Chefin sie gestern in den Feierabend geschickt hatte.
Zoller bedankte sich und im Gehen hörte er sich fragen: „Wann kommt denn Frau Hartmann heute?“
„Wollte schon da sein“ sagte Olga nach einem Blick auf die Uhr.
„Dann grüßen Sie sie von mir.“
Auf der Treppe hörte er Schritte, die ihm entgegen kamen. Er spürte sein Herz schlagen. Nein, Isabel war es nicht. Zoller räusperte sich und verließ die Pension.
6 – Von oben betrachtet
Katharina sonnte sich mitten auf dem Dach des Familiengerichts Kreuzberg-Tempelhof. Seit Jahren war ihr das im Frühjahr und Sommer ein lieber Aufenthaltsort geworden, wenn sie in den Amtsstuben den mehr oder minder schweren Fällen gelauscht, die bescheidenen oder renitenten Angeklagten vor den Altären der Gerichtsbarkeit beobachtet hatte. Sie kannte so manchen Verteidiger und Staatsanwalt, hatte zu jedem ihre gewachsenen Beziehungen, sie kannte bei jedem den Punkt, wann er sich vom Gegenanwalt geschmeichelt oder beleidigt, wann übergangen oder missverstanden fühlte. Auch die Richter und Richterinnen kannte sie in fast allen Befindlichkeiten. Manches Mal hatte sie Gelegenheit, über die aktuellen Fälle mit den unabhängigen Dienern der Gerechtigkeit hier oben zu sprechen, soweit sie bereit waren und die Aussagen den Fortlauf der Verhandlungen nicht beeinflussen konnten.
Hier auf dem Dach fühlte sich jeder gut und leicht, wie über dem Gesetze schwebend, hier oben nämlich befand sich die Cafeteria, hier gab es keine Unterstellungen, vagen Vermutungen und konstruierte Mutmaßungen, sondern klare Fakten in Form von Speisen und Getränken, hier konnte man sich privat zurücklehnen, hier durfte man rauchen und einfach die Blicke über Kreuzberg gleiten lassen, oder, wenn man sich umdrehte, über Berlin Mitte.
Genau gesagt, war es der Dachgarten des Familiengerichtes, welches man in modernem Stile an das herrschaftlich alte Gebäude des Amtsgerichtes angebaut hatte, das in der Möckernstraße im Stile schönsten Historismus bereits seit 125 Jahren den Rechtsprechern ein Dach bot.
Die Verhandlung, die sie besucht hatte, war ihr unangenehm auf den Magen geschlagen, so dass sie erst einmal einen Cognac hatte trinken müssen, bevor sie in der Lage war, sich einen Salat mit Entenbratenstreifen einzuverleiben. Erst nach dem Cognac, den sie ansonsten eher verschmähte, nahm sie den Sonneglanz auf den Dächern wahr und die im Winde tanzenden Baumwipfel, die wie riesige grüne Pinsel den Himmel blau malten. Ein von Tempelhof startendes Flugzeug schnitt das Blau in zwei Teile.
Und doch kamen ihr, als sie im gemischten Salat stocherte, die Bilder des Falles hoch: Ein vierzehnjähriges Mädchen war angeklagt, an einem Nachmittag, an dem die Mutter nicht zu Hause war, ihrem Stiefvater eine Flasche schärfsten Reinigungsmittels, auf dem sich ausschließlich die Fingerspuren der Tochter auffinden ließen, zwischen seine Schnapsflaschen gestellt und ihn so vergiftet haben zu wollen. Der Stiefvater hatte schwerste Verletzungen in Mund- und Rachenraum und eine unheilbare Verätzung der Stimmbänder davongetragen, die ihn zu stimmlosem, wimmerndem Wispern verdammte. Das junge Mädchen stritt die Tat strikt ab.
Im Verlauf der Verhandlung zeigte sich, dass die Mutter, die zeitweise Putzen ging, ihrem jetzig arbeitslosen Manne hörig war, jede Handlung von ihm als absolut gerechtfertigt verteidigte, auch wenn dessen Hand sich gegen sie selbst erhob. Sie war blind geworden für die Bedürfnisse ihrer Kinder, deren sie zwei hatte, zwei Töchter, die eine, jetzt angeklagte und eine, die im Jahr zuvor mit kindlichen vierzehn Jahren Selbstmord begangen hatte. Diesen führten die Eltern schlicht auf schlechte Schulnoten und ihre mimosenhafte Labilität zurück. Dass das Leben ihnen selbst auch nicht gerade die besten Noten verpassen würde, kümmerte sie nicht. Er war arbeitslos und trank, sie kam nicht gegen seine Trunksucht an und hatte die Kinder vernachlässigt. Der Selbstmord der Schwester nahm im Verlauf der Verhandlung noch einmal einen besonderen Stellenwert ein, als die Angeklagte den Abschiedsbrief ihrer älteren Schwester ins Spiel brachte, in welchem diese die Mutter und deren Ignoranz schuldig sprach. Ein Satz war Katharina besonders in Erinnerung geblieben ‚Ich lief so oft zu dir, aber du hast mir nicht geglaubt’. Wer einen solchen Satz nicht einmal im Abschiedsbrief seiner Tochter ernst nimmt, hatte versagt, auf ganzer Linie.
Die kindhafte Angeklagte erklärte unter Tränen, der Stiefvater hätte die Schwestern ständig geschlagen und schließlich die ältere missbraucht, was auch der Grund für den Selbstmord gewesen sei. Nun hätte er auch bei ihr angefangen. Die Schläge seien ja noch auszuhalten gewesen, aber nicht das, was er dann von ihr wollte. Die Mutter hätte auch ihr nicht geglaubt. Auf die Frage, warum sie das nicht angezeigt, oder zumindest anderen erzählt hätte, antwortete sie, dass, wenn schon nicht die eigene Mutter einem Glauben entgegenbrächte, sie keinem anderen Erwachsenen vertraut hätte. Nur einer einzigen Freundin, Manuela, hätte sie sich schließlich eröffnet. Wo denn diese Manuela sei. Umgezogen nach Kiel, nur einmal wäre sie noch zu Besuch gewesen, einen Tag, bevor die Geschichte mit dem Stiefvater passierte. Hier wurde die Verhandlung unterbrochen, um diese Manuela aufzufinden und für den Fortgang der Verhandlung zu laden.
Katharina fuhr aus ihren Gedanken hoch. Ihr Teller war leer. Sie schaute auf die Uhr: Vierzehn Uhr und zwölf Minuten. Sie musste in den Verlag. Zuvor wollte sie Hartwig Zoller anrufen und zog ihr Handy aus der Handtasche. Es klingelte viermal, bevor er abhob.
7 – Der Notar
Vom Auto aus hatte Zoller das Büro von Dr. Wolfgang Mommsen angerufen und sein Kommen avisiert. „Aber bitte nicht vor dreizehn Uhr!“ hatte die freundliche Stimme der Sekretärin ihn gebeten.
Um dem Verkehr durch Schöneberg, Steglitz und Zehlendorf auf der B1 zu entgehen, hatte Zoller die andere, etwas längere Route über Grunewaldstraße, Hohenzollerndamm auf die Stadtautobahn und Avus gewählt und war früher als gedacht am S-Bahnhof Wannsee angekommen, von wo die Bismarckstrasse an den Kleinen Wannsee führte und sich die Wohn- und Geschäftsadresse des Notars befand. Er parkte seinen Wagen auf der Königstrasse, genau auf der Brücke, die den Kleinen von dem großen Wannsee trennte, ging ein paar Schritte in der Mittagssonne zurück und aß bei Loretta am Wannsee eine Currywurst. Er trank sonst nie Cola, doch zur scharf gewürzten Currywurst war sie das einzig passende Getränk. Danach schlenderte er in die Bismarckstrasse hinein, deren uralte Kastanien riesige Schatten auf das narbige Kopfsteinpflaster warfen. Nach ein paar Schritten, er war nur noch von Stille umgeben, wies ein verwittertes, kaum sichtbares Schild nach rechts in die Bäume. Er erinnerte sich und folgte dem schmalen Weg, bis er von leichter Anhöhe unter den Bäumen das Wasser des Kleinen Wannsees blitzen sah und unter einer Eiche das Grab eines der größten deutschen Dichter fand: Heinrich von Kleist. Zoller setzte sich auf die kleine Holzbank, die so alt wie das verwitterte Schild sein musste und kramte zusammen, was in seinem Gedächtnis hängen geblieben war: Käthchen von Heilbronn, Prinz von Homburg, Amphytrion. Auf dem Grabstein las er:
«Er lebte, sang und litt in trüber, schwerer Zeit, Er suchte hier den Tod und fand Unsterblichkeit»
Hier hatte der lebensüberdrüssige Dichter im November 1811 erst seine todkranke Freundin, dann sich selbst erschossen. Zuvor hatten sie sich noch Kaffee und Rum bringen lassen.
Zoller sah auf die Uhr und entschuldigte sich innerlich für die Kürze seines Verweilens, er habe ja schließlich einen aktuellen Todesfall aufzuklären.
Die Bismarckstrasse war ein hochedles Wohnviertel hinter hohen Kiefern, dazwischen, als Sichtschutz für die Villen, Birken und Büsche. Die meisten Grundstücke hatten Seezugang mit Anlegestellen für Motor- und Segelboote. So auch das Grundstück, auf dem die eierschalfarbene Jugendstilvilla des Notars gelegen war. Ein hölzernes Bootshaus verbarg das zu vermutende Schmuckstück darinnen.
Zoller nahm die vier Stufen zum Eingang. In ein durchsichtiges Acrylschild war goldfarben eingraviert: Dr. W. Mommsen, Rechtsanwalt und Notar.
Er drückte die Messingklingel. Eine Stimme fragte: „Ja bitte?“ Zoller sagte seinen Namen und die breite Massivholztüre summte. Er hatte sie kaum berührt, sprang sie auf und er trat ein. Ein großzügiges Foyer empfing ihn, ausgestattet mit wenigen, ausgesucht edlen Mahagonischränken, auf einer Seite mit einer