Lukas Ohly

Wie konnte Gott Mensch werden?


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P.-Th. Camelot: Ephesus und Chalcedon. Geschichte der ökumenischen Konzilien Bd. II; Mainz 1963, 225– 228; Tragoedia oder Historia; in: F. Loofs (Hg.): Nestoriana. Die Fragmente des Nestorius; Halle 1905, 203–208 (Fragment); im Folgenden T abgekürzt

      Von Nestorius liegen nur wenige Dokumente vor, die zudem oft fragmentarisch sind. Manche Dokumente warten noch auf eine Übersetzung. So liegt das größte Fragment, die Tragoedia, in syrischer Sprache vor und ist wiederum nur teilweise durch Referate anderer altkirchlicher Theologen ins Griechische oder Lateinische übersetzt worden. Daneben lässt sich seine Position einigermaßen rekonstruieren durch die gedankliche Auseinandersetzung mit ihm, die Cyrill von Alexandrien vor allem mit dem Buch „Quod unus sit Christus“ nach dem Konzil in Dialogform nachträglich nochmals geführt hat.[6] Der geringe Quellbestand ist auf die Verurteilung des Nestorius auf dem Konzil von Ephesus im Jahr 431 zurückzuführen. Der Bischof Nestorius von Konstantinopel hatte in einem Streit zwischen den damaligen theologischen Hochburgen Alexandria und Antiochia einen Schlichtungsversuch unternommen, der aber von alexandrinischer Seite als Parteinahme für Antiochia gewertet und schließlich Nestorius zum Verhängnis wurde.[7] In diesem Kapitel soll geprüft werden, ob Nestorius’ Erklärung, wie der Mensch Jesus zugleich Gott sein kann, wirklich so erhebliche Mängel aufweist, wie man ihm vorgeworfen hatte.

      In dem Streit ging es darum, ob Maria, die Mutter Jesu, „Gottesgebärerin“ (Theotokos) oder „Menschengebärerin“ (Anthropotokos) genannt werden dürfe. Die alexandrinische Schule vertrat die erste Position. Nestorius brachte in den Streit den Kompromissbegriff „Christotokos“ ein: Christusgebärerin (231). Wichtig war ihm dabei, die Gottheit Jesu Christi nicht zu vermenschlichen oder gar von einem Mensch, Maria, abhängig zu machen. Eine Vermischung der göttlichen mit menschlichen Eigenschaften müsse vermieden werden. „Das alles, was das Wort in dem mit ihm vereinigten Fleisch um unsertwillen auf sich genommen hat, ist gewiß anbetungswürdig, aber es seiner Hoheit zuzuschreiben, wäre eine Lüge“ (232). Ein solcher Satz hat Nestorius den Vorwurf eingebracht, er bete zwei Christusse[8] oder gar einen Menschen[9] an. Dieser Vorwurf ist terminologisch nicht unberechtigt, gibt aber die Sache nicht ganz richtig wieder. Nestorius wollte gerade nicht die menschlichen Eigenschaften vergöttlichen: In Christus werde die menschliche Natur von Gott zu eigen gemacht (231). Eine solche „Aneignung“ dürfe aber nicht heißen, dass die menschlichen Eigenschaften dem göttlichen Logos zugeschrieben werde (231f.). Nestorius will also gerade verhindern, dass die menschliche Natur angebetet und verehrt wird, und stellt sich in diesem Punkt gegen die Alexandriner und gegen Cyrill. Daher betont er ihm gegenüber die Unterschiedenheit der göttlichen und der menschlichen Natur. „Er ist nämlich Sohn Davids dem Fleische nach und sein Herr der Gottheit nach“ (231).

      Dementsprechend besteht die große Herausforderung darin, die Einheit in Christus herauszustellen. Hierfür bedient sich Nestorius dreier begrifflicher Werkzeuge. Das erste Werkzeug besteht in der Differenz zwischen Gott und Gottheit (T 205). Der Sohn Gottes (231) vereinigt sich mit der menschlichen Natur, also nicht die Gottheit selbst, sondern der Logos (T 205), Gott in seiner zweiten trinitarischen Position. Ohne die Unterscheidung von Gott und Gottheit würden Verdrehungen entstehen, dass etwa der Heilige Geist die Gottheit zeugt und zu seinem Geschöpf macht (231) und dass die göttliche Substanz verändert werde (T 205). Unter Gottheit scheint dabei Nestorius die göttliche Natur zu meinen („Natur der Gottheit“, 231), die nicht in die Welt eingehe oder vergänglich und leidensfähig (230f.) werden könne. Die Einigung der beiden Naturen dagegen ereignet sich anscheinend in der Welt. So zitiert Nestorius einen Teil der Einsetzungsworte Jesu beim letzten Abendmahl und kommentiert sie folgendermaßen: „’Dies ist mein Leib’ – und nicht ‚meine Gottheit’ –, der für euch hingegeben wird… Vielmehr war das die mit der Natur der Gottheit vereinigte Menschennatur“ (231). Damit ist ein Doketismus abgewehrt, wonach das Dasein Gottes in dem Menschen Christus nur eine Erscheinung gewesen ist. Nestorius scheint vielmehr an der Menschwerdung Gottes festzuhalten, ohne allerdings die Menschwerdung der Gottheit zuzuschreiben. Die Gottheit bleibt über diesem Geschehen erhaben und unberührt. Das heißt nichts anderes als dass sich die Einigung der beiden Naturen außerhalb der göttlichen Natur vollzieht.

      Doch worin besteht der theologische Unterschied zwischen Gott und Gottheit? Ist Gott weniger als Gottheit? Die Kompromissformel „Christotokos“ scheint ja anzudeuten, dass Christus ein Drittes aus zwei Naturen darstellt, nämlich weder Gottheit noch menschliche Natur, weil er Gott ist. Nestorius zieht dafür biblische Textstellen heran, nach denen auch andere Menschen von Gott „Gott“ genannt werden – Mose etwa oder das Volk Israel (T 206f.). Auch seien die Könige Saul, Kyrus und David „Christus“ genannt worden (T 207). An dieser Stelle droht Christus zu einem Nebengott zu werden.

      Das bestätigt das zweite Werkzeug, das die Einheit der beiden Naturen in Christus nur nominell vollzieht. Die Gemeinschaft der Namen, etwa von Mose und Christus, macht nicht die Gleichheit ihrer Würde (T 207). Christus ist der Name für die gemeinsamen Eigenarten beider Naturen (229). Indem die Väter des nicänischen Glaubensbekenntnisses diesen einen Namen vorangestellt haben, „wollten sie einerseits vermeiden, daß man die zur Natur des Sohnes und des Herrn gehörigen Namen trennte, andererseits der Gefahr begegnen, daß man die Eigenarten der beiden Naturen einfach verschwinden und in der einen und einzigen Sohnschaft aufgehen läßt“ (229). Spürbar ist hier, wie Nestorius sich bemüht, Christus nicht als Drittes, als „Zwitter“ beider Naturen erscheinen zu lassen: Darum soll keine Vermischung „zu einer einzigen Sohnschaft“ statthaben. Zugleich wird aber für Nestorius das Problem nur nominell gelöst: Die Väter benutzten einfach einen Namen für das Wechselspiel der Naturen. „’Jesus’, ‚Christus’, ‚eingeboren’ und ‚Sohn’“ seien angeblich „Bezeichnungen, die der Gottheit und Menschheit gemeinsam sind“ (229). In diesem Argument liegt teilweise ein Zirkelschluss vor, denn „Jesus Christus“ wird einerseits als Name eingesetzt und andererseits als Eigenschaft, die die Namensnennung mit „Jesus Christus“ rechtfertigen soll. Somit bleiben nur die beiden anderen Eigenschaften „eingeboren“ und „Sohn“ als reale gemeinsame Eigenschaften übrig. Führen sie über eine nominelle Einheit hinaus zu einer realen Einheit? Bleibt man auf der Ebene der Natur, also der nicht-individuellen Allgemeinheit der Eigenschaften von Gottheit und Menschheit, so kann auch nur in einem allgemeinen Sinn gesagt werden, dass „eingeboren“ und „Sohn“ gemeinsame Eigenschaften sind. So wie ich der Sohn meiner Eltern bin, sind alle Männer Söhne ihrer Eltern. Aber daraus folgt nicht, dass wir eine reale Einheit bilden, weil wir nämlich verschiedene Individuen sind. Vielmehr lässt sich allenfalls eine einheitliche Klasse nominell bilden: die Klasse der Söhne. Von der Klasse aller Söhne kann allerdings nicht gesagt werden, dass sie selbst ein Sohn ist. Nestorius macht dementsprechend Christus zu einer Klasse von verschiedenen Individuen, die einige gemeinsame Eigenschaften besitzen. Als Name für diese Klasse ist Christus aber keines der Individuen, die in ihr vorkommen.

      Für eine reale Einheit müsste also anstatt von „gemeinsamen Eigenschaften“ der beiden Naturen von den Eigenschaften eines Individuums gesprochen werden. Geht man über die Eigenschaften, um dieses Individuum zu bestimmen, so kann es folglich nur ein Individuum geben, das diese Eigenschaften zugleich besitzt. Die Konjunktion der Eigenschaften „Sohn“ und „eingeboren“ erfüllt allerdings diese Bedingung noch nicht. Sie würden sie nur dann erfüllen, wenn die Relation zu Gott dem Vater mit prädiziert werden würde: Christus ist dann der, der sowohl in seiner göttlichen also auch in seiner menschlichen Natur der eingeborene Sohn Gottes des Vaters ist. Obwohl also die Naturen sich gegenseitig widersprechen, kann mit Christus auf ein Individuum referiert werden, das beide Naturen hat. In diesem Fall ist Christus der logische Referent eines Individuums, auf das zwei einander widersprechende Beschreibungen zutreffen.

      Solche scheinbar paradoxen Referenzen sind nicht selten und in der analytischen Philosophie[10] herausgearbeitet worden. Paradigmatisch ist hierfür der Stern Venus und seine Eigenschaft, als erster Stern am Abendhimmel zu erscheinen und auch am Morgen noch am hellsten sichtbar zu sein. So ist es begrifflich falsch, die Eigenschaft, Abendstern zu sein, so zu beschreiben: „Der Abendstern scheint am Morgen“. Empirisch aber kann dieser Satz wahr sein. Es liegt aber dann eben nicht an der Eigenschaft, Abendstern zu sein, dass der Abendstern am Morgen scheint. Sondern es liegt daran, dass der Stern, der die Eigenschaft