atmete und sich nicht rührte; es schien, als sei er dem Tode näher als dem Traum. Morpheus scheute sich jedoch, in irgendeiner Form einzugreifen. Er machte sich ein Bild über Pauls Situation, über den Zustand seines Körpers, seiner Seele, seines Verstandes und seiner Gefühle. Es gefiel ihm nicht wirklich, was er sah, doch das galt für vieles, was er in Jahrtausenden auf der Erde gesehen hatte, und getrost konnte er sich sagen, dass es nicht wenigen Menschen wesentlich schlechter ging als Paul. Dennoch war er bei ihm und nirgendwo anders. Und nun, da er einmal hier war, wollte er wenigstens sehen, wer von seinen Helfern sich Pauls Träumen annahm.
Morpheus wartete Stunde um Stunde. Die Nacht hatte den Tag abgelöst. Pauls Schlaf dauerte ohne Unterbrechung an und befand sich längst in der richtigen Tiefe, die Morpheus und seine Gehilfen benötigten, um ihrer Arbeit nachgehen zu können. Doch Paul träumte nicht. Allem Anschein nach kümmerte sich niemand um ihn.
Nachdem Paul einige Stunden traumlos geschlafen und die Uhr Mitternacht bereits überschritten hatte, begab sich Morpheus einer Laune nachgebend zu dem Schlafenden und flüsterte ihm ins Ohr. In Pauls Unterbewusstsein angekommen, verwandelten sich die Worte in Bilder und wurden zu Szenen. Paul träumte, während Morpheus an seiner Seite saß und beobachtete, welche Wirkung seine Einflüsterungen hervorriefen.
Als der Gott bemerkte, welch merkwürdiger Traum sich entwickelte, wurde er unzufrieden. Es ging ihm keineswegs darum, Paul etwas Angenehmes erleben zu lassen, vielmehr war er über seine Arbeit enttäuscht und fühlte sich bemüßigt, es besser zu machen, sich zu genügen. Denn die Worte, die er Paul in den Schlaf geschickt hatte, hatten nichts als Chaos ausgelöst. Zwar handelte es sich um durchaus positiv zu verstehende Begriffe wie Sonne, Blumen, Lachen, Schönheit und dergleichen mehr, doch wusste Pauls Unterbewusstsein nichts Rechtes mit ihnen anzufangen. Kaum waren sie dort angelangt, riefen sie allesamt gegenteilige Assoziationen hervor. Die Sonne erzeugte eiternde Blasen auf der Haut, Blumen verwelkten oder wurden von schweren Stiefeln zertrampelt, ein lachender Mund verhöhnte etwas unsagbar Schönes, das sich daraufhin schreiend und weinend in eine abscheuliche Fratze verwandelte, der selbst die Sonne den Rücken kehrte.
Morpheus wunderte sich. Hatte tatsächlich er das ausgelöst? Warum war alles so verworren, so unzusammenhängend? Irgendetwas stimmte mit Paul nicht, war er sicher, doch das ging ihn nichts an. Wenigstens wollte er aber dafür sorgen, dass Paul in dieser Nacht einen Traum träumte, der eines göttlichen Schöpfers würdig war.
Zu diesem Zweck verbannte er alle Gedanken aus Pauls Unterbewusstsein. Er schuf eine absolute Leere (in diesem Falle sozusagen eine Art Arbeitsplattform), in der er erzeugen konnte, was immer er wollte. Nichts blieb im Kopf des Schlafenden zurück, was sein Werk hätte stören können. In dieses Nichts hinein projizierte er absolute Dunkelheit und Stille. Er tat das langsam und behutsam, sodass es den Schlafenden nicht überfiel und erneut Resultate zeitigte, die er verhindern wollte. Als er sah, dass Pauls Schlaf ruhiger wurde, er also in der gewünschten Weise reagierte, fügte Morpheus der Dunkelheit und der Stille eine entscheidende Eigenschaft hinzu: Wärme! Der Träumende empfand eine wohlige, angenehme Wärme, die seinen Traum schon bald vollkommen ausfüllte. Nun war es für Morpheus an der Zeit, sich zu verwandeln, die Traumtür zu öffnen und einzutreten.
Der Gott wurde zu einem Augenpaar, das durch Dunkelheit, Stille und Wärme wanderte und Paul zeigte, was er sehen sollte. Anfangs sah er natürlich rein gar nichts, bemerkte nur eine zaghafte, leichte, vorsichtige Bewegung, die suggerierte, dass er lief. Trotz der Finsternis ging er festen Schrittes voran; keine Unebenheit säumte den Weg, kein Stein, über den er stolperte. Er wusste nicht, wohin der Weg ihn führte. Doch er vertraute den Füßen, die ihn vorwärts trugen, über die er aber nicht sagen konnte, sie wären die seinen, da er sie weder sah noch spürte.
Mit jedem Schritt wuchs eine namenlose Erwartung in Paul. Er fühlte, dass er sich auf etwas zu bewegte. Er spürte, dass etwas kommen musste, dass er bald etwas sehen würde, irgendwo dort, inmitten der Dunkelheit, genau dort, wohin er von unsichtbaren Füßen getragen wurde.
Eine Weile ging er so weiter. Nach einiger Zeit kam es ihm so vor, als werde es langsam heller und er dachte, seine Augen hätten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Doch plötzlich sah er einen Stern hoch am Himmel stehen. Er betrachtete ihn außergewöhnlich lange, um sicher zu gehen, dass er wirklich da war und er sich nicht täuschte. Der Stern verschwand nicht und sein Licht leuchtete stärker und heller, je weiter er ihm entgegen schritt. Und schon entdeckte er einen zweiten Stern und dann einen dritten, einen vierten und schließlich einen fünften. Es wurde heller und heller.
Unvermittelt blieben die Füße stehen. Sich umblickend prüfte Paul die Umgebung, die er erst jetzt wahrnehmen und erkennen konnte. Er fand sich inmitten einer märchenhaften Landschaft. Eine weithin verschneite Ebene breitete sich vor seinen Augen aus, die in großer Entfernung, die nicht abzuschätzen war, in eine bewaldete Hügelkette überging, die ebenfalls mit Schnee bedeckt war. Jedoch war er zu weit entfernt, als dass er Details hätte unterscheiden können.
Paul spähte in alle Himmelsrichtungen und stellte fest, dass die Hügelkette scheinbar einen geschlossenen Kreis bildete. Vielleicht befand er sich inmitten einer riesigen Lichtung in einem noch größeren Wald, war der erste Gedanke, der ihm in den Sinn kam. Aber wie war er an diesen Ort gelangt, fragte er sich, und suchte vergebens einen Weg. Hatte er unbemerkt die Kette überquert? Nicht einmal seine eigenen Fußspuren im Schnee konnte er finden.
Paul war sich nicht mehr sicher, wirklich durch Dunkelheit gewandert zu sein. Womöglich hatte er sich alles nur eingebildet, hatte keinen Schritt vorwärts getan? Er dachte nach und kam zu keiner Antwort. Er hatte nichts sehen können, als er sich fortzubewegen glaubte, rief er sich ins Gedächtnis. Er wusste nicht, ob es überhaupt seine Beine gewesen waren, die ihn getragen hatten. Außerdem widersprach die geschlossene Schneedecke der Vorstellung, er sei zu Fuß hierher gekommen. Hatte Wind seine Spuren verweht, überlegte er, bemerkte aber sofort, dass es absolut windstill war, nicht einmal ein laues Lüftchen war zu spüren. Auch war kein neuer Schnee gefallen, seit er die Umgebung sehen konnte, war sich Paul sicher. Es gab keine Erklärung dafür, wie er hierher gelangt war.
Da stand er nun und wusste nicht, wo er sich befand, geschweige denn, wie er diesen verzauberten Ort erreicht hatte. Allerdings führte das nicht dazu, dass er sich in irgendeiner Form unwohl fühlte. Kaum war ihm bewusst geworden, dass er dieses Rätsel nicht lösen konnte, konzentrierte er sich wieder auf seine Umgebung. Diesmal blieb sein Blick ungetrübt von jeglichen Gedanken und er sah die winterliche Landschaft in ihrer vollen Pracht. Er ließ die Stille wirken, er öffnete sich der Weite, er war bereit, die Kälte des Winters aufzunehmen, die – dem Gott sei dank – ihn nicht frösteln machte.
Er blickte nach oben und fand Luna in ihrer vertrauten Gestalt direkt über seinen Kopf; in solch ungewöhnlicher Nähe hatte er sie noch nie zuvor gesehen. Wie weit mochte sie entfernt sein? Eine Handbreit, eine Armlänge? Bestimmt könne er sie berühren, dachte er, und noch bevor er diesen zugegebenermaßen unsinnigen Gedanken verwerfen konnte, spürte er, wie ihre Anziehungskraft sich seiner Arme bemächtigte, dieselben anzog, als seien sie Wassermassen, und staunend konnte er mit ansehen, wie sich seine Händen nach ihrem Licht reckten, vollkommen losgelöst und unabhängig von seinem Willen. Doch Paul war zu klein. Einige Zentimeter fehlten, um mit den Fingerspitzen ihr leuchtendes Antlitz berühren zu können. Er stellte sich auf die Zehenspitzen, doch auch das genügte nicht. Gerade wollte er aufgeben, da kam sie ihm ein Stück entgegen. Paul wunderte sich nur kurz und streckte erneut seine Hände aus. Vorsichtig und behutsam berührte er sanft ihre Oberfläche, die sich rau anfühlte und unebener war, als es den Anschein hatte, von der aber nichts desto Trotz eine angenehme Wärme ausging, die er auf seiner Hand spürte. Nachdem er Luna mit den Fingerspitzen solange im Kreis gedreht hatte, bis er sie von allen Seiten ausgiebig betrachtet hatte und sich ein leichtes Schwindelgefühl ihrer bemächtigte, gab er ihr einen vorsichtigen Stoß mit dem Zeigefinger, sodass sie sich an ihre angestammte Position zurückbegeben konnte.
Paul fühlte sich leicht, glücklich, gelöst und zufrieden. Er stand noch immer umgeben von verschneiten Hügeln einsam und verlassen in einer Winternacht. Nichts regte sich um ihn herum. Er starrte geradeaus und fand keinen Grund, etwas anderes zu tun, es gab keinen Anlass, den Zauber dieser Situation zu brechen. So viel Stille, so viel Ruhe, so viel Frieden, keine anderen Menschen; er