Thomas Arndt

Eine Geschichte über rein gar nichts


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Paul war begeistert, als er bemerkte, dass sie nicht über einen allzu großen Freundeskreis verfügte, obwohl er sich das nie erklären konnte. Sie unternahm außerdem nicht den geringsten Versuch, ihn in ihre Familie einzuführen. Sie lege keinen Wert darauf, erklärte sie ihm eines Tages, als sich ihr Geburtstag näherte und sie es ablehnte, ihn bei dieser Gelegenheit vorzustellen. Paul konnte das nur recht sein. Schließlich war er auf nichts weniger erpicht, als auf langweilige Familienfeiern fremder Familien. Er musste Tania mit kaum jemandem teilen; sie selbst sorgte dafür, dass sein Freundeskreis sie sich nicht einverleibte und die kühle Distanz, mit der sie seiner Familie begegnete, ließ nur wenige gemeinsame Besuche zu.

      Wehmütig dachte Paul an diese Zeit zurück. Wie sehr hatte er sie genossen; doch wie sehr hatte er alles missverstanden! Er begriff, dass er sich etwas vorgemacht hatte, als er meinte, Tanias zweifellos starke Neigung zur Zurückgezogenheit mit seiner Anwesenheit ausgleichen zu können, ihr entgegenwirken zu können, in der vollkommen unbegründeten Annahme, dass sie genau das wollte. Er rief sich eine der vielen Situationen ins Gedächtnis, in der er ihr zuliebe auf eine Unternehmung verzichten wollte. Er sah ihr Bild vor Augen, ihre Gesten, er vernahm ihre Worte. Obwohl er wusste, dass Erinnerungen das Vergangene nie so wiedergeben, wie es wirklich geschehen ist, erkannte er etwas Grundsätzliches. Er sah Tania und sich; er wollte bei ihr bleiben, während sie wünschte, dass er geht!

      Diese willkürlich ausgewählte Situation verglich er mit weiteren Erinnerungen. Die gerade gewonnene Erkenntnis ließ sich problemlos übertragen. Und Tania als ein Geschenk des Himmels, als ein der Einsamkeit frönender Engel, dessen Weltschmerz – den er sich eingebildet hatte – nur er allein erträglicher machen konnte, verwandelte sich unter dem Verlust alles ihr einst anhaftenden Sakralen in etwas Merkwürdiges, das Paul unverständlich war, obwohl es sehr menschliche Züge trug.

      Noch einmal tauchte er in seine Erinnerungen. Wieder stand er Tania gegenüber. Verständnislos schüttelte sie mit dem Kopf und sagte, er solle ganz unbesorgt gehen und sie ein Weilchen allein lassen. Was auch immer er jemals über sie gedacht hatte, was auch immer er gefühlt und empfunden hatte, das alles war falsch und wenn nicht ganz falsch, so doch zumindest verzerrt, sagte er sich und schlug die Hände vor seinem Gesicht zusammen.

      In der Vorstellung gefangen, nichts verstanden zu haben, drehten sich seine Gedanken im Kreis. Unzählige auf ihn einstürzende Eindrücke blockierten seinen Verstand, bis das Chaos schließlich in der Frage mündete, ob Tania ihm jemals gesagt habe, dass sie ihn liebe. Er wusste es nicht mehr. Er konnte keine sichere Antwort finden. Unsystematisch durchwühlte er sein Gedächtnis in der Hoffnung, diese Frage positiv beantworten zu können. So sehr er sich jedoch bemühte, im gleichen Maße scheiterte jedweder Versuch. Warum war sie überhaupt mit ihm zusammen?, überlegte er daraufhin. Warum war sie zu ihm gezogen? Warum verließ sie ihn ohne Erklärung und Trennung?

      Pauls Abrechnung mit sich selbst in der Einsamkeit seiner Gedanken schritt voran und nahm an Geschwindigkeit zu; seine Gedankengänge wurden sprunghaft und unstrukturiert, vor allem aber steigerte sich die Intensität. Er spürte bereits eine leichte Übelkeit aufsteigen, die sich aller Voraussicht solange steigern würde, bis er sich aus sich selbst heraus auskotzen würde. Sein Innerstes würde nach außen gekehrt werden und wäre schutzlos preisgegeben den peinlichen Fragen seiner Inquisition. Er würde leiden müssen, wie er wusste; doch obwohl diese Art der Katharsis nicht nur quälend, sonder vor allem notwendig war, empfand er ein unsagbar großes Verlangen nach Ruhe und Frieden aufkommen, das sofort erfüllt werden wollte. Es galt folglich, die Gegensätze zwischen peinvoller Selbstreflektion und innerer Harmonie in Einklang zu bringen. Da er nicht zu der Art Mensch gehörte, der sich der Einsamkeit der eigenen Gedanken bis zum bitteren, aber reinigendem Ende auszusetzen vermochte, musste er aller guten Absichten zum Trotz einen anderen Weg gehen. Man isst nicht so heiß, wie man kocht, sagte er sich.

      Paul kam ein gutes Stück aus der Einsamkeit der Gedanken zurück, schlüpfte in seine Sportsachen und lief ein paar Runden durch den nahegelegenen Park. Die nun von seinem Körper benötigte Konzentration und Aufmerksamkeit führte dazu, dass sein Verstand den eigenen Gedanken nicht länger nachjagte wie Tieren, wodurch diese ihre wilde Flucht einstellten und sich leichter fassen ließen. Er wollte die wichtigen aus der Masse herausgreifen, festhalten und in eine angemessene Ordnung bringen. Nachdem sich sein Kreislauf durch Anpassung der Atem- und Herzfrequenz sowie durch Erhöhung des Pulses auf das Laufen eingestellt hatte, reagierte sein Verstand wie erwünscht und war nicht länger in der Lage, einen tosenden Sturm im eigenen Kopf aufrecht zu erhalten.

      Nun aber geschah etwas, womit Paul nicht gerechnet hatte. Während er seine Runden drehte, verblasste die Erinnerung an Tanias physische Gestalt zusehends, bis sie schließlich in der Hitze des Sommertages in luftigen Höhen entschwand. Übrig blieb von ihr nur etwas ihm vollkommen Unbekanntes, das er nie zuvor wahrgenommen hatte, jedoch den Anschein erweckte, untrennbar mit ihr verbunden zu sein. Intuitiv dachte er an Begriffe wie Wesen, Seele oder Herz, war sich aber nicht sicher, die passenden Bezeichnungen gefunden zu haben. Er fühlte sich unsicher, denn ihm wurde bewusst, solche Termini schon lange nicht mehr benutzt zu haben. Auch konnte er diesbezüglich nicht auf fremde Gedanken zurückgreifen, er fand schlicht keine Beispiele.

      Paul wurde schnell klar, dass er in dieser Frage nicht weiter kam. Der physischen Anstrengung wegen konnte er sie leicht beiseite schieben. Ohnehin hatte er sie ursprünglich nicht auf seiner Liste gehabt, ihm ging es um ganz andere Dinge.

      Er erinnerte sich an die Geschichte, die Frank erzählt hatte. Offensichtlich habe er falsche Ansichten über die Beziehung der Freunde gehabt, dachte Paul. Und ein von seiner Nase fallender Schweißtropfen riss den Irrtum mit sich, dem er lange Zeit aufgesessen war, dass sie nämlich eine ganz und gar harmonische Beziehung führten. An die Erzählung denkend wurde ihm bewusst, wie gravierend es sein kann, nicht miteinander über Dinge reden zu können, die für das Fortbestehen einer Beziehung essentiell sind, weil es eine geheimnisvolle Macht zu geben scheint, die das verhindert. Was für Aussichten eine solche Beziehung habe, fragte er sich gerade, als sich seine Gedanken ein Stück weiter bewegten und Vergleiche zogen zwischen seiner Beziehung und der der Freunde.

      Großer Gott!, dachte er. Haben wir denn jemals über uns gesprochen? Nein!, konnte die ehrliche, doch umso ernüchternde Antwort nur lauten. Sofort wurde Paul der Unterschied zwischen ihm und Frank in diesem Punkt klar. Während Frank die Probleme in seiner Beziehung bekannt waren, hatte er nicht die geringste Ahnung, dass überhaupt etwas im Argen liegen könnte. Der nötige Überblick hätte ihm gefehlt, meinte er. Deshalb waren ihm die Gründe für Tanias Handlungen noch immer unbekannt, deshalb fand er in seinem Gedächtnis keine warnenden Anzeichen, deren Existenz er sich sicher war. Wieder schalt er sich naiv, blind, dumm und bedachte sich mit weiteren ähnlichen Attributen, als er plötzlich an die Tage zurückdenken musste, die er anlässlich seines Geburtstages bei seiner Familie verbracht hatte.

      Nicht einmal an seinem Geburtstag hatte Tania sich gemeldet, hatte womöglich nicht einmal an ihn gedacht. War das nicht ein untrügliches Zeichen, dass ihr nichts mehr an ihm lag? Zeigte das nicht in aller Deutlichkeit, was ihre Aussage bedeutete, sie würde sich bei ihm melden? Erst am Sanktnimmerleinstag würde er wieder von ihr hören, dachte Paul; sich etwas anderes einzubilden wäre töricht.

      Ebenso bedrückend war die Andeutung seiner Schwester, die Eltern würden möglicherweise in Zukunft nicht mehr unter dem gleichen Dach leben. Erst jetzt, als ihm dies wieder in den Sinn kam, spürte er die ungeheure, niederschmetternde Kraft dieser Hiobsbotschaft. Aufgeregt rief er sich ihre Worte so gut es ging ins Gedächtnis, um die Fakten von ihrer Interpretation zu scheiden. Sie schliefen in getrennten Zimmern und gingen sich so weit wie möglich aus dem Weg. Was sollte er davon halten, fragte er sich. Seiner Meinung nach waren das zu wenige belastbare Indizien, die Spekulationen über eine Trennung gerechtfertigt hätten. Doch sofort kam ihm der Gedanke, dass er diese womöglich ebenso übersehe, wie er auch die Anzeichen nicht gesehen hatte, die Tanias Auszug vorausgegangen waren. Letztendlich war die schiere Möglichkeit einer Trennung der Eltern nicht von der Hand zu weisen. Außerdem musste er sich eingestehen, über die wahren Verhältnisse nicht im Bilde zu sein. Er war weit weg und zu selten zu Hause.

      Angesichts dieser Überlegungen beschleunigte Paul unbewusst das Tempo. Der zunehmende Kraftaufwand kompensierte die katastrophalen Aussichten, hielt