Thomas Arndt

Eine Geschichte über rein gar nichts


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ab und ließ man seinen Blick in die Tiefe gleiten, konnte man hier und da ein paar Autowracks entdecken beziehungsweise das, was von ihnen übrig geblieben war, nachdem sie in die Tiefe gestürzt waren. Schnell wich er ein paar Schritte zurück, um die Gefahrenzone zu verlassen. In Sicherheit blickte er in die Ferne und sah die Stadt, die er, wie er sich eingestehen musste, auf diesem Weg nicht würde erreichen können.

      Unschlüssig sah er sich um und betrachtete die drei Mauern, die anscheinend nur errichtet worden waren, um einen Sturz ins Verderben zu verhindern. Doch was sollte er tun, von allen Menschenseelen verlassen im Inneren dieses merkwürdigen Schutzgebäudes, das nur schützen konnte, solange man außerhalb blieb?

      Durch die Tür, durch die er hereingekommen war, trat er wieder ins Freie. Er erblickte einen Kleintransporter, der neben der Straße abgestellt war. Vorhin hatte er ihn nicht bemerkt, wunderte er sich. Dann erkannte er an einer Aufschrift an der Wagenseite, dass es sich um das Fahrzeug einer Malerfirma handelte. Was macht denn eine Malerfirma hier oben, überlegte er und erst jetzt wurde ihm bewusst, dass das Auto nicht allein hierher gefahren sein konnte. Jemand musste in der Nähe sein, den er fragen konnte, welcher Weg in die Stadt führte, den er unter Umständen sogar bitten konnte, ein Stück mitfahren zu dürfen.

      Als Paul jedoch niemanden finden konnte und auch seine Rufe unbeantwortet blieben, kehrte er ins Innere zurück. Von irgendwoher drang nun leise der Klang eines Radios an seine Ohren, den er vorhin nicht gehört hatte. Er drehte sich in die Richtung, aus der die Töne kamen und entdeckte ein Gerüst, auf dem zwei Maler standen und die Wand mit weißer Farbe anstrichen. Er lief geradewegs auf sie zu, um ihnen seine Fragen zu stellen. Die Maler indes bemerkten ihn nicht und verrichteten ihre Arbeit. Nur wenige Meter von ihnen entfernt zog eine Treppe Pauls Aufmerksamkeit auf sich. Sie führte nach unten, ins Innere des Berges, und ließ ihn augenblicklich die Maler vergessen.

      Paul ging hinab, bis er einen kleinen Hohlraum erreichte, in dem eine schwache Glühbirne nur mäßig Licht spendete, und in dessen Mitte ein starkes Eisengitter im Boden eingelassen war. Er trat heran und erkannte darunter eine steinerne, von weiteren Glühbirnen erleuchtete Wendeltreppe, die aus dem Fels heraus gehauen war, in die Tiefe hinab führte und deren Ende nicht zu sehen war.

      War das der Weg, den er gehen musste, unzählige Stufen hinab, die in eine geheimnisvolle Tiefe führten? Ein Gefühl gab ihm die Gewissheit, endlich den richtigen Weg gefunden zu haben. Doch wie sollte er das Gitter überwinden, das fest im Betonboden verankert war? Paul versuchte es herauszureißen und verschwendete unnütz seine Kräfte, da es sich einfach nicht bewegen ließ. Doch unbeirrt wiederholte er seine Versuche, er konnte einfach nicht davon ablassen. Plötzlich vernahm er Geräusche, die ihm aus der Halle herab an die Ohren drangen. Er unterbrach sein Unterfangen für einen Moment, stieg einige Stufen hinauf und überprüfte, was dort vor sich ging. Die Maler beendeten gerade ihre Arbeit und Paul sah, wie sie ihre Pinsel und Farbrollen in großen Wassereimern ausspülten. Das Gerüst war nicht mehr zu sehen, vermutlich hatten sie es bereits abgebaut oder beiseite geräumt. Schon nahmen sie ihr nunmehr sauberes Werkzeug aus dem Wasser, bald würden sie gehen. Sie würden gehen! Und Paul? Paul hatte einzig das Gitter im Sinn, durch das sein Weg führte; dennoch wurde ihm bange, er wollte nicht schon wieder allein zurückbleiben.

      Sollte er sie nicht rufen und bitten, ihn mitzunehmen? Ja! Das sollte er und er wusste es. Stattdessen beobachtete er die Maler nur, die bereits ihre Werkzeuge verstaut hatten, auf einer der untersten Stufen der Treppe stehend, sodass kaum sein Kopf zu sehen war.

      Jetzt brechen sie auf! Keine Zeit zu verlieren! Noch schnell ein letzter Versuch, das Gitter zu öffnen! Schaffte er es nicht, würde er zu ihnen gehen.

      Mit einem Satz nach unten gesprungen und mit aller Kraft am Gitter gerüttelt – es bewegte sich nicht! Bestimmt waren die Maler schon auf und davon. Er sprang drei, vier Stufen hinauf, spähte in die Halle, niemand mehr zu sehen, nur noch die Tür fiel langsam ins Schloss. Hinterherrennen musste er ihnen! Doch er sprang wiederum nach unten. Wieder riss er wie blöde am Gitter; es blieb seine bewegungslose Obsession; jetzt war alles klar!: rütteln ziehen reißen – dort, wo etwas vor ihm verschlossen war. Da! Ein Geräusch in der Halle. Schnell nach oben gesprungen. In die Halle gespäht. Ein Maler! Er holt das Radio! Zeit gewonnen, Zeit gewonnen! Schnell zurück nach unten! Mach langsam Maler! Nur ein Versuch, ein letzter, der Letzte. Dann komme ich und gehe mit euch, nur mit euch, wohin ihr wollt.

      Erwachen

      Der Schlaf eines Menschen kann beeinflusst durch verschiedene Umstände so tief und fest sein, dass mitunter Tage vergehen – in besonderen Ausnahmefällen sogar Monate oder Jahre –, bevor er wieder erwacht. Auch gibt es vollkommen verschiedene Arten von Schlaf, deren Bandbreite sich vom gewöhnlichen Schlaf bis zu einem speziellen Zustand erstreckt, der am treffendsten mit der Bezeichnung Nicht-Wach-Sein umschrieben werden kann. Kein Sonnenstrahl, der an der Nase eines Menschen kitzeln mag, der einen derartigen Schlaf schläft, vermag diesen in den Wachzustand zurückzuführen. Und so machtlos die Sonne in diesen zugegebenermaßen recht seltenen Fällen selbst am allerschönsten und lichtdurchflutetsten Sommertag ist, dessen Helligkeit trotz allem nicht genügen wird, das wirkliche Erwachen-Wachsein durchzusetzen, damit ein jeder den Glanz und die Pracht des Tages genießen darf, so machtlos ist sie auch im gegenteiligen Fall, wenn es einem Menschenkind ankommt, noch vor aller Zeit die verschlafenen Äuglein zu öffnen, zu denken, nun aber einmal die Sonne gehörig zu foppen und nicht zu warten, bis sie ihre Strahlen zur Erde hinabwirft, der vielmehr den eigenen Schlaf mutig abschüttelt, obschon die Müdigkeit sich festklammert und mit Nachdruck ihr Recht fordert.

      Tania steht am Fenster des Zimmers, in dem sie seit einigen Tagen lebt. Nebenan befindet sich das Zimmer ihrer Cousine Susanne und außerdem leben mit ihnen zwei jungen Männer in der Wohnung; sie alle sind Studenten.

      Sie steht ungewöhnlich lange am Fenster und beobachtet das langsame Sterben der Nacht. Ruhig und gelassen sieht sie zu, wie die Nacht ihre Schwärze ausblutend nach Westen fließt. Da kann man nichts machen!, denkt sie und ist froh, dass es Dinge gibt, die einfach passieren, die kein Mensch ändern kann, für die folglich niemand verantwortlich ist und um derentwillen niemand befürchten muss, weder Rechenschaft ablegen zu müssen, noch ein schlechtes Gewissen zu bekommen.

      Diesen und ähnlichen Gedanken folgend blickt Tania noch immer zum Fenster hinaus. Langsam erhebt sich am Horizont die Dämmerung, ohne dass der erste Sonnenstrahl auch nur zu ahnen wäre. Sie findet es schön, in die Nacht zu sehen und zu wissen, dass es schon gar nicht mehr wirklich Nacht ist; sie ist fasziniert von diesem Zustand, für den sie keinen Namen findet, von diesem unheimlich zerbrechlichen Moment, in dem Nacht und Tag zu ungleichen Teilen vereint sind, die sich ständig verändern. Sie liebt diese Augenblicke des Wandels, sie fühlt sich ihnen merkwürdig verbunden, sogar verwandt. Ach!, wie gerne wäre sie nichts anderes als Wandel und Veränderung! Alles und Nichts sein zu können, wünscht sie sich, und zwar gleichzeitig, nur nichts Festes, Statisches, Beschreibbares . . . ; sie würde nur die Augen schließen müssen, um beim Öffnen zu einem Wesen geworden zu sein, dass sie sich gerade vorgestellt hat.

      Angenehm warm war die frühe Morgenstunde ungeachtet des erbitterten Kampfes zwischen Licht und Dunkel. Eine leichte Hose, ein T-Shirt, eine dünne Jacke und Stoffschuhe genügten ihr, um sich so früh in die Schlacht zu werfen. Das Sterben der Nacht störte sie nicht, ebenso wie ihr die Geburtsschmerzen des in den Wehen liegenden Tages keine Ehrfurcht einflößten. Zum Himmel emporblickend erkannte sie die Kampflinie dort, wo sich am Horizont in unruhigen Wellen sanft die Dämmerung ins Schwarz schob. Sie war froh, dass sie daran nicht beteiligt war, dass all das nichts mit ihr zu tun hatte. In diesem Augenblick fühlte sie sich frei. Keine Kämpfe mussten austragen werden. Diesmal wäre sie nur Beobachterin.

      Mit wohltuender Frische füllten sich sofort ihre Lungen, als sie auf die Straße trat. Eine Prise Freiheit ströme mit jedem Atemzug in sie hinein, dachte sie und meinte, dass sie die Freiheit in der Tat schmecken könne. Doch dem nicht genug atmete sie die Freiheit nicht ungenutzt wieder aus, vielmehr gelangte sie auf dem selben Weg wie der Sauerstoff in die Blutbahn und von dort in jede Zelle ihres Körpers. So stand sie in dieser Herrgottsfrühe, durchströmt von Freiheit, mitten auf dem Gehweg vor dem Haus, in dem sie nun lebte, und kämpfte gegen einen leichten