Thomas Arndt

Eine Geschichte über rein gar nichts


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ganz anders sogar. Darf ich trotzdem noch eine Frage stellen?«

      »Frag einfach!«

      »Du hast gesagt, dass deine zweite wirklich eigene Entscheidung war, bei Paul auszuziehen. Du hast auch gesagt, dass es nicht allein deine Entscheidung war, mit ihm zusammen zu sein und bei ihm einzuziehen. Was war denn dann deine erste richtige eigene Entscheidung?«

      »Du wirst lachen!«, sagte Tania. »Meine erste eigene Entscheidung habe ich getroffen, kurz nachdem ich mich sozusagen selbst entdeckt hatte. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt in einer echten Krisen gesteckt, war überempfindlich und dementsprechend reagierte ich bisweilen auf kleinste Kleinigkeiten vollkommen überzogen. Während dieser Phase kam ich an einem Tag, an den ich mich nicht mehr genau erinnern kann, von der Uni nach Hause. Paul war nicht da, weil er noch einmal in die Bibliothek musste. Er hatte mir einen Zettel geschrieben, auf dem neben einer Nachricht für mich mein Name stand und als ich ihn las, kam plötzlich eine riesige Wut in mir hoch. Ich war nicht mehr ich, nicht mehr die, die ich doch war, also konnte das nicht mein Name sein. In diesem Augenblick kam auch Paul nach Hause und ohne weiter darüber nachzudenken, was ich tat, ja ohne dazu überhaupt fähig gewesen zu sein, zerriss ich den Zettel, warf ihn ihm vor die Füße und schrie, dass mein Name von nun an bis in alle Ewigkeit mit i statt j geschrieben wird. Der Arme wusste gar nicht, wie ihm geschah, es tat mir auch leid und ich habe es wieder gut gemacht. Meine erste eigene Entscheidung war also, meinen Namen von Tanja mit j in Tania mit i zu ändern.«

      »Und was wird deine nächste richtige Entscheidung sein?«, wollte Susanne daraufhin wissen.

      »Was für eine Entscheidung muss ich denn jetzt schon wieder treffen?«, fragte Tania erstaunt zurück.

      »Irgendwann, schon bald vielleicht, solltest du dir und auch Paul klar machen, ob du mit ihm zusammenbleibst, falls das überhaupt noch möglich ist.«

      »Was? Wieso? Wir sind doch zusammen!«, antwortete Tania erregt.

      »Meinst du wirklich, dass es so bleiben kann? Ich will dich nicht nerven, aber sei nicht naiv! Für eure Beziehung ist dein Auszug ein Schritt zurück. Das wird nicht folgenlos bleiben.«

      »Ich weiß. Aber ich kann nicht anders!«, antworte Tania mit fester, leiser, doch umso entschlossenerer Stimme und fügte hinzu: »Lass uns frühstücken! Ich kann und will jetzt nicht mehr darüber reden.«

      Ein Freund

      Frieda saß wie so oft auf dem Fensterbrett des Wohnzimmerfensters, zu einer Zeit, in der sie sich gewöhnlich mit Paul traf. Sie versuchte einen Blick hinein zu werfen, konnte aber wegen der zugezogenen Vorhänge nichts erkennen. So flog sie weiter und landete auf dem Balkon, wo sie die Tür zur Küche verschlossen fand. Sie spähte durch die Scheibe, keine Menschenseele war zu sehen. Ein wenig wunderte sie sich, dass niemand zu Hause zu sein schien. Sicher waren ihre Besuche nicht immer regelmäßig, doch gerade in den letzten Tagen, seit sie bemerkt hatte, dass etwas Grundlegendes im Wandel begriffen war, bemühte sie sich, häufiger vorbeizuschauen.

      Es war sehr merkwürdig, Paul erneut nicht anzutreffen. War er zu Hause oder nicht? Frieda wusste es nicht. Zwar konnte sie mit Hilfe ihres ausgezeichneten Beobachtungssinnes feststellen, dass in der Küche und auf dem Balkon während der letzten Tage nichts verändert worden war, was für Pauls Abwesenheit sprach, doch die Unordnung in der Küche ließ vermuten, dass er nicht verreist war, denn Ordnung war eines der Merkmale, die sie an ihm und an seiner Wohnung schätze. Niemals würde er auf eine Reise gehen, ohne zuvor aufgeräumt zu haben, da war sie sicher, und fragte sich, warum er ihr nicht ein wenig Futter auf den Balkon gestellt hatte. Ja, dieser Umstand befremdete Frieda am meisten, denn selbst wenn er einige Tage nicht anzutreffen war, sorgte er für sie vor. Doch diesmal war alles anders. Paul war wie vom Erdboden verschluckt, der Futternapf gähnte vor Leere und die Wohnung war nicht aufgeräumt. Sie müsse sich anderweitig um Nahrung kümmern, sagte sie sich, und dachte an den Domplatz und an die anderen größeren Plätze der Stadt, vielleicht würde sie einen Abstecher in den Park machen, denn auch dort gab es immer ein paar Krumen zu holen. Zuvor wollte sie sich aber noch ein wenig ausruhen, ihr Hunger war klein und die Futtersuche lief nicht weg. Frieda machte es sich auf dem Balkon gemütlich, blinzelte kurz in die Sonne und nickte ein.

      Den noch immer schlafenden Paul hatte sie nicht bemerken können und als dieser endlich erwachte, war sie längst ihres Weges geflogen. Gänzlich unbemerkt von der Welt öffnete er seine Augen und starrte an die Decke des Zimmers. Nach einer Weile drehte er seinen Kopf zur Seite, um nach der Zeit zu sehen – es war Nachmittag. Daraufhin räkelte er sich und streckte die noch müden, doch langsam erwachenden Glieder gemächlich unter der viel zu warmen Decke hervor. Sein erster Weg führte ins Badezimmer, dann ging er in die Küche, um etwas gegen den Hunger zu unternehmen, den er überraschend stark spürte. Er schaltete das Radio ein und bereitete sich einen kleinen Happen. Danach zündete er sich eine Zigarette an und traute seinen Ohren kaum, als der Nachrichtensprecher das Datum nannte.

      Hatte er sich verhört, fragte er sich? Denn wenn die Angabe der Wirklichkeit entsprach, hatte er nicht weniger als vier Tage geschlafen. Das konnte nicht sein, sagte sich Paul. Kein Mensch schläft vier Tage lang! Und um sich zu vergewissern, ob er richtig gehört oder sich getäuscht hatte oder ob eventuell dem Nachrichtensprecher ein Missgeschick unterlaufen war, ging er ins Wohnzimmer, schaltete den Fernsehapparat ein, um im Videotext nachzusehen. Der allerdings bestätigte die Radionachrichten und vergrößerte dadurch Pauls Erstaunen. Daraufhin überprüfte er die Datumsangabe seines Handys, sah im Internet nach und sprang schnellen Schrittes zum Briefkasten, denn die Zeitung irrte sich nie. Schon von Weitem erkannte er, dass er nicht nur eine vorfinden würde, sondern ebenso die Ausgaben der verschlafenen Tage. Ein Bündel Zeitungen unterm Arm haltend, lief er langsam zu seiner Wohnung hinauf. Es war ihm unbegreiflich, dass er vier Tage geschlafen haben sollte.

      Verwirrt und angestrengt dachte er an die Möglichkeit, etwas Unvernünftiges getan zu haben, wodurch ein Gedächtnisverlust hervorgerufen werden konnte. Hatte er etwas genommen, das die fehlenden Tage erklärte? Nein! So etwas nahm er nicht und die Wirkungen aller anderen Substanzen, die er gelegentlich nicht verschmähte, kannte er gut genug, um auszuschließen, dass sie für vier verlorene Tage verantwortlich gemacht werden konnten.

      So sehr er auch nach Erklärungen suchte, finden konnte er keine. Unschlüssig darüber, was er von der Angelegenheit halten sollte, zündete er sich erneut eine Zigarette an, schaltete das Radio aus, setzte sich vor den Fernseher und überprüfte noch einmal das Datum im Videotext, sich gegen das Offensichtliche sträubend und nicht Willens sich einzugestehen, mehrere Tage geschlafen zu haben. Doch das, woran er weder glauben konnte noch wollte, bestätigte ihm die Technik in ihrer absolut nüchternen und keinerlei Zweifel duldenden Logik und Härte: vier Tage waren vergangen!

      Über dieses Mysterium nachdenkend saß Paul auf der Couch und bemerkte nicht, wie die Zeit erneut verrann. Wirklich flogen unzählige Minuten unbeachtet an ihm vorüber und reihten sich gleich Perlen an einem Faden zu Stunden auf, als er durch das Klingeln an der Tür aus seinen Gedanken gerissen wurde. Reflexartig überprüfte er die Uhrzeit und berechnete die Stunden, die sich seit seinem Erwachen der Vergangenheit angeschlossen hatten, doch diesmal hatte er nicht geschlafen und akzeptierte den Verlust von Zeit. Als es zum zweiten Mal läutete, lief er zur Gegensprechanlage, fragte wer da sei und betätigte den Summer.

      Augenblicke später erschien Frank. »Das man dich mal erwischt! Wo hast du bloß die letzten Tage über gesteckt?«, begrüßte er Paul.

      »Frag lieber nicht.«, antwortete der. »Komm rein.«

      Frank betrat die Wohnung des Freundes und bemerkte die Veränderungen sofort. »Was ist denn passiert?«, fragte er nach einigem Zögern. »Ist es das, wonach es aussieht?«

      »Ich weiß nicht.«, antwortete Paul. »Und bevor du weiter fragst: ja, sie ist ausgezogen. Aber wir sind noch zusammen, soviel ich weiß.«

      »Aha?«

      »Es ist so, wie ich gesagt habe.«

      »Kannst du mir das näher erklären.«, bat Frank, verständlicherweise begierig,