Und im Schatten dieser Rockfalten gedieh das wuchernde Unkraut des Verbrechens und der Vergehen gegen die Menschenwürde im Großen wie im Kleinen.
Giftmorde waren selten geworden, lag es an der Schwierigkeit, an Gifte heran zu kommen oder daran, dass nur die wenigsten Delikte auffällig waren und entsprechend untersucht wurden, oder lag es an den Frauen, denen man den Giftmord im allgemeinen zusprach, die neue, unentdeckbare Mittel gefunden hatten? Jedenfalls führten derzeit «männliche» Straftaten direkter Gewalt wie Totschlag oder Mord durch Schuss- und Schlagwaffen die Mord-Statistik an. Besonders auffällige Bezirke waren Neukölln, Friedrichshain-Kreuzberg, Wedding und Mitte, doch kein Bezirk enthielt sich gänzlich solcher Verbrechen, wie wohlklingend auch der Name, keine Gesellschaftsschicht fehlte in den Statistiken, kein Bildungsgrad, der nicht doch in ihnen auftauchen wollte.
Gewalttätige Vergehen und Verbrechen wurden zwar vorzugsweise von ausländischen mafiosen Vereinigungen verübt, doch auf Morde wollte keine soziale Schicht verzichten. Raub und Erpressungen wurden angeführt von den zunehmend stärker gewordenen arabischen Clans, gefolgt von polnisch-russischen Verbänden, den geringsten Anteil daran hatten die zahlenmäßig überlegenen Türken. Und die teilten sich den Wedding und Kreuzberg.
Auch Katharina wohnte in Kreuzberg. Vor einigen Jahren war sie nach Berlin gekommen, um am Aufbau einer neuen Hauptstadtzeitschrift mitzuwirken. Der Konzern, der sie von Hamburg nach Berlin schickte, wollte mit dem Magazin eine derzeit offene Nische schließen und bot ihr die Redaktion der Polizei- und Gerichtsreportage an. Da die Delikte von der Staatsanwaltschaft und somit von der Polizei untersucht wurden, lag es nahe, zu beiden Institutionen einen guten Draht zu ziehen, um an möglichst viele und möglichst ungeschminkte Informationen aus erster Hand zu kommen.
Im Zuge dieser Kontaktaufnahme hatte sie den Hauptkommissar Zoller kennen gelernt und sie hatten sich auf kriminalistischer Ebene gleich und gut verstanden. Sie mochte seine eher ruhige, überlegte Art, wenn es um Einschätzungen und Entscheidungen ging, gepaart mit einem rauen, männlichen Charme, der nichts von dem Chauvinismus hatte, wie er oft leitenden männlichen Individuen zu eigen schien.
An der Kreuzung Yorck- Großbeerenstrasse stieg sie aus, überquerte den Mittelstreifen und entschied sich sogleich, im Biergarten des Yorckschlösschens einen Capuccino zu trinken, wobei sie Gelegenheit nehmen wollte, ihre spärlichen Notizen über diesen Fall durchzugehen. Das Lokal hatte gerade geöffnet und ein schlaksiger Mann mit roter Schirmmütze stellte ein Klappschild auf, von dem es rief: ‚Essen kommen!’. Wie früher bei Muttern, dachte Katharina, setzte sich an einen der noch leeren Tische unter den Kastanien und griff automatisch zur Speisekarte mit der Auswahl an Tagesmenues, Hinweisen auf Zigarren, Musik und Hausverbote. Das bestellte Getränk kam prompt und sie blätterte in ihren Notizen und schrieb dazu einige Fragen auf.
Gestärkt vom Capuccino und dem obligatorischen Plätzchen verließ sie den Garten. Schräg gegenüber befand sich die Pension Am Kreuzberg. Beim Überqueren der Straße las sie das am Hause groß angebrachte Schild ZYANKALI. Wie passend, dachte sie.
Die Einfahrt zum Aufgang der Pension stand sperrangelweit offen und auf dem Fußweg warteten einige Gepäckstücke auf das Taxi zum Flughafen. Die dazugehörigen englischen Touristen standen in einer Gruppe vor der Auslage eines Geschäftes für mittelalterliche Utensilien und unterhielten sich über die seltsamen Auslagen in den Fenstern.
Oben angekommen, fand sie die Rezeption verlassen vor. Sie benutzte die Tischklingel, um sich bemerkbar zu machen und während sie wartete, schaute sie sich um. Tiefblaue, dichte Veloursware stand in angenehmem Kontrast zu den indisch-gelben Wänden und dem Mahagoni-Tresen. Sie ging langsam in den von Gästen leeren Frühstücksraum. Die Tische waren alle abgeräumt und die Tagesdekoration aufgelegt. Auf Vitrinen, an den Wänden und in Nischen entdeckte sie recht ausgefallene, wertvolle Dekorationsartikel. Ein italienischer Service-Mohr hielt ein Silbertablett in den Raum, an den Wänden hingen echte Delerue’s, in der Anrichte leuchteten ihr fein geschliffene Murano-Gläser entgegen und manch besonderes Stück zog Ihre Aufmerksamkeit auf sich. Über allem schwebte eine weibliche Note, die sich besonders in den Kleinigkeiten wie den frischen Blumen auf den Tischen und den silbernen Serviettenringen zeigte. Alles recht exklusiv und teuer. Und das in einer Pension in Kreuzberg, wo die Preise doch eher moderat waren, wunderte sich Katharina. Isabel Hartmann musste eine Frau mit ausgesuchtem Geschmack und dem dazugehörigen Geldbeutel sein. Katharina war gespannt, sie kennen zu lernen.
Ein Prusten und Schnaufen riss sie aus ihren Gedanken. Die Geräusche kamen aus Richtung der Rezeption und hinter der Türe zum Frühstücksraum erschien ein unförmiger weißer Klos, aus dem ein wuscheliger blonder Schopf blickte. Der Klos zerfiel in zwei Teile, wobei dem einen dicke weiße Arme entwuchsen und der andere als Wäscheklops zu Boden fiel. „Und det wieder mal mir! An einem Abreisetag ganz alleene“, keuchte es, und „Ick bin doch nicht Schwarzenegger und neh’m die ganze Pension uff’n Puckel.“
Katharina räusperte sich. „Oh, `tschuldigen se, hätte ick gewusst, det hier jemand ist -“. Die Konsequenz ließ sie offen, wandte sich zu Katharina und sagte: „Die Olga muss jeden Momang da sein.“ Dann fiel ihr etwas ein: „Oder sprechen se kein Deutsch?“ „Doch, doch“, beruhigte sie Katharina, „ich kann warten.“ „Wollen Gnädigste vielleicht ein Zimmer?“, versuchte sie sich auf Hochdeutsch. „Nein, ich komme von der Presse und wollte mit Frau Hartmann sprechen.“ „Ach wejen det Jeschehnis letzte Nacht! Det iss’n Ding wat?“ Das Hochdeutsch hatte sich verflüchtigt. „Det war’n feiner Mann. Ein Doktor, und immer so schnieke angezogen und so ... so . . .“, ihr fehlten die Worte. Sofort fand sie neue: „Und hat immer schön Schmalz gegeben, wenn se wissen wat ick meine, Trinkgeld, wissen se?“. Sie machte die entsprechende Handbewegung. „Immer nen Heiermann und einmal sogar een Pfund. Da sollte ich nicht mal putzen! So’n feiner Mann!“ Ihr Blick ging zum Eingang. „Da kommt det Olga. Ick denke, die kann sie weiterhelfen.“ Sie bückte sich und verschmolz wieder mit dem Stapel Wäsche zu dem dicken weißen Knäuel und gab den Blick frei auf eine gepflegte blonde Frau in schwarzem Kostüm und weißer Bluse, die sich ihrer Wirkung durchaus bewusst war. Ihre Haltung war kerzengerade, ihre Hände wie zum Gebet zusammengelegt.
„Guten Tag, womit kann ich dienen?“, fragte sie und ging hinter den Empfangstresen. „Guten Tag, mein Name ist Katharina Berger, ich komme vom Magazin CENTRUM POST. Ich recherchiere in der Angelegenheit des Todesfalles von gestern Abend.“
„Ah, ja, ich bin Olga, Olga Wolaniska. Frau Hartmann kommt bald, wollen Sie sprechen mit ihr?“ klang es polnisch gefärbt an Katharinas Ohr.
„Ja, aber auch gerne mit Ihnen.“ Olga schaute auf ihre Armbanduhr als ob sie abschätze, wie viel Zeit sie erübrigen könne, dann ging sie vor ins Frühstückszimmer und zeigte auf die Sitzecke mit den drei roten Sesseln, wo gestern Abend Zoller mit Frau Hartmann gesessen hatte. „Mechten Sie Trinken?“ Katharina schüttelte den Kopf und setzte sich in einen der weichen Sessel. Olga setzte sich auf den zweiten Sessel und schob die Glasschale mit den Mozartkugeln zu Katharina.
Diese lehnte mit einer Geste ab. „Was mechten Sie wissen?“, fragte Olga und kreuzte ihre Arme.
„Nun, ich möchte vorausschicken, dies ist keine polizeiliche Vernehmung“, begann Katharina, „unsere Leser sollen nur so gut wie möglich von den Hintergründen unterrichtet werden.“
Als ihr Gegenüber mit einem Nicken antwortete, fuhr sie fort: „Sie hatten Dienst gestern am Nachmittag. Was geschah in dieser Zeit?“ Sie holte einen Block und einen Stift aus ihrer Handtasche und machte sich Notizen.
„No, da war einiges los. Zuerst war Streit zwischen dem Benny und Doktor. Benny lief schreiend durch Flur, rief ‚Das kannst du nicht machen mit mir. Das keiner macht mit mir. Du wirst sehen, was hast du davon’ - und dann mit seinen Sachen auf und weg.“
Katharina genoss die rollenden R’s und die charmanten Wortumstellungen.
„Wann war das?“
„No, so gegen halb fünf“, wobei fünf eher nach finf klang, „kurz vor Notar Mommsen kam.“
„Heißt ‚auf und weg’ er ist abgereist?“
„Ja.“