Thomas Arndt

Eine Geschichte über rein gar nichts


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um die Ehe zu einem Spießrutenlauf für ihren Mann werden zu lassen und durch deren Einsatz sie dutzende Ehemänner hätte in die Flucht schlagen können.

      Allein dem Großvater war es zu verdanken, dass ihr Bund viele Jahre Bestand hatte. Liebevoll kümmerte er sich um seine von der Mutter ungeliebte Tochter und ebenso um seine Enkeltochter, der es nicht gelang, großmütterliche Gefühle zu wecken. Als schließlich Paul das Licht der Welt erblickte, glimmte noch einmal ein starker, aber, wie sich herausstellen sollte, kurzlebiger Funken Hoffnung in ihm auf. Verwundert registrierte nicht nur er, sondern die gesamte Familie, mit wie viel wahrer Liebe und Fürsorge die Großmutter ihren Enkel bedachte. Der Großvater meinte darin ein Zeichen zu sehen, dass ihm sagte, nun endlich wären die schlimmen Jahre vorüber, nun endlich sei die Großmutter wieder zu der Frau geworden, die sie zu Beginn ihrer Ehe gewesen war und die er einmal geliebt hatte; dass er sich jedoch irrte, daran bestand schon bald keinerlei Zweifel mehr.

      Dennoch schien es, als sei mit Pauls Geburt der Großmutter sozusagen ein guter Geist geboren worden. Hatte sie sich zuvor ausschließlich um ihre eigenen Belange gekümmert und den Rest der Familie wenn nicht tyrannisiert, so doch wenigstens durch ihre abweisende und überhebliche Art das Gefühl vermittelt, Dummköpfe und Ignoranten zu sein, so sprudelte nun ihre Energie, die sich wie ein Geysir einen Weg bahnte, allein in Richtung des Enkels. Der Erlöser der Familie war erschienen, der durch ihre Hilfe in die Lage versetzt werden sollte, die barbarische Sippe in bessere Zeiten zu führen.

      Die Familienmitglieder staunten nicht wenig über die merkwürdigen Launen der alternden Matriarchin, bis sich herausstellte, dass es keine Launen waren, sondern Überzeugungen. In immer stärkerem Maße bemächtigte sie sich des kleinen Jungen, um aus ihm einen Dichter, einen Schauspieler, einen Maler oder Bildhauer zu machen; er sollte ein – wie sie sagte – musisch gebildeter und sensibler Mann werden. Ihre Eingenommenheit für ihn stand in keinem Verhältnis zu der weiterhin wachsenden Abneigung gegen den Rest der Familie. Ihrem Ehemann machte sie wiederholt schwere Vorwürfe, weil er es nicht verstanden habe, die leichteste Sache der Welt zu vollbringen, nämlich einen Sohn zu zeugen. Dass das kein allzu schwieriges Unterfangen sein könne, erkenne man schon daran, dass es selbst ihrem Schwiegersohn geglückt sei, wenngleich sie es für sein Meisterstück hielt und meinte, es müsse ihm viel Mühe gekostet haben. Sticheleien solcher Art waren es, die dem Großvater klar machten, was ihm gründlich, doch ohne wirkliche Schuld misslungen war und warum seine Frau ihn verachtete. All seine zahllosen verzweifelten Anläufe, mit ihr zu reden und sie aus diesem Irrglauben zu befreien, schlugen jedoch fehl. Je mehr er sie drängte, ihn anzuhören, desto schneller verwandelte sich ihre Verachtung in Verabscheuung, Ekel und Hass. Trotz allem blieb der Großvater noch einige Jahre bei seiner Familie, obwohl er wusste, dass es keine Aussicht auf Versöhnung gab. Es sollten die bittersten Jahre seines Lebens werden.

      Paul wuchs heran und spürte kraft des untrüglichen Instinkts eines Kindes, dass seine Großmutter, die er sehr mochte, ihn anders behandelte als alle anderen und dass im Gegenzug der Oma mit Vorsicht begegnet wurde. Der kleine Paul konnte sich das nicht erklären und niemand, den er je danach gefragt hatte, gab ihm eine zufriedenstellende Antwort. So verbrachte er eine glückliche Kindheit im Schoße der Familie. Selbst die Großmutter, die ihn zu vereinnahmen suchte so stark es nur ging, spielte ihren Enkel nicht gegen die Familie aus, und so verurteilens- und beklagenswert ihr Verhalten auch oftmals war, sobald es um Paul ging, war sie nicht wiederzuerkennen.

      Bevor der Großvater eines Tages die Familie verließ, ging er seiner Frau so weit wie möglich aus dem Weg. Jahrelang kam er nur nach Hause, um nach seiner Tochter und seinen Enkeln zu sehen. Die Trennung von ihnen brach ihm zwar das Herz, doch der unerträglich gewordenen Großmutter hätte er andernfalls irgendwann etwas angetan. Das aber hätte er sich niemals verziehen, jedoch nicht, weil sie es nicht verdient hätte, sondern weil er schlicht der felsenfesten Überzeugung war, dass man keinem Menschen Gewalt antun darf. So gab er nach und richtete sich in seinem Büro im mittlerweile staatseigenem Betrieb illegal häuslich ein, wurde aber von seinen Vorgesetzten und Kollegen geduldet, die dunkel ahnten, in welch prekärer Lage er sich befand. Die Großmutter indes, als sie sich der bevorzugten Zielscheibe ihrer Feindseligkeiten beraubt sah, verschoss ihre Giftpfeile vermehrt auf Tochter und Schwiegersohn. Sie konkretisierte ihre Meinung über den nichtsnutzigen Tölpel und stellte fest, dass dieser unfähige Mensch unmöglich Paul gezeugt haben konnte. Um einen Knaben zu zeugen, brauche es mehr als schlaffe Lenden, dünne, blasse Waden, einen Bauchansatz und eine sich ausbreitende Wüste auf dem Kopf, wie sie nicht oft genug wiederholen konnte. Wahrscheinlich habe Paul einen anderen biologischen Vater, behauptete sie und bestritt fortan vehement jede Ähnlichkeit zwischen Vater und Sohn.

      Solche und in ähnliche Richtung weißende Äußerungen konnte Pauls Mutter unter keinen Umständen hinnehmen. Zum ersten Mal setzte sich sie mit allen Mitteln gegen die Mutter zur Wehr und gab ihre Strategie der Verteidigung zugunsten des Angriffs auf. Die ihr vorgeworfene Untreue sprengte endgültig den Rahmen des Erträglichen. Und so kämpfte sie mit ihrer Mutter in gar nicht so übertragenem Sinne bis aufs Blut, sodass ihr Mann sie davon abhalten musste, mit Porzellantassen nach der Großmutter zu werfen, als diese wieder einmal eine ihrer absurden Theorien kundtat.

      Während die Frauen miteinander kämpften, versuchte Pauls Vater zu vermitteln. Seine Bemühungen jedoch, seine Frau zu beschwichtigen und seine Schwiegermutter gütlich zu stimmen, konnten nur fehlschlagen. Seine Gattin verlangte nämlich nichts anderes, als dass er bedingungslos zu ihr stand und sie nach Kräften unterstützte. Die Großmutter ihrerseits hatte sich längst in ihrer Meinung über ihn verschanzt und sprach ihm jegliches Mitspracherecht ab. Aus dieser unglückseligen Konstellation gab es kein Entrinnen. Verbunden in einem Kampf, der beide Frauen mehr und mehr vereinnahmte, isolierte dessen Logik jegliche Einflüsse, die nicht zu ihm gehörten.

      Verwundert stellte Pauls Vater eines Tages fest, dass er in etwa zwanzig Jahren das Alter erreichte, in dem sein Schwiegervater die Familie verlassen hatte. Dann wäre die Reihe an ihm, er würde es ihm gleichtun.

      Desillusioniert hinsichtlich seines Schicksals betrachtete er an diesem Tag auf der Gartenbank sitzend das Haus mit gleichmütigem Blick. Benebelt vom Rauch des feuchten Herbstlaubs des vergangenen Jahres, das er gerade verbrannte, sah er durch die dicken Rauchschwaden wie drinnen der Kampf tobte. Die Schreie, die er zwar nicht hören konnte, doch an den weit aufgerissenen Mündern und den wütenden Gesichtern der Kriegerinnen erkannte, waren ihm längst nur allzu vertraut. Doch etwas anderes fesselte seine Aufmerksamkeit: unentwegt warfen die Frauen prüfende Blicke zu einer bestimmten Stelle im Raum, die er nicht einsehen konnte. Und noch während er sich fragte, was da wohl sein mochte, traten die Rivalinnen je näher an sich heran, je hitziger der Kampf wurde und als nur noch wenige Zentimeter zwischen ihnen lagen, sah er seine Tochter auf der Seite der Mutter kämpfen; sie war noch nicht einmal acht Jahre alt.

      Ohne die geringste Gefühlsregung angesichts eines Krieges, der auch vor Kindern nicht halt machte, wurde Pauls Vater bewusst, dass es in diesem Hause solange keinen Frieden gäbe, wie Mutter und Tochter gemeinsam darin lebten. Dennoch machte er sich nichts vor. Keine von beiden würde je lebend das Haus verlassen. Obschon den Frauen klar war, dass sie etwas in Gang gesetzt hatten, dem sie sich nicht entziehen konnten, dass sie einander bekämpften, nur um weiter kämpfen zu können, waren sie nicht im Stande, diesen Krieg zu beenden, sondern versuchten nicht einmal, das Mädchen aus den Gefechten und Grabenkämpfen herauszuhalten.

      Zwanzig Jahre noch!, sagte sich Pauls Vater, dann könne er endlich gehen. Seine Kinder wären sechsundzwanzig und achtundzwanzig Jahre alt, vielleicht hätten sie selbst schon Kinder, bestimmt aber würden sie auf eigenen Beinen stehen. Ja!, wenn er in zwanzig Jahren die Familie verließe, wäre es wie damals, als der Großvater ging. Im Lichte dieser Gedanken und nach wie vor benebelt vom Rauch des nassen Laubs stellte er sich vor, wie er bis dahin langsam aus der Familie scheiden werde. Er führte sich die Rückzugsstrategie seines Schwiegervaters vor Augen. Wie sich gezeigt hatte, fand er Mittel und Wege, sich jeweils an den Geburtstagen seiner Enkel, seiner Tochter und seines Schwiegersohns sowie an Feiertagen bei ihnen zu melden und sie sogar manchmal zu sehen, sodass eine gewisse Beziehung bis zum heutigen Tag aufrecht gehalten werden konnte.

      Sich weiterhin in der Zukunft betrachtend, stellte Pauls Vater zu seiner Genugtuung fest, dass er immer seltener in der Schusslinie stünde,