gegenseitig ausschließen, können auf ein und denselben Stern beide Eigenschaften zutreffen.
Legt man dieses Verständnis zugrunde, so helfen also gerade keine nominellen Lösungen, um das christologische Problem zu beheben. Es hilft dann auch nicht, Christus über „gemeinsame Eigenschaften“ oder auch über den Vergleich von Eigenschaften zu identifizieren. Vielmehr kann ein Individuum auch Eigenschaften besitzen, die sich auf rein begrifflicher Ebene gegenseitig ausschließen. Das dritte Werkzeug, dessen sich Nestorius bedient, geht in diese Richtung, die kontingente Identität zwischen Christus in zwei Naturen zu begründen, obwohl die Naturen auf begrifflicher Ebene sich gegenseitig sogar ausschließen. Dieses dritte Werkzeug ist Nestorius’ Vorschlag, die Verbindung der beiden Naturen im Begriff „Prosopon“ zu finden (230).[11] Interpreten übersetzen diesen Begriff in der Regel mit „Person“, manchmal auch mit der Betonung der persönlichen Willenskraft, die anstelle einer natürlichen Verbindung die Einheit der Naturen willentlich herstellt.[12] Prosopon kann aber auch „Gesicht“ heißen. Schon Alois Grillmeier hat diese Übersetzung herangezogen.[13] Er versteht die Bemühungen von Nestorius so, dass er auf ontischer Ebene die Einheit Christi herausstellen wolle, ohne dabei auf den Wesensbegriff als Basis zurückzugreifen.[14] In diesem Fall allerdings ist die Einheit der zwei Naturen in Christus nur eine unwesentliche Einheit: Christus sieht nur so aus, als ob er Gott und Mensch sei. Da wir oben schon gesehen haben, dass Nestorius einen Doketismus abwehren will, kann er sich mit dieser Lösung nicht zufrieden geben.
Kommentar und Weiterführung
Mit dem folgenden Vorschlag möchte ich die Prosopon-Einheit bei Nestorius phänomenologisch untermauern. Nun ist der Quellbestand bei Nestorius nicht umfangreich genug, um zu belegen, dass Nestorius wirklich so gedacht hat, wie ich das nun entwickle. Allerdings schließt der Quellbestand meinen Vorschlag auch nicht aus. Das Prosopon als Gesicht zu verstehen, bedeutet phänomenologisch, dass beim Anblick Christi beide Naturen begegnen, obwohl begrifflich ausgeschlossen ist, dass eine Entität beide Naturen zugleich haben kann. Christus hat keine zwei Gesichter. Im Anblick seines Gesichts sind seine Naturen ununterscheidbar vereint. Wird das Gesicht phänomenologisch begriffen, so tritt es einem Gegenüber in Erscheinung. Das Gesicht begegnet einem anderen Menschen. Niemand kann sich selbst ins Gesicht sehen, es sei denn dass er sich in einem Spiegel als Gegenüber projiziert. Das Gesicht ist also phänomenologisch auf ein Gegenüber angewiesen, um in Erscheinung zu treten. In dieser Beschreibung ereignet sich also die Prosopon-Einheit in Begegnung: Sie ist, indem sie sich ereignet, und sie ereignet sich, indem sie jemandem begegnet. Dies bestätigt nochmals die obige Beobachtung, dass sich bei Nestorius offenbar die Einheit Christi außerhalb der göttlichen Natur vollzieht. Sie vollzieht sich nämlich bereits außerhalb des Gesichts als Entität. Denn das Gesicht ist phänomenologisch immer schon ein extravertierter Gegenstand: Es tritt nur in Begegnung auf. Ist also das Gesicht die Einheit der Naturen, so ereignet sich die Einheit außerhalb dieses Gegenstandes „Gesicht“, weil dieser Gegenstand als Phänomen immer schon „außerhalb seiner selbst“ ist. Die Begegnung des Gesichts kann nicht von seiner Gegenständlichkeit abstrahiert werden.
Mit dieser Darstellung erledigt sich zugleich das Problem, dass die Einheit der beiden Naturen nur eine scheinbare sei. Denn das Wesen eines Gesichts ist phänomenologisch in seiner Erscheinung zu finden. Seine Erscheinung ist wesentlich. Sieht man dagegen von der Begegnung des Gesichts ab, so kann man allenfalls unwesentliche Eigenschaften von ihm bestimmen (zum Beispiel die Hautfarbe) oder solche, die es nicht hinreichend bestimmen (zum Beispiel dass es ein materieller Gegenstand ist, dass es schwer ist o.ä.). Ob es sich phänomenologisch bei diesen Eigenschaften wirklich um Eigenschaften des Gesichts handelt, lässt sich aber wiederum nicht belegen, solange man sich nicht auf die Begegnungssituation des Gesichts rückbezieht: Die Hautfarbe ist nicht bestimmbar, solange das Gesicht niemandem begegnet. Und ob ein Gesicht wirklich „materiell“ ist und nicht vielmehr geistig, kann ohne Begegnungssituation bestritten werden, ganz zu schweigen von der phänomenologisch sogar zweifelhaften Behauptung, dass das Gesicht „schwer“ sei. Das Gesicht hat nur unter der abstrakten Voraussetzung ein Gewicht, dass es ein materieller Gegenstand ist. Aber phänomenologisch erscheint das Gewicht des Gesichts nirgends. Allenfalls geistig ist es gewichtig, nämlich in der Begegnung.
Im Gesicht fällt also die Differenz zwischen Wesen und Erscheinung: Das Gesicht ist wesentlich Erscheinung, ohne dabei „nur“ Schein zu sein. Bestimmt man die Einheit Christi über die Einheit seines Gesichts, so beschreibt man das Wesen der Erscheinung und gibt ihr eine theologisch wesentliche Bedeutung. Die Einheit Christi ist also nicht „nur“ Erscheinung, sondern sie ist überhaupt nur wesentlich, weil sie Erscheinung ist. Das Wesen der Einheit Christi ist Erscheinung. Sie ist ein Geschehen „pro nobis“, nämlich für die Menschen, die dem Gesicht Christi begegnen. Vielleicht hat Nestorius das gemeint, wenn er zwischen Geburt und Menschwerdung unterschied und daran erinnert, „daß dieselben heiligen Väter im Zusammenhang mit dem Heilsplan und dem Heilswirken (oikonomia) Gottes nicht von einer Geburt, sondern von einer Menschwerdung sprechen“ (230). Das Wort Menschwerdung heißt griechisch „Enanthropesis“, was wiederum „einen Menschen annehmen“ heißen kann. Nestorius sucht nach einem Modell der Beziehungsaufnahme anstelle einer objektiven Einheit auf der Ebene der Gegenständlichkeit. Zudem vollzieht sich diese Annahme eines Menschen „im Zusammenhang mit dem Heilsplan und dem Heilswirken“, also im Zusammenhang mit der Geschichte Gottes mit den Menschen. Sowohl das griechische Wort oikonomia, das ebenso „Tätigkeit“ oder „Wirken“ heißen kann, als auch dynamis (Kraft, Macht; hier irritierend mit „Heilsplan“ übersetzt) haben prozesshafte Bedeutungen. Sie sind, was sie sind, im Vollzug im Hinblick auf ein Gegenüber. Nestorius’ christologisches Modell besitzt also einige Anzeichen dafür, dass er eine dynamische Erklärung sucht, anstatt die Lösung auf der Ebene ontologischer Kategorien zu finden. Dennoch verliert er ontologische Kategorien nicht aus dem Blick, wie die Verklammerung von Wesen und Erscheinung im Gesicht zeigt. Nestorius deutet das Phänomen des Gesichts in seiner Wesenheit an, übersteigt allerdings dabei die klassische Ontologie seiner Zeit, die das Wesen einer Entität immer nur in ihr selbst zu finden wusste.
Ist dieser Verdacht berechtigt, dass Nestorius eine Abneigung gegen begriffssystematische Lösungen hat, um ein historisch kontingentes Ereignis zu beschreiben, dann könnte auch das zweite Werkzeug rehabilitiert werden. Das Gemeinsame von Gottheit und Menschheit sind weder einfach nur die Bezeichnungen oder Namensgebungen, noch die allgemeinen Gemeinsamkeiten der Naturen. Die Einheit über eine solche Schnittmenge zu erweisen, widerspricht nämlich Nestorius’ Heuristik der Prosoponeinheit. Als das Gemeinsame kann dann vielmehr gelten, was sich in der Begegnung mit dem Gesicht Christi überhaupt erst herausstellt, das Gemeinsame im Begegnungsereignis. Im Prosopon erscheint die Einheit Christi, des eingeborenen Sohnes. Die gemeinsamen Eigenschaften der Naturen lassen sich von hier aus erst retrospektiv bestimmen, nämlich unter Voraussetzung der erschienenen Einheit in Christus. Wenn Nestorius Christus als „Name“ bestimmt, so muss es sich nicht um eine willkürliche Namensbestimmung handeln. Sie kann vielmehr reagieren auf das Phänomen, das sich im Gesicht Christi bildet. Der Name Christus würde dann nur dieses Phänomen benennen.
Lässt sich auch das erste Werkzeug rehabilitieren? Ich habe die Gefahr beschrieben, dass Christus durch die Differenz von Gottheit und Gott zu einem Nebengott werden kann, der nur in einem geringeren Grad Gottheit ist als die göttliche Natur. Durch die hier durchgeführte phänomenologische Darstellung kann man auch ein anderes Bild entwerfen: Da unter den klassischen ontologischen Kategorien die Einheit der beiden Naturen in Christus nicht darstellbar ist, wechselt Nestorius die Perspektive: Die Gottheit wird für die Beschreibung der Einheit in Christus nicht zugrunde gelegt, da sie eine Abstraktion darstellt. Vielmehr wird phänomenologisch die Einheit zugrunde gelegt, die erst retrospektiv die Differenzierung der göttlichen und menschlichen Natur vornehmen lässt. Es lässt sich also nicht ontologisch die Einheit Christi als eine Zusammensetzung zweier gegensätzlicher Naturen bestimmen. Vielmehr wird genau umgekehrt die erschienene Einheit im Gesicht Christi erfahren und ausgehend von ihr die Differenz der beiden Naturen retrospektiv bestimmt. Christus ist dann deswegen kein Nebengott, weil es keine Gottheit an sich gibt, ohne dass sie sich personifiziert. Die Gottheit ist immer schon göttliche Natur in Gott. So zitiert Nestorius das Nicaenum und fügt dabei den Naturbegriff