Thomas Arndt

Eine Geschichte über rein gar nichts


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hatten, erlangten diese nie wieder.

      Nicht nur Morpheus sah klar, dass der Untergang nicht mehr aufzuhalten war. Die Möglichkeiten der Götter waren erschöpft, tatsächlich waren sie den Menschen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert, ob man das nun glauben mag oder nicht. In ihrer Agonie beschlossen sie deshalb, über die Schwächen und den mangelnden Glauben der Erdenbürger hinwegzusehen und sich so zu verhalten, als hätte sich nichts verändert. Sie gingen gewissermaßen in den Untergrund, taten einfach das, was sie seit ewigen Zeiten taten und warteten auf bessere.

      Ihr Verhalten war zweifellos großmütig und stand ihnen gut zu Gesicht, doch ließ sich darin nicht die nötige Kraft finden, die wahren Gegebenheiten über einen unbegrenzten Zeitraum hinweg zu verdrängen. Die Jahrhunderte des schleichenden Vergessenwerdens forderten ihren Tribut, bewirkten ein zunehmendes Desinteresse der Olympier an den Menschen. Immer weniger kümmerten sie sich um deren Belange, bestimmten ihr Los, und selbst den Fällen, in denen sie das noch taten, fehlte die Schicksalhaftigkeit früherer Ereignisse, bei denen es nicht selten um Leben oder Tod ging.

      Es mag unglaubwürdig klingen, entspricht aber der Wahrheit: an keinem einzigen Gott, den diese Welt kannte und kennt, ist die Zeit spurlos vorüber gegangen. Morpheus war da keine Ausnahme und steht stellvertretend für so viele seines edlen Geschlechts.

      Wenn es ihm auch weiterhin mühelos gelang, so viele verschiedene Träume zu erschaffen, wie er nur wollte, und die verwirrendsten, absurdesten, schrecklichsten, aber auch die witzigsten und angenehmsten Bilder zu erzeugen, so schlich sich dennoch in sein Werk die tückischste aller Fragen hinein: die Frage nach dem Sinn. Denn was bedeutete es denn noch, den Sterblichen Träume zu schenken und zu entscheiden, ob diese nach dem Erwachen im Gedächtnis eines Menschen blieben oder unwiderruflich dem Vergessen anheim fielen? War er denn nichts selbst längst vergessen?

      Im Gleichschritt mit diesen zermürbenden Fragen zogen weitere Jahrhunderte an ihm vorüber, so als wären sie nicht wie er irgendwo verankert, so als hätten sie keine Aufgabe, keinen Sinn, nichts zu erfüllen.

      Eines Tages bemerkte Morpheus ein ihm bis dahin unbekanntes Gefühl, das offenbar in Zusammenhang stand mit seiner zunehmenden Unbekanntheit. Je mehr er in Vergessenheit geriet, desto größer und stärker wurde es. Erstaunt stellte er fest, dass es sich nur um Freiheit handeln konnte. Doch die Freude darüber hielt nicht lange vor, denn ihm wurde klar, dass allein das ausbleibende Gedenken der Menschen dafür verantwortlich war. Wie einen unnützen Gegenstand hatten sie ihn beiseite gestellt, hatten ihn aus dem Spiel genommen und nun saß er auf der Auswechselbank für Götter, die den Namen Reservebank nicht verdiente, weil es von dort kein Zurück gab. Es missfiel ihm, dass sich seine Freiheit auf diese Weise vollzog.

      Im Zuge dieser Entwicklung überdachte Morpheus seine Rolle ohne jede Illusion. So bedeutungslos war er bereits geworden, dass niemand mehr auf die Idee kam, ihm etwas mehr oder weniger Kostbares zu opfern, damit er dem Bittsteller hilfreiche, angenehme oder erleuchtende Träume schickte. Keinerlei Ansprüche wurden noch an ihn gestellt, die Menschen erwarteten schlichtweg rein gar nichts mehr von ihm – warum auch, sie träumten ja alle. Endgültig frei war er, wie er meinte, konnte tun, was immer er wollte, ohne auf jemanden Rücksicht nehmen zu müssen.

      Gegen seinen Willen zu solch einer Freiheit verurteilt, wandte sich der Gott beinahe vollständig von den Menschen ab. Er war enttäuscht, nach unzähligen Jahren treuer Dienste sein Andenken auf Erden realisiert und gleichzeitig beschränkt zu sehen in profanen Lexikoneinträgen, die zu allem Überfluss lediglich Informationen darüber enthielten, wie abergläubisch die Welt einst gewesen war.

      Frei war Morpheus! Frei im Sinne einer bedeutungslosen, verantwortungslosen und inhaltsleeren Freiheit, die jeden Normalsterblichen um den Verstand gebracht hätte. Wie aber wirkt sich solch eine Freiheit auf einen Gott aus? Das ist sicherlich schwer zu sagen, doch in Morpheus’ Fall lässt sich eine kurze, bündige Antwort geben: endlich frei gegenüber sich selbst (und damit frei gegenüber absolut allem), wurde er zu dem, was er schon immer war: er wurde ein Gott! Fortan überließ er es dem Zufall und seiner Intuition, wen er mit welchen Traumbildern wann überkam und ebenso kümmerte er sich nicht länger darum, ob sein Treiben gänzlich folgenlos blieb oder wie auch immer geartete Wirkungen hervorrief.

      So geschah es, dass Morpheus eines Tages, der viele Generationen zurück liegt, in jenen Stunden, in denen die Nacht über die Welt hereinbricht, bemerkte, wie wenig es ihm noch gelüstete, in den Träumen der Menschen zu erscheinen. Missmutig und unkonzentriert verrichtete er dennoch seine Arbeit, deren Folge ein weltumspannendender kollektiver und nichtsdestoweniger individueller Alptraum von solcher Qualität war, dass einer großen Anzahl Träumender das Erwachen verwehrt blieb. Am Morgen des folgenden Tages fanden viele Frauen ihre Männer, viele Männer ihre Frauen, viele Brüder ihre Schwestern, viele Schwestern ihre Brüder, viele Eltern ihre Kinder, viele Kinder ihre Eltern, viele Verwandte ihre Verwandten, viele Liebende den geliebten Menschen sowie gute Freunde, Bekannte, Bedienstete, Hausangestellte, etc., tot in ihren Betten.

      Der Anblick der Leichen entsetzte nicht nur diejenigen, denen die schreckliche Entdeckung vorbehalten blieb, sondern auch die erfahrensten und abgebrühtesten Ärzte, die herbeigeeilten Geistlichen und alle anderen, die mit den Toten in Berührung kamen. Die Gesichter der Dahingerafften waren jeglicher Farbe beraubt, blutleer, verzerrt zu entsetzlichen Grimassen, zu Totenmasken im wahrsten Sinne des Wortes. Die unsagbaren Schrecken der Nacht hatten sich tief in ihre versteinerten Züge gefressen. Nichts anderes als eine grauenhafte Kombination aus Schreien, Winseln, purer Angst, Panik, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung spiegelten sie wieder. Die Augen der Toten: unnatürlich weit aufgerissen, nur noch weiß, nur noch weiß, und in ihren angsterfüllten Pupillen gebannt, gefangen, verschlossen das Grauen und der Terror der vergangenen Nacht – abstrakte und schon bald vergehende Zeugnisse des absolut Bösen. Die Körper: verkrampft, gewunden, verrenkt, stocksteif, starr und spröde. Nicht wenige Ärzte vertraten die Meinung, die Leichenstarre all dieser Unglücklichen müsse unmittelbar nach ihrem Tod eingetreten sein. Die Hinterbliebenen sahen sich vor ein weiteres Problem gestellt, denn an eine Aufbahrung oder gar an eine Bestattung im Sarg war nicht zu denken, wollte man den Verstorbenen nicht entweder alle Knochen brechen oder einzelne Gliedmaßen abtrennen. Da man jedoch sah, wie furchtbar ihr Todeskampf gewesen war, verzichtete man darauf.

      Als Todesursache diagnostizierten die Ärzte in seltener Übereinstimmung Herzstillstand, ohne jedoch davon überzeugt zu sein. Überhaupt keine Antwort fand man auf die Frage, wie in einer einzigen Nacht Abertausende gesunder Menschen auf dem ganzen Erdenrund sterben konnten. Nicht wenige Mediziner vermuteten einen Zusammenhang, der dieses grauenhafte Phänomen zu begründen vermochte. Doch das Unvermögen, eine plausible Erklärung zu finden, beschwor einen weiteren Alptraum herauf.

      In Panik geraten vermuteten die Menschen hinter den Ereignissen nichts weniger als das Werk des Teufels. (Angesichts solch einer Katastrophe kannte ihre Phantasie keine Grenzen.) Hitzig spekulierten sie auch über mögliche Vergiftungen aller damals bekannten Arten: über die Vergiftung von Wasser, Luft oder Lebensmitteln. Man zog eine unbekannte Epidemie in Erwägung und tötete alle in Frage kommenden Krankheitsüberträger. In einer nahezu infernalischen Raserei wurden alle Ratten, Mäuse und anderes Ungeziefer vernichtet, dem man habhaft werden konnte, aber auch streunende Katzen und Hunde. Man suchte nach Hexen und Hexer, fand einige höchst verdächtige Personen, sich plötzlich merkwürdig verhaltende Kinder (sie standen durch den Verlust ihrer Angehörigen zuhauf unter Schock!), einige Katzen mit satanischen Zeichen im Fell, ein Pferd, dem anscheinend Hörner wuchsen, drei Kühe, die schwarze Milch gaben und noch unzählige Kuriositäten mehr, die zuvor bisweilen der ganze Stolz ihrer Besitzer gewesen waren. Alle wurden verbrannt. Die Scheiterhaufen vor den Städten loderten Tage, in manchen Orten sogar Wochen.

      Man glaubte sich und sein Handeln bestätigt, da in den Nächten der folgenden Tage Wochen Monate lediglich die Alten, die Kranken, die Trinker, die Unvorsichtigen und die Selbstmörder starben. Beinahe schien es, als sei nichts gewesen, nur der Verlust so vieler Menschen und die rasante Ausdehnung der Friedhöfe trübten diesen Eindruck. Die Überlebenden des göttlichen Infernos, die aus Angst, der Tod könne auch sie auf diese schreckliche Weise in der Nacht ereilen, nicht mehr schliefen, hörten auf, die Nächte zu durchwachen. Der Alltag kehrte zurück und brachte andere Katastrophen, sodass sich dieses Ereignis,