Thomas Arndt

Eine Geschichte über rein gar nichts


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wurde. Von seiner Position aus entstand der Eindruck, als liefen die Gleise in einem Winkel von 90° aufeinander zu. Das musste ein Irrtum, meinte er, denn eine Überschneidung im rechten Winkel kam für eine Bahnstrecke nicht in Frage! Sicherlich täuschten ihn seine Augen gerade. Das Trugbild würde sich auflösen, sobald er nah genug herangekommen war und deutlich sehen könne, was er augenblicklich nicht richtig erfassen konnte. Doch der Irrtum löste sich nicht auf, sondern bestätigte sich vielmehr als unwiderrufliche Gewissheit: die Gleise begegneten sich im rechten Winkel! Paul blieb stehen und grübelte, ob es einem Zug überhaupt gelingen könnte, an solch einer Kreuzung abzubiegen, falls das der Sinn dieser Konstruktion sein sollte. Es war unmöglich, meinte er, weil er keinerlei versteckte Hilfsmittel entdecken konnte, die ein solches Manöver möglich gemacht hätten.

      Während er die Schienenstränge verfolgte soweit es ihm seine Augen erlaubten, fragte er sich, wer so einen Unsinn gebaut hatte und vor allem warum. Noch immer konnte er nicht glauben, was er sah. Die Gleise trafen im rechten Winkel aufeinander, basta! Aber wodurch ließ sich das erklären? Paul blickte in alle Richtungen, um festzustellen, ob sich ein Zug näherte. Da er keinen sehen konnte, stieg er auf die Gleise und stellte sich in die Mitte des Kreuzes, das von ihnen gebildet wurde. Merkwürdig, dachte er. Die Schienen verliefen bis zum Horizont auf drei Seiten kerzengerade, auf der vierten verschwanden sie im Wald. Auch hier war nicht einmal die kleinste Biegung zu sehen. Wer nur hatte diese kerzengeraden Metallfäden auf die Erde gelegt, fragte er sich ratlos, erstaunt und vollends verwirrt, und betrachtete noch immer sich in alle vier Richtungen wendend die Gleise.

       Zu einer Geraden werden sie in der Ferne, dort, wo das Auge sie allmählich verliert. Und wenn sie Geraden, Striche und Linien werden, dann sind sie es schon hier. Ich kann es nur nicht sehen, weil ich genau auf dem Kreuz stehe, das in Wirklichkeit ein Punkt ist.

      Als es nichts mehr zu sehen und zu entdecken, doch umso mehr zu verstehen gab, setzte Paul, alle Gedanken beiseite schiebend, seinen Weg fort. Nun waren es nur noch wenige Schritte, die ihm vom Dorf trennten. Er lief an ein paar spielenden Kindern vorbei, die wie aus dem Nichts plötzlich aufgetaucht waren und denen er einen Ball zurückgab, der ihn fast getroffen hätte. Sie blieben stehen und musterten neugierig den Fremdling, gerade so, als hätten sie noch nie in ihrem Leben einen Menschen gesehen. Erst als er das Dorf erreicht hatte, spielten sie lärmend weiter.

      Das Dorf war merkwürdig! Im Gegensatz zu den Schienen entdeckte sich ihm der Ort so verwinkelt, wie nur irgend möglich. Zwei, allerhöchstens drei Häuser standen nebeneinander, bevor die nächste Biegung den Blick auf das folgende Haus entweder versperrte oder freigab, je nachdem, wie die Kurve verlief. Die Bauten waren allesamt recht klein, nicht eines konnte Paul entdecken, dass über ein Obergeschoss verfügte. Vielleicht waren die Erdgeschosse im Boden versunken, stellte er sich vor, und die Türen, die er sehen konnte, waren erst im Nachhinein in der oberen Etage eingebaut worden. Ein wenig belustigte ihn dieser Gedanke, der sich jedoch rasch verflüchtigte, als ihm klar wurde, dass er bisher weder eine Menschenseele gesehen, noch einen Laut vernommen hatte.

      In jedem Dorf gibt es Hunde, Katzen, Schweine, Hühner und was weiß ich, was noch alles für Viecher auf dem Land gehalten werden, dachte Paul, während er vergebens nach Anzeichen für Leben suchte. Nicht einmal Fliegen, Bienen oder andere Insekten flogen durch die Luft, keine Katze überquerte die Straße oder streckte im Schatten eines Baumes alle viere von sich, und auch kein Hund lauerte hinter einem Gartenzaun, um Paul mit seinem plötzlich losbrechenden Gekläffe einen tüchtigen Schrecken einzujagen; einzig die Häuser sagten ihm, dass hier Menschen leben mussten.

      Er ging zum nächstbesten Haus, klopfte an die Tür und trat ein, obwohl ihn niemand dazu aufgefordert hatte. Absolute Dunkelheit herrschte im Inneren, die das einfallende Licht sofort absorbierte. Die Finsternis war so undurchdringlich, dass jenseits der Schwelle rein gar nichts zu erkennen war; ihn überkam das Gefühl, in einen luftleeren Abgrund zu blicken. Auf der Suche nach einem Lichtschalter klammerte er sich am Türrahmen fest. Die freie Hand tastete die Wände ab, die kalt und glatt waren, und er wagte nicht, mehr als einen Arm dem Dunkel zu überlassen; Paul fürchtete, in den Raum hinein gesogen zu werden, sich zu verirren und nie wieder zum Licht zurückzufinden. Die Gefahr, die zweifellos im Unsichtbaren lauerte, war ihm zu groß und er schloss die Tür. Daraufhin versuchte er sein Glück in weiteren Häusern, mit dem gleichen Erfolg.

      Resigniert, auch weil es offensichtlich keine Bushaltestelle gab, nahm er den Weg wieder auf. Der Tag ging gemütlichen Schrittes dem Ende entgegen, doch beschlich ihn das Gefühl, dass diese Schritte nicht so gemütlich waren, wie er dachte. Wenn er noch vor Einbruch der Nacht zu Hause sein wollte, musste er sich angesichts der zurückzulegenden Strecke sehr beeilen. Schnell erreichte er das Ende des Dorfes und obwohl er weder wusste, wo er war, noch, in welche Richtung er lief, fühlte er, dass er nur der Straße folgen musste, um zurück in die Stadt zu gelangen.

      Die Zeit drängte wirklich, schon konnte man ahnen, wie die Dämmerung hinter dem Tageslicht lauerte. Gnadenlos würde sie sich auf den Wanderer stürzen, um ihm den Heimweg zu erschweren. Sogar die Straße schien mit der Dämmerung verbündet, schickte sie sich doch plötzlich an, einen steilen Berg zu erklimmen.

      Wo dieser Berg auf einmal herkam, fragte sich Paul verwundert. Nur kurz hatte er in die Ferne geschaut und als er seine Blicke wieder geradeaus richtete, türmte sich dieser Berg vor ihm auf, hoch wie ein Turm. Angesichts dieses Hindernisses blieb er stehen. Entmutigt und doch fasziniert sah er zum Gipfel empor. Es würde Stunden dauern, zu Fuß hinauf zu gelangen, doch zeigte sich keine Möglichkeit, den Berg zu umgehen. Paul musste ihn erklimmen, er hatte keine Wahl! Und danach, sagte er sich, hätte er einen bequemen Spaziergang vor sich, es könne dann nicht mehr weit bis zur Stadt sein.

      Kaum war er einige Meter gegangen, konnte er den Fuß des Berges schon nicht mehr sehen, als er einen letzten Blick zurück auf das Dorf warf. Schneller als erhofft kam er dem Gipfel näher und näher. Und je näher er ihm kam, desto mehr staunte er, dort oben ein Gebäude zu erblicken, dass sich, ganz allmählich aus der Unschärfe der Entfernung herausschälend, als einfacher quadratischer Bau entpuppte.

      Paul vermochte sich nicht vorzustellen, was es damit auf sich hatte. Ein einfaches Viereck, das auf einem Berg stand? Aber ja, so war es! Es war nicht zu leugnen! Man hatte tatsächlich ein Viereck aus Beton auf die Kuppe des Berges mitten über der Straße gebaut. Ein Viereck, wirklich nur ein Viereck! Vier Mauern mit einem Flachdach und, wie er erkennen konnte, mit einem Tor, das aussah wie ein Garagentor.

      Was sollte das nun wieder bedeuten? Wieso befand sich hier ein solch merkwürdiges Gebäude? Warum war es mit einem Tor verschlossen, fragte sich Paul und sann, das Viereck betrachtend, über eine Erklärung nach, die den Sinn desselben enthüllen konnte. War es eine Art Schutzbau für die Autos, die über den Gipfel fuhren, damit sie nicht bei stürmischem Wetter ins Tal geweht wurden? Oder war es ein Regen-, Sonnen-, oder Frostschutz für die Straße, damit diese nicht der Witterung ausgesetzt war? Paul fand keine vernünftige Antwort und argwöhnte, dass es eine solche womöglich nicht gab. Jedoch wurde er der Suche schnell überdrüssig und, sich der vergehenden Zeit erinnernd, beschloss er, der Sache auf den Grund zu gehen.

      Das Tor war fest verschlossen, wie Paul feststellen musste. Unschlüssig stand er davor und überlegte, was er tun sollte. Er hatte längst bemerkt, dass an eine Umgehung nicht zu denken war. Steil, schroff und voller scharfer Kanten fiel der Fels unmittelbar rechts und links neben dem Gebäude ins Tal hinab. Der bloße Gedanke an einen Versuch schien Paul wie eine konkrete Gefahr für Leib und Leben.

      Es musste einen Weg hinein geben, denn Paul konnte nicht einfach wieder umkehren. Er musste in die Stadt und zwar schnell, möglichst vor Einbruch der Dunkelheit. In der Überzeugung, einen Nebeneingang zu finden, lief er an der Wand entlang. Und schon nach wenigen Sekunden fand er eine Tür, die sich ohne Schwierigkeiten öffnen ließ und ins Innere führte.

      Eine gewaltige Halle tat sich vor seinen Augen auf! Sie besaß jedoch kein Dach, wie Paul irrtümlich angenommen hatte – die Halle war gar keine Halle. Gefesselt von der schieren Höhe der gewaltigen Mauern blickte er gen Himmel und wunderte sich, dass das Gebäude von außen wesentlich kleiner wirkte. Dann betrat er die Straße, ging ein paar Schritte und folgte ihrem Verlauf mit den Augen. Jäh blieb er stehen, als ihm gewahr wurde, dass sie nach einigen Metren abriss und sich dort