensierender Makel. Außerdem hatte er es fertig gebracht, mindestens zwei Mädchen aus Tanias Freundeskreis, die sich um ihn bemüht hatten, einfach abgewiesen zu haben. Da ihm dasselbe ungebührliche Verhalten gerüchteweise in drei bis sieben weiteren Fällen nachgesagt wurde, wussten die Mädchen nicht, was sie von ihm halten sollten. Dass Tanias Wahl dennoch auf ihn fiel, war wohlüberlegt und hatte rein rationale Gründe.

      Wochenlang hatte sie sich den Kopf zerbrochen, wer als ihr Freund in Frage käme. Benjamin wurde es deshalb, weil er nicht wie so viele andere Jungs dauernd blöde und anzügliche Sprüche machte. Er war ein ruhiger Typ, mehr Mann als Junge, war anerkannt und galt als gescheit. Der wichtigste Grund aber war, dass sie davon ausging, er wäre nicht an ihr interessiert. In diesem Falle würden ihre Freundinnen bestimmt verstehen, wenn sie, nachdem er ihr das Herz gebrochen hatte, für unbestimmte Zeit nichts mehr von Jungs wissen wollte. Frühzeitig legte sie sich die Worte zurecht, mit denen sie anschließend ihr Gefühlsleid klagen wollte und die nichts anderes als die Herzlosigkeit dieses rohen Klotzes der ganzen Welt kundtun sollten. Sollte dennoch der unwahrscheinlichste aller denkbaren Fälle eintreten, Tania + Benjamin = Liebe, so hoffte sie, dass er nur tun würde, was alle anderen auch taten beziehungsweise was sie ihm gestattete.

      Und so kam es, dass nur wenige Tage vergingen und Tania, ob sie nun wollte oder nicht, ihren ersten Freund hatte. Da sie nach gründlicher Erwägung des Sachverhaltes und unter Einsatz ihrer subtilen Verhörmethoden wusste, dass Benjamin gerade keine Freundin suchte, nahm sie das Heft in die Hand. Mit der Bitte, kein Sterbenswörtchen über ihre zarten, aufkeimenden Gefühle zu verlieren, benutzte sie ihre Freundinnen als Überbringer unwahrer Botschaften und konnte sicher sein, dass ihre Worte in nur wenigen Augenblicken Benjamins Ohren erreichten.

      Sieht man einmal davon ab, dass sie lieber die Zurückgewiesene gespielt hätte, verlief soweit alles nach Plan, wenn auch nach Plan B. Benjamin war nett und freundlich und entpuppte sich als guter Kumpel, mit dem sie viel Spaß haben konnte, der sich in der Öffentlich gegen einen Kuss nicht wehrte und sich nicht zierte, wenn es um obligatorische Verhaltensweisen ging wie Schmusen, Umarmen, Händchenhalten und dergleichen mehr. Sofern Tania nicht lernen musste und Benjamin Zeit hatte, weil er gerade nicht mit seinen Kumpels zum Zocken oder Fußballspielen verabredet war, trafen sie sich gelegentlich und gingen entweder in ein Café, in den Park, oder unternahmen etwas mit ihren Freunden.

      Auf diese Weise vergingen Wochen, bis Tania sich fragte, wie es sich anfühle, wenn er ihre Brüste berühre. Ein wenig war sie irritiert über ihre eigenen Gedanken und konnte sich keine Antwort darauf geben, wo diese auf einmal hergekommen waren. Gegen ihren Willen versuchte sie in den folgenden Tagen, die Vorstellungen von Benjamins Händen, ihren Brüsten sowie der Gefühle, die seine Berührungen hervorrufen mochten, in ihrem Kopf zusammenzubringen. Ihre Einbildungskraft aber zeigte sich mit diesen drei unvereinbaren Dingen vollkommen überfordert. Auch deshalb erlaubte sie ihm eines Tages, als sich eine günstige Gelegenheit bot, seine Hände wandern zu lassen. Sie konzentrierte sich so sehr auf die erwartete Berührung, dass sie nicht einmal mitbekam, wie er sie von Shirt und BH befreite.

      Sie schloss ihre Augen und fühlte und horchte in sich hinein. Sie bemerkte, wie seine Hände ihre Brüste mal sanft drückten, um sie dann abwechselnd in die eine oder andere Richtung zu bewegen. Das alles fühlte sich beileibe nicht schlecht an, wirklich umwerfend war es aber auch nicht. Als er allerdings ihre Brustwarzen vorsichtig zwischen