Thomas Arndt

Eine Geschichte über rein gar nichts


Скачать книгу

gemeinsam erlittener Schicksalsschläge, von denen man sich abends am warmen Herd in kalten, stillen Winternächten gruselige Geschichten erzählte.

      Und Morpheus? – dachte nicht eine einzige Minute darüber nach, was er verursacht hatte. Er war ein Gott und so verhielt er sich. Was interessierten ihn tote Menschen? Was kümmerte ihn unsagbares Leid? Das Ausmaß und die Folgen seines Handelns waren ihm doch von vornherein klar, oder etwa nicht? Das hatte ihn jedoch nicht daran gehindert, zu tun, was er schließlich getan hatte.

      Nachdem alles vorbei war, blickte er teilnahmslos auf sein Werk. Er sah die Toten, er sah die Waisen, die Witwen, die Witwer und all die anderen Trauernden, deren Schicksal in irgendeiner Weise mit den Ereignissen jener Nacht in Verbindung stand. Es berührte ihn nicht! Stattdessen wurde seine Aufmerksamkeit von einem ganz anderen Aspekt in Beschlag genommen: niemand vermutete einen Zusammenhang zwischen Schlaf, Traum und Tod. Allein aus Unkenntnis würde er nicht verantwortlich gemacht werden für ein einziges nicht mehr schlagendes Herz.

      Wie sinnlos doch all sein Handeln geworden war! Zwar gehörte er nicht zu den Göttern, die große Verehrung und Anbetung gewohnt waren, doch erinnerte er sich noch gut an die Zeiten, in denen die Menschen ihm Respekt erwiesen hatten. Damit war der Gott zufrieden, bescheiden wie er war, und behandelte sie entsprechend, wenn er sie in ihren Träume besuchte. Doch nun? Endgültig verlor er die Lust an seinem Dienst.

      Lange dachte Morpheus darüber nach, wie er in Zukunft mit den Träumen der Menschen verfahren sollte. Denn für ihn stand nun endgültig fest, dass es so wie bisher nicht weitergehen konnte. Verschiedene Möglichkeiten gingen ihm durch den Kopf, die er jedoch allesamt sofort wieder verwarf, weil sie nicht zu einer wirklichen Veränderung geführt hätten. Ganz gleich, was er getan hätte, grundlegend wäre alles beim Alten geblieben. Nichts wäre über eine Variation hinausgegangen.

      Morpheus erkannte, dass er auf der Stelle trat und zwang sich zum Umdenken. Er fragte sich nicht länger, was er tun sollte, schließlich war diese Art Imperativ eines Gottes unwürdig, vielmehr fragte er sich, was er wollte beziehungsweise was nicht. Doch ernüchtert musste er feststellen, dass er auch auf diesem Weg nur schwer vorankam. Erstaunlicherweise konnte er sich nicht darüber Rechenschaft ablegen, was er wirklich wollte.

      Die Menschen wüssten nicht mehr, dass er es war und ist, der ihnen Träume schenkt, resümierte er, folglich spielte es keine Rolle, ob er weiterhin mit ihnen träumte oder nicht. Er überlegte sogar, ob es nicht besser wäre, wenn die Menschen überhaupt nicht mehr träumten, denn nur allzu leicht wurden sie auch dann durch einen Traum in Verwirrung gestürzt, wenn sie ihn ausschließlich positiv erfahren hatten. Und warum sollte er überhaupt bis in alle Ewigkeit für die Träume der Menschen zuständig sein? Er hatte doch bereits alles erschaffen, was es zu erschaffen gab. Ungezählte Nächte hatte er in der Phantasie Schlafender verbracht. Er kannte sich in ihrem Unterbewusstsein besser aus als jeder Psychiater und verstand nicht, warum man darum so viel Aufhebens machte. Er brauche die Menschen nicht, sagte sich Morpheus und beschloss, nur noch der Schöpfer ihrer Träume zu sein, wenn ihm danach war. Ja, nur so handle er wie ein Gott!

      Die Zeit, die er nicht mehr in Träumen verbrachte, nutze er zum Schlafen. Sein Schlaf war länger, tiefer und fester als der eines Menschen. Allerdings bedeutete das nicht, das ihnen keine Träume mehr beschert wurden. Morpheus sorgte dafür, dass seine Abwesenheit nicht bemerkt wurde. Dazu bediente er sich der Hilfe von Menschen, die er manipulierte und mit beinahe göttlichen Fähigkeiten ausstattete, damit sie an seiner statt walteten und ihn gebührend vertraten; für die Auswahl sorgte der Zufall. Diesen Auserwählten erschien er selbst im Traum. Allerdings erlebten sie nicht die Art von Träumen, wie sie einem jeden bekannt sind. Unverhüllt erschien ihnen der Gott und befahl, was sie von der folgenden Nacht an zu tun hatten. In seinem Auftrag erzeugten sie nun die Träume ihrer Mitmenschen.

      Morpheus hatte seine Helfer mit einem großen Repertoire an Traumgestalten und -inhalten ausgestattet, sodass die Träumenden keinen Unterschied bemerkten. Sie verrichteten ihre Arbeit zuverlässig und erinnerten sich am nächsten Morgen in der Regel an rein gar nichts, da der Gott Sorge getragen hatte, dass sie ihren Aufgaben in einem Zustand nachkamen, der einer Bewusstlosigkeit ähnelte. Dennoch kam es hin und wieder vor, dass einer der Auserkorenen meinte, einen merkwürdigen Traum geträumt zu haben, in dem er Träume erschaffen hatte. Man erzählte es weiter, man staunte und lachte, um es schnell zu vergessen, da es ja nur ein Traum gewesen war. Wenn das geschah, entließ Morpheus den Gehilfen. Der Eindruck, es sei ein einmaliger Traum gewesen, sollte unbedingt gewahrt bleiben. Morpheus wollte verhindern, dass man ihm auf die Schliche kam, obwohl er wusste, dass dahingehend kaum Gefahr bestand.

      Träumen

      Nach dem Vorangegangenen fällt es schwer, plausibel zu erklären, warum sich Morpheus persönlich Pauls Träumen annahm, denn die einzige wahrheitsgetreue Erklärung mutet geradezu phantastisch an. Dessen ungeachtet mag sie umso glaubhafter erscheinen, führt man sich vor Augen, dass es sich bei den beteiligten Wesen nicht um Menschen handelt. Kurz und gut: seit Anbeginn der Zeit ging von Luna eine überaus starke Anziehungskraft auf Morpheus aus. Unter den Olympiern war es ein offenes Geheimnis, dass der Gott der Träume bis über beide Ohren hinaus mondsüchtig war. Als er schließlich Luna vor aller Zeit an Pauls Seite wahrnahm, konnte ihn nichts davon abbringen, zur einzigen Lichtgestalt seiner Nächte zu eilen, bevor ihre vorübergehende Körperlichkeit zwischen den Strahlen der Sonne verschwinden würde.

      Paul schloss seine Augen in den frühen Nachmittagsstunden eines hellen und warmen Sommertages. Ohne es bemerkt zu haben, war er am Ende seiner Kräfte angelangt. Die Erwartung von Tanias Stimme, als das Telefon läutete und er den Hörer nicht abzunehmen vermochte, raubte ihm noch den letzten Rest Energie, dessen schieres Vorhandensein einem Wunder glich. Als er anstatt Tania Stefan über den Anrufbeantworter vernahm, hätte jeder Zeuge dieser Szene beobachten können, wie Paul zusammensackte. Er starrte noch lange auf das Telefon und konnte seine enttäuschten und immer leerer werdenden Blicke nicht davon losreißen. Ihm schien, als wäre in ihm eine Blase geplatzt, die, eben noch mit Hoffnung gefüllt, ihren Inhalt sinnlos verspritzt hatte. Das kleine bisschen Hoffnung, das ihm geblieben war und ihm sagte, noch war nichts verloren, dieses kleine bisschen Hoffnung, an das er sich so sehr geklammert hatte, war unwiderruflich und unnütz vergeudet. Paul spürte es genau, denn er spürte nichts!

      Für einen kurzen Augenblick versagten ihm die Sinne. Durch die Blockade seiner Wahrnehmung der Welt entrückt, sah und lauschte er in eine ihm bisher unbekannte Leere (ja!, schon wieder eine Leere, schon wieder eine andere Leere, unterschieden von all ihren Vorgängerinnen; ist es nicht erstaunlich, wie viele Arten der Leere es zu geben scheint?), die weder angenehm, noch unangenehm war, von der er allerdings annahm, dass sie sich schon bald mit was auch immer füllen würde; sicherlich wäre das nichts Angenehmes, dachte er für einen Moment.

      Es dauerte nicht lange und Luna betrat die Szene. Es störte sie nicht, dass die Nacht noch auf sich warten ließ und somit ihre Zeit noch gar nicht gekommen war. Für Paul machte sie ein Ausnahme und wurde einmal mehr zum Tagwandler. Er tat ihr einfach leid, wie er so kümmerlich auf dem Boden saß, in sich zurückgezogen und nicht bemerkend, dass sie bei ihm war. Sie schloss die Fenster und zog die Vorhänge zu. Weil es dadurch aber nicht dunkel werden wollte, ließ sie ihrer rechten Hand eine ganz und gar unirdische Finsternis entströmen, vor der auch der letzte Lichtstrahl floh.

      Paul hatte längst seine Augen geschlossen. Als es vollkommen dunkel war, kroch Lunas geballt Müdigkeit nie geschlafener Nächte in seine Glieder und machte es sich dort behaglich. Paul fühlte sich schwer wie ein riesiger glatter Stein, fragte jedoch nicht nach dem Grund, dachte ebenso nicht darüber nach, wie es sein konnte, dass . . ., denn Denken war nicht mehr möglich. Außerdem war er nicht in der Lage, sich über das viel zu tiefe Schwarz zu wundern, das auf wundersame Weise durch seine geschlossenen Augen drang.

      Einen Moment noch blieb Luna an seiner Seite. Als er eingeschlafen war legte sie ihn in auf die Couch, küsste ihn sanft auf die Stirn und verließ das Zimmer. Nach geraumer Zeit erschien Morpheus. Zwar war Luna schon verschwunden, doch vermutete er, dass sie später noch einmal nach Paul sehen werde. Und in der Zwischenzeit?

      Morpheus sah den Schlafenden an und wartete auf die Traumphase,