zu reden. All die negativen Dinge, die er eben noch über sie gedacht hatte und die durchaus im Bereich des Möglichen lagen, spielten schon keine Rolle mehr. Er bemerkte, wie die Sehnsucht an ihm hinauf kroch. Durch Mund und Nase würde sie in sein Inneres gelangen, würde sich einen Weg direkt zu seinem Herzen bahnen, würde hinein beißen, würde es zerfetzen und es sich in den Überresten gemütlich machen.
Paul starrte auf sein Handy. Es war idiotisch, sie anzurufen. »Was soll ich ihr sagen? Was fragen?«, stammelte er unruhig. Doch auf diese Fragen fand er keine Antworten. Er kam sich lächerlich vor. Sie würde nicht abnehmen, wenn sie seine Nummer sah, dachte er, und falls doch, werde sie nur wiederholen, was sie ihm bereits gesagt hatte und auflegen. Vielleicht würde sie sogar böse werden. Die Tania, die er kannte, war eine andere gewesen, als die, die er gerade kennengelernt hatte; ihr einst klares Bild verschwamm vor seinen Augen. Ihn verließ der Mut. Er sackte zusammen, ließ das Handy aus den Fingern gleiten und starrte ins Nichts.
In dieser Weise wechselten sich Verlangen und Unentschlossenheit einige Male ab. Doch nicht nur wuchs das Bedürfnis, ihre Stimme zu hören, sondern auch die Kraft, tatsächlich einen Versuch zu wagen. Alle Gründe, die gegen einen Anruf sprachen, wurden mehr und mehr verdrängt, und als er endlich soweit war, erneut das Handy in der Hand hielt und nur noch wählen musste, begann es zu läuten. Er starrte auf das Display – doch es blieb schwarz.
Festnetz und Tania, schoss ihm durch den Kopf. Sie meldete sich also wirklich! Und obwohl endlich der Moment gekommen war, auf den er solange gewartet hatte, zögerte er, den Anruf entgegenzunehmen. Wie versteinert stand er mitten im Zimmer, starrte auf das klingelnde Telefon und war kurz davor, sich die Gelegenheit entgehen zu lassen. Was hätte sie zu sagen, fragte er sich. Könnte sie nicht anrufen, um einen Schlussstrich zu ziehen? Das würde sie nicht am Telefon tun, meinte er, hielt es aber für unwahrscheinlich, dass sie ihm mitteilte, alles sei wieder in Ordnung. Im Grunde genommen konnte es sich nur um einen Kontrollanruf handeln. Eine Pflichterfüllung derart, wie man jemanden nach dem Befinden fragt, von dem man weiß, wie es ihm geht oder es sich zumindest ausmalen kann. Er nahm an, dass sie nicht miteinander darüber sprechen würden, worüber sie dringend sprechen müssten. Er würde sich genötigt fühlen, so zu tun, als gehe es ihm gut, als würde er mit der Situation zurechtkommen. Er würde vortäuschen, über ihren Anruf überrascht und erfreut zu sein, wie man es ist, wenn sich ein Bekannter nach langer Zeit wieder einmal meldet. Er jedoch wollte mit ihr über das Geschehene sprechen, über die Gründe des Auszugs und darüber, was nun werden sollte.
All dies fuhr ihm innerhalb weniger Sekunden durch den Kopf. Es war wie ein Blitz, der in seinem Gehirn einschlug und nichts als Chaos stiftete, der alles versengte und verbrannte, der alles mit sich riss, was ihm in die Quere kam – seine Gedanken.
Pauls Kopf war leer, sein Körper starr, sodass nicht daran zu denken war, den Hörer abzunehmen. Nach einer kurzen Weile schaltete sich der Anrufbeantworter ein. Paul hatte nicht daran gedacht, hatte ihn regelrecht vergessen und nun verschlug es ihm in Erwartung ihrer Stimme den Atem. Als er dann die Worte hörte »He, was ist? Warum gehst du nicht ran, bist du wirklich nicht zu Hause? Nun nimm schon ab . . . «, erkannte er die Stimme nicht. Das war nicht Tania, soviel stand fest, es war eine Männerstimme. Er solle sich gefälligst einmal melden, schließlich seien Semesterferien, gab der Anrufer noch von sich, dann legte er auf und es wurde still. Paul setzte sich auf den Boden und begann wieder zu atmen, ganz langsam und zaghaft, so als erwache er aus einem Alptraum und begreife, dass er nur geträumt hatte. Doch es war kein Traum. Nicht Tanias Stimme hatte er vernommen, sondern die seines Freundes Stefan. Die falsche Stimme und Ferien, dachte Paul. Es sind ja Ferien. Wie schön! Zurückrufen wollte er aber nicht.
Paul war am Ende. In seinen Gliedern fühlte er eine große Müdigkeit aufsteigen. Samtweich und warm breitete sie sich aus. Er empfand ein längst vergessenes wohliges Gefühl und ihm wurde klar, dass er seit Tagen kaum ein Auge zugetan hatte. Durchwachte Nächte, durchwachte Tage – wie viel Kraft musste ihm das gekostet haben? Doch Luna hatte ihn nicht vergessen, auf sie war Verlass und nun kam sie, sang ihm ein Wiegenlied, deckte ihn zu und schenkte ihm Stunden der Ruhe, in denen er nicht denken und empfinden musste; so unsagbar süße Stunden des Vergessens.
Ferien, dachte Paul noch einmal. Zeit, um endlich auszuschlafen. Dann schlossen sich seine Augen und blickten ins Dunkel und nur sein Körper blieb in der Welt zurück. Er fiel in einen Schlaf, der ganz und gar kein gewöhnlicher war. Nicht genug, dass Luna über ihn wachte, sorgte fortan Morpheus dafür, dass Paul, während er ruhte, all das nachholte, wozu er in den letzten Tagen nicht in der Lage gewesen war. Der Gott der Träume bewirkte, dass sich Paul träumerisch mit seiner Situation auseinandersetzte. Er ließ Seele und Geist des Gemarterten zur Ruhe kommen, wodurch die Lethargie, der Schmerz und die Sehnsucht, die sich in seinem Herzen festgebissen hatten, in ihrer lähmenden und destruktiven Wirkung ein wenig abnahmen. Auch Pauls Körper erholte sich, selbst wenn das nicht mehr als ein angenehmer Nebeneffekt war.
Zwanzig Jahre
Zwanzig Jahre!
Zwanzig Jahre schon lebte Tania in dieser Stadt. Hier wurde sie geboren, hier verbrachte sie Kindheit und Jugend und nun besucht sie hier die Universität. Hier lebt sie mit ihren Eltern, deren einziges Kind sie ist. Ebenso leben in dieser Stadt ihre Großeltern. Hier leben ihre Tanten und Onkel, ihre Cousinen und Cousins und beinahe alle entfernteren Verwandten. Hier starben und liegen begraben ihre Urgroßeltern, deren Eltern sowie zahllose weitere Vorfahren. Hier würden sterben und einst begraben liegen auch ihre Großeltern, Eltern und vermutlich die restliche Familie. Schon seit frühester Kindheit gab es für sie keinen anderen Ort auf der Welt, an dem zu leben sie sich vorzustellen vermochte. Ihr ganzes Leben spielte sich in dieser Stadt ab (unterbrochen nur von Urlaub), die ihre Familie vor Generationen in ihrem Schoß aufgenommen und nicht mehr hergegeben hatte.
Geboren wurde Tania in der Deutschen Demokratischen Republik, wenige Jahre vor der Wende; sie war viel zu jung, um den real existierenden Sozialismus bewusst erlebt zu haben. Viel bedeutender als die Wende war für sie, dass sie in dieser Zeit das Alter erreichte, in dem für gewöhnlich Kinder in den Kindergarten gesteckt wurden.
Der erste Tag in dieser Institution war ein Schock für das kleine Mädchen, das nicht in der Kinderkrippe gewesen war. Als Einzelkind und auch weil in ihrer Verwandtschaft und Nachbarschaft gleichaltrige Spielkameraden fehlten, war sie im Umgang mit anderen Kindern sowie generell mit nicht zur Familie gehörenden Menschen kaum geübt. Was sollte sie also davon halten, von einem Tag auf den anderen von der eigenen Mutter irgendwohin gebracht zu werden, wo eine Meute schreiender Kinder herumtobte, eine dicke, freundlich dreinblickende Erzieherin das als Spielen bezeichnete und der Mutter versicherte, es werde der Kleinen schon gefallen? Tania sagte zu alldem nicht ein einziges Wort, jedoch nicht, weil es nichts zu sagen gab, sondern weil sie eingeschüchtert war von dem fremden Ort und der Aussicht, allein zurückgelassen zu werden, dass es ihr schlichtweg die Sprache verschlug. Sie war entsetzt über das hier vor sich Gehende und konnte nicht verstehen, warum die Mutter ihr das antat. An diesem Tag und im zarten Alter von drei Jahren fühlte sie sich zum ersten Mal verraten und im Stich gelassen – wenn man ihre Empfindungen in die Sprache der Erwachsenen überträgt – und diese Eindrücke brannten sich tief in ihr ein.
Als Tania nach sechs endlosen Stunden von ihrer Mutter abgeholt wurde, lobte die dicke Erzieherin das brave Mädchen in den höchsten Tönen. Ganz artig habe sie getan, was von ihr verlangt wurde. Sie habe ordentlich ihren Kartoffelbrei mit Sauerkraut und einer Scheibe Jägerschnitzel gegessen und auch von der Schale Rote Beete sei nichts übrig geblieben. Außerdem habe sie schön gespielt, sei lieb, ruhig und unauffällig gewesen. Sie musste sich sogar einige Male vergewissern, ob Tania überhaupt noch da war, und geschlafen habe sie nach dem Mittagessen wie ein kleines Engelchen. Ja!, von solchen Kindern wünsche sie sich mehr, versicherte sie der stolzen Mutter, und fügte an Tania gewandt hinzu, sich zu freuen, sie am kommenden Tag wiederzusehen.
Tania hörte der dicken Frau zu, ohne sie auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen. Sie wusste es besser und wollte sich nicht verraten: kaum hatte ihre Mutter den Kindergarten verlassen, dachte sie bereits daran, Jacke und Schuhe anzuziehen – denn sie konnte sich bereits ohne fremde Hilfe die Schnürsenkel binden