Thomas Arndt

Eine Geschichte über rein gar nichts


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Zeit in getrennten Betten und Zimmern ihre Nächte verbrachten. Der Vater habe eine ehemalige Abstellkammer ausgebaut, ein Bett und einen Fernsehapparat gekauft und dort aufgestellt. Sie nahmen die Mahlzeiten nicht mehr gemeinsam ein, die einst den Tagesrhythmus bestimmt hatten und neben anderen Ritualen und Aktivitäten die Familie miteinander verbanden. Das war bereits vor einigen Wochen geschehen und wie die Schwester erklärte, funktionierte das sich aus dem Weg gehen anfangs leidlich gut, doch mittlerweile ließ die Wirkung nach und beide wären schon genervt, wenn sie sich zufällig im Haus über den Weg liefen.

      Für Paul war es nicht ungewohnt, durch seine Schwester von den Problemen der Eltern zu erfahren. Diesmal aber verwandelten sich ihre Nachrichten in Sturmwolken, die sich über ihm mit dem bereits tobenden Orkan vereinigten. Nur mit Mühe gelang es ihm unter Zuhilfenahme all seiner Kräfte, sich lächelnd von seiner Familie zu verabschieden. Tatsächlich taten Mutter und Vater dies getrennt voneinander.

      Wenig später saß er im Zug und nutzte die Gelegenheit, sich in seinen Gedanken zu verbarrikadieren. Unvermittelt wurde ihm klar, dass ihm niemals zuvor in seinem Leben innerhalb kürzester Zeit so viele merkwürdige Geschehnisse widerfahren waren. Er rief sich Tanias Auszug vor Augen, erinnerte sich an die Geschichte, die ihm Frank über seine Beziehung zu Lisa erzählt hatte, und er dachte an seine Eltern, die gerade die schwerste Krise ihrer Ehe durchmachten. Paul beschlich das Gefühl, als würden alle denkbaren Katastrophen nur auf ihn hernieder prasseln.

      Was käme als Nächstes, fragte er sich und fand einige Antworten: allein könne er auf Dauer die Miete nicht aufbringen; entweder stand ein Umzug bevor (den er nicht wollte), oder er müsse arbeiten, um die Wohnung wenigstens vorübergehend finanzieren zu können; dadurch aber drohte sein Studium in Verzug zu geraten.

      Angestrengt dachte er darüber nach, wie er aus dem ganzen Schlamassel herauskommen könnte. Doch allenthalben stieß er auf Hindernisse, dergestalt, dass ihm klar wurde, nicht alleiniger Herr seiner Lage zu sein. Er war auf die Hilfe anderer angewiesen beziehungsweise darauf, dass niemand ihm Steine in den Weg legte.

      Plötzlich kam ihm der Gedanke, dass er nicht ohne warnende Anzeichen in diese Situation hineingeraten sein konnte. Binnen Sekunden wurde ihm diese Überlegung zur Gewissheit. Er fühlte sich beschämt, kam sich wie ein Idiot vor, der blind und taub durchs Leben stapft. Im Geiste schalt er sich ein Narr zu sein, ein Esel, ein Tor und dergleichen mehr. Doch in einer ruhigeren Minute sagte er sich, dass er sich erst einmal überzeugen müsse, gewisse Entwicklungen übersehen zu haben, bevor er über sich urteile.

      Wieder in seiner Wohnung angekommen, stieg er aus psychischer Perspektive betrachtet viele Stufen in ein tiefes Tal hinab, das sich fernab seines bisherigen Lebens befand. Instinktiv wusste er, dass es da war, und auch ereilte ihn von Zeit zu Zeit die unangenehme Ahnung, dass es auf ihn warte und er eines Tages den beschwerlichen Weg auf sich nehmen müsse, um dorthin zu gelangen. Ohne je darüber nachgedacht zu haben, welchem Zweck dieses Tal dienen könnte, betrat er den Weg, der ihn, nun plötzlich sichtbar vor ihm liegend, ins Unbekannte führte. Schritt für Schritt sich seiner bisherigen Welt entfernend, verlor er den sicheren Halt, den er in ihr gehabt zu haben glaubte. Schritt für Schritt der Talsohle näher kommend, erwies sich dieser Halt immer mehr als Illusion, für die es nie eine überzeugende Begründung gegeben hatte.

      Paul zögerte einen Moment angesichts dieser Erkenntnis. Er musste damit rechnen, am Ziel seines Weges keinen festen Boden unter den Füßen vorzufinden. Der Gedanke, losgelöst und fernab jeglicher fester Punkte sich nur noch an sich selbst klammern zu können, ängstigte ihn, und schon war er im Begriff umzukehren. Er ließ seine Blicke dem zurückgelegten Weg folgen. Zu seinem Erstaunen und gleichzeitigem Entsetzen führte der zwar in seine Welt zurück, doch zeigte sich diese ihm schon jetzt nicht mehr so, wie er sie gesehen und begriffen hatte und wie sie sich in seiner Erinnerung darstellte. Paul begriff, dass die Welt, in der er so lange gelebt hatte, für immer verloren war. Allein der Versuch zurückzukehren machte keinen Sinn. Wehmütig nahm er den Weg wieder auf und stieg weiter in das Tal hinab, geradewegs in die unendliche Einsamkeit seiner Gedanken, dorthin, wohin ein jeder sich zurückzieht, der ehrlich sucht und verstehen will.

      Die Einsamkeit der Gedanken

      Niemand begibt sich aus freien Stücken in die Einsamkeit der Gedanken. Es ist wahrlich nicht angenehm dort; es ist ein Ort des Schmerzes, der Kälte, des Verlassenseins. Hier ist der Sitz des Gerichts, das Anklage gegen die eigene Person erhebt, keinerlei Verteidigung anerkennt, erbarmungslos alle Fakten offenlegt und am Ende ein mitleidloses Urteil sprechen wird. In der Einsamkeit der Gedanken wohnt schonungslose Selbsterkenntnis. Und wie jeder Mensch, der einigermaßen bei Verstande ist und dem seine Schwächen klar vor Augen liegen, fürchtete Paul, von sich selbst seines bisherigen Lebens wegen angeklagt zu werden. Doch der Prozess hatte bereits begonnen.

      Von Anfang an hatten die meisten seiner Freunde ihm von Tania abgeraten. Sie taten das in teils verletzender und beleidigender Deutlichkeit, die Paul nicht verstand und die ihm vollkommen unangebracht schien. Zwar erreichten sie anfangs dadurch, dass er insgeheim ihre Zweifel ernst nahm, mehr noch brachten sie ihn aber gegen sich auf.

      In dem Maße, in dem seine Liebe wuchs, verloren alle Einwände und Bedenken jegliches Gewicht. Er ertrug sie mit der geduldigen Ungeduld des Verliebten, der nichts Hässliches mehr sehen kann. Paul war es leid, vor seinen Freunden seine Beziehung und seine Freundin rechtfertigen zu müssen. Selbst wenn ihre harsche Kritik berechtigt sein sollte – was er keineswegs glaubte –, mangelte es dieser an Respekt gegenüber einem Freund. Außerdem mischten sie sich nach seinem Dafürhalten viel zu sehr in seine Angelegenheiten ein.

      Paul war sicher, dass sich seine Freunde in Tania täuschten, und diese Haltung entsprang keiner Trotzreaktion. Er bildete sich ein, sie nach nur wenigen Tagen wirklich zu kennen, während er seinen Freunden vorwarf, sich voreilig eine negative Meinung über sie gebildet zu haben. Er verzieh ihnen dennoch in der festen Überzeugung, sie würden ihrer Irrtümer später gewahr werden, obgleich er guten Grund gehabt hätte, ihnen längere Zeit zu zürnen. Glücklicherweise verlor sich das Thema nach und nach, bis es von niemandem mehr zur Sprache gebracht wurde.

      Wie alle von Liebe entflammten wähnte sich Paul im Recht, Tania konnte nur so sein, wie er sie sah. Es war ihm nicht möglich, die Perspektive seiner Freunde einzunehmen. Die Gründe ihrer Ablehnung blieben ihm verborgen.

      Pauls Freunden missfiel an Tania, dass sie sich offenbar nicht für sie interessierte. Es war ganz und gar unmöglich, sie im Freundeskreis zu integrieren. Selbst diejenigen, die ihr offen, neugierig und freundlich entgegentraten, brüskierte sie mit einer derartigen Zurückhaltung, die nur auf den ersten flüchtigen Blick an Schüchternheit erinnerte, schon bald verträumt und weltfremd erschien, sich anschließend als gesellschaftsunfähig bewerten ließ, und sich zu guter Letzt als pure Ignoranz entpuppte. Dafür gab es nur eine Erklärung: Tania verabscheute seine Freunde.

      Als Paul ihr Frank vorstellte und als seinen besten Freund bezeichnete, genügte ihr ein einziger Blick, um alle seine Freunde abzulehnen. Während es Paul zu Beginn ihrer Beziehung (als Tanias Ruf in der Clique noch nicht ruiniert war) nicht schnell genug gehen konnte, sie in seinem Freundeskreis einzuführen, wurde Tania das Gefühl nicht los, in Gesellschaft dieser Menschen nur ihre Zeit zu verschwenden. Sie hielt sie für langweilig und oberflächlich. Schon bald erfand sie allerlei Ausflüchte, um sich die Abende mit ihnen zu ersparen. Eines Tages erklärte sie Paul rundheraus, dass sie nicht länger willens sei, gemeinsame Aktivitäten mit Lisa, Frank oder wem auch immer zu unternehmen, auf eine Begründung dafür bestand er vergebens. So unbewusst wie unmerklich begann Paul daraufhin, seine Freundschaften zu vernachlässigen. Seltsamerweise war es aber Tania, die ihn geradezu zwang, sich auch ohne sie mit seinen Freunden zu treffen. Im Grunde genommen war es offensichtlich gewesen: die gegenseitige Antipathie zwischen ihr und der Clique.

      Die Tragweite dieses Problems hatte Paul nie erkannt, ja nicht einmal geahnt. Tania und seine Freunde waren ihm wichtig. Da er jedoch nicht imstande war, beide Seiten miteinander zu verbinden, gab er seiner Freundin aus verständlichen Gründen den Vorzug.

      Tatsächlich störte es ihn vorerst nicht, dass er durch Tania weniger Zeit mit seinen Freunden verbrachte. In seiner blinden Verliebtheit