Thomas Arndt

Eine Geschichte über rein gar nichts


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was sie im Sinn hatte, sondern bat vielmehr um Vertrauen und ein wenig Geduld. Sie müsse sich noch über einige Einzelheiten klar werden, bevor ihr Plan in die Tat umgesetzt werden könne, schließlich müsse alles zusammenpassen, Sinn machen und unverdächtig sein, wie sie umständlich und doch nichts sagend ausführte und selbstbewusst stellte sie ihrer begeisterten Freundin in Aussicht, dass Philip sogar dann mit ihr zusammenbleiben werde, sollte er je von dem Kuss erfahren. Die überglückliche Laura forderte Tania auf, zu tun und zu lassen, was sie für richtig hielt; darüber hinaus bot sie ihre volle Unterstützung an, denn natürlich werde sie alles in ihrer Macht stehende tun, um ihre eigene Dummheit wieder gutzumachen. Womöglich werde sie darauf zurückkommen, meinte Tania, aber das werde sie ihr zu gegebener Zeit mitteilen, bis dahin solle sie sich so normal wie nur irgend möglich verhalten, bestimmt wisse noch niemand von dem Kuss und das solle schließlich auch so bleiben.

      Schon das folgende Wochenende bot eine gute Gelegenheit für Tania, ihr Vorhaben anzugehen, über dessen Details sie in den vergangenen Tagen ununterbrochen nachgedacht hatte. Im Garten seiner Eltern feierte ein Mitschüler eine große Geburtstagsparty, bei der alle Beteiligten anwesend waren. Tania beabsichtigte, Philip und auch den Geküssten auf den Zahn zu fühlen und bat Laura, unbedingt Ruhe zu bewahren, mit den anderen zu feiern und zu warten, bis sie ihr sagen werde, was sie in Erfahrung gebracht, vielleicht sogar erreicht beziehungsweise unter ungünstigeren Umständen nicht erreicht habe. Nun sei es an der Zeit, ihr die zugesagte Unterstützung zu gewähren, indem sie Benjamin ablenke und von ihr fernhalte. Sie hätten sich in letzter Zeit nicht oft gesehen, sagte sie Laura, und vermute deshalb, dass er ihr nicht von der Seite weichen werde, wodurch sie die ganze Angelegenheit in Gefahr wähnte. Laura verließ sich voll und ganz auf Tania und versprach, sich um Benjamin zu kümmern.

      Mit Philips Freund hatte Tania kaum Mühe, ins Gespräch zu kommen, obwohl sie ihn nur vom Sehen kannte und nie zuvor ein Wort mit ihm gewechselt hatte. Durch geschickte Andeutungen eröffnete sie ihm, dass sie betreffs des Kusses im Bilde war. Der Geküsste schüttete ihr daraufhin sein Herz aus. Offensichtlich war er froh über die sich unverhofft bietende Gelegenheit und beteuerte tausendmal, das Geschehene niemals beabsichtigt zu haben, da Philip einer seiner besten Freunde sei und Laura nicht nur deshalb für ihn tabu war, sondern auch, weil sie ihm nicht einmal gefiel. Dennoch sei er seit diesem Tag durch seine Loyalität derart hin und her gerissen, dass er nicht wisse, ob er Philip von dem Kuss erzählen solle oder nicht. Ihm sei klar, dass Philip einerseits seine Freundin liebe und eine mögliche Beichte die Beziehung ernsthaft gefährden könnte – und er wolle ganz bestimmt nicht derjenige sein, der die beiden auseinanderbringe – andererseits habe sie ihn geküsst und er wisse nicht, ob sie nur ihn geküsst habe oder auch andere beziehungsweise ob dies noch geschehen werde, und schließlich verursachte ihm die Vorstellung, Philip könnte hintergangen werden, erhebliche Kopfschmerzen; sollte es denn unter guten Freunden nicht selbstverständlich sein, auch heikle Dinge anzusprechen? Aber wie gesagt, die Beziehung wolle er nicht gefährden und außerdem würde durch sein Geständnis ebenso die Freundschaft zu Philip auf dem Spiel stehen. Er versicherte, bisher zu niemandem ein Wort über den Kuss verloren zu haben, wollte aber nicht garantieren, dass das nicht irgendwann, vielleicht schon bald, geschehen werde.

      Er solle sich um Himmels Willen jeden seiner Schritte gut überlegen, riet Tania. Und vor allem solle er nicht so naiv sein und der Vorstellung erliegen, Philip werde glauben, er sei völlig schuldlos. Was könne er denn zu seiner Verteidigung vorbringen, wenn Philip frage, warum er beispielsweise nicht zurückgewichen sei? Zu einem Kuss gehörten immer noch zwei, erklärte Tania, und das Allerbeste in dieser Situation sei ohnehin, dafür zu sorgen, dass so etwas nicht noch einmal geschehe, doch dazu brauche sie seine Hilfe. Tania schlug vor, sich um Laura zu kümmern und mit ihr zu sprechen, um ihr in aller Deutlichkeit die Gefahren ihres impulsiven Verhaltens vor Augen zu führen; seine Aufgabe sei, Philip zu bewegen, mehr Zeit mit seiner Freundin zu verbringen, sich besser um sie zu kümmern, pünktlich bei ihren Verabredungen zu erscheinen und diese nicht zu vergessen. Er müsse aber wohlüberlegt vorgehen, Philip dürfe nicht auf die Idee kommen, dass sich mehr hinter der Sache verberge. Tania teilte ihm ihre feste Überzeugung mit, er sei all das seinem Freund schuldig. Sicher, der Kuss könne nicht rückgängig gemacht werden; aber habe er denn nicht betont, dass er nicht für eine Trennung verantwortlich sein wolle? Und wenn er ihr schon nicht aus Mitleid Laura gegenüber zu helfen gedenke, dann solle er es eben als einen Freundschaftsdienst ansehen; er mache einiges gut, was er sich mit dem empfangenen Kuss eingebrockt habe.

      Als sich der Geküsste dergestalt in die Enge getrieben sah, stimmte er prinzipiell zu. Sein Gewissen jedoch war mit diesem Plan weitaus weniger zufrieden als sein Verstand. Er solle bloß vorsichtig vorgehen, insistierte Tania noch einmal, ein falsches Wort, ein Satz zu viel und Philip könnte Verdacht schöpfen. Was auch immer er sagen und tun werde, er solle darauf achten, dass alles Sinn ergäbe.

      Tania machte sich keine Illusionen: der Geküsste würde ein Unsicherheitsfaktor bleiben, dem noch einige Kämpfe mit seinem Gewissen bevorstanden. Nun war es an der Zeit, Philip gründlich auf den Zahn zu fühlen. Sie traf ihn in einer merkwürdigen Stimmung an. Er war gereizt und misslaunig. Als sie ihn nach den Gründen fragte, antwortete er, Laura unterhalte sich schon den gesamten Abend intensiv mit Benjamin, bemerke ihn gar nicht und gehe ihm sogar aus dem Weg. Tania brach daraufhin in Lachen aus und fragte, ob er denn wirklich der Letzte sei, der nicht wisse, dass Benjamin ihr Freund sei. Daraufhin hellte sich zumindest seine Miene etwas auf, obschon ein diffuses Gefühl blieb.

      Die Gelegenheit beim Schopfe packend fragte Tania ironisch, ob er denn wirklich so eifersüchtig sei, wie es gerade den Anschein habe, wo sich doch seine Freundin lediglich mit ihrem Freund unterhalte. Das habe er nicht gewusst, antwortete er, offensichtlich bestehe kein Grund zur Eifersucht. »Aber gestört hat es dich schon, nicht wahr?«, bohrte sie weiter.

      »Na ja.«, antwortete Philip zögernd. »Es hat mir nicht unbedingt gefallen. Immerhin geht das schon den ganzen Abend so.«

      »Und was würdest du tun, wenn sie dir einen wirklichen Grund zur Eifersucht gäbe?«, fragte Tania mit Unschuldsmiene.

      »Ich weiß nicht?«, sagte er. »Woher soll ich das wissen? Was meinst du überhaupt?«

      »Also nur mal so: stell dir vor, rein theoretisch natürlich, sie küsst einen anderen. Was dann? Was würdest du tun? Wie würdest du reagieren?«

      »Oh mein Gott! Ich weiß es nicht. Das wäre absolut scheiße!«

      »Ja!«, erwiderte Tania. »Aber was würdest du machen? Hätte das Konsequenzen?«

      »Wir haben eine Abmachung.«, sagte Philip entschieden und setzte eine bedeutungsvolle Miene auf. »So was machen wir nicht. Einer kann sich auf den anderen verlassen. Was willst du überhaupt? Wieso fragst du mich das?«

      »Na . . . nur so.«, sagte Tania und hatte verstanden, was er nicht aussprechen wollte. »Es interessiert mich eben, wo wir doch beim Thema sind.«, fuhr sie fort. »Übrigens: mir würde es auch nicht gefallen, wenn Benjamin eine andere küsst. Und weißt du was? Ich glaube, für mich wäre das so schlimm, dass ich mich von ihm trennen würde. Ich könnte ihm nicht mehr vertrauen. Magst du noch Bier?«

      »Klar mag ich noch Bier. Danke. Würde mich wahrscheinlich auch von ihr trennen, wenn sie so was macht und ich es erfahre. Das ist schon scheiße!«

      »Ja ja, das ist es. Aber mach dir keine Sorgen, jetzt wo du weißt, dass sie sich mit meinem Freund unterhält. Da passiert schon nichts.«, sagte sie lachend und fügte hinzu, dass sie gerne ein Stück laufen wolle, nur ein paar Meter. Hinter dem Garten sei ein kleiner Weg und sie könnten ihre Flaschen mitnehmen, danach werde sie sich um Benjamin kümmern und er hätte Laura ganz für sich alleine.

      So entfernten sie sich von ihren Freunden, die ihnen einige anzügliche Sprüche hinterher riefen. Misstrauisch sah Benjamin Tania gehen und wurde nur durch Laura beruhigt, von der er wusste, dass sie die Freundin desjenigen war, mit dem Tania gerade die kleine hintere Gartentür passierte. Tania ihrerseits hoffte auf eine Eingebung, mit der sie das dünne Seil der Beziehung ihrer Freundin in ein Stahlseil verwandeln konnte, denn ihr war klar, dass der Kuss auf die Lippen eines anderen die Klinge war, die dieses Seil ohne Weiteres zerschneiden konnte.

      Langsam laufend