ist zuzugestehen, dass dies eine Weiterführung ist, die Cyrill so nicht vertreten hat, und zwar vermutlich aus theologischen Gründen nicht. Die Differenz zwischen göttlicher und menschlicher Natur hat er als Gegensatz zum Stehen gebracht. Allerdings habe ich seinen heuristischen Ansatz verwendet, das christologische Problem dadurch zu lösen, dass man die Bezüge auf verschiedene ontologische Ebenen verteilt: Die Natur des Sohnes ist etwas anderes als die Natur der Gottheit, und auf sie treffen auch andere Eigenschaften zu. Theologisch ist die Position unhintergehbar, dass zwischen der göttlichen und der menschlichen Natur ein Unterschied besteht. Aber erst wenn man aus dieser Differenz einen Gegensatz konstruiert, entstehen die Aporien des christologische Problems. Eine Alternative besteht darin, beide Naturen kategorial zu unterscheiden, indem man sie auf zwei unterschiedliche ontologische Ebenen bringt. Genau das war der Ansatz Cyrills, der hier konsequent zu Ende geführt worden ist. Dabei habe ich auch Eigenschaften auf die trinitarischen Personen neu angeordnet, die bisher bei Cyrill der göttlichen Natur zugeordnet waren. Solche Neuanordnungen zu vollziehen und damit kategoriale Neustrukturierungen vorzunehmen, war gerade die Innovation in Cyrills Ansatz. Er hat nur nicht seinen Ansatz konsequent zu Ende verfolgt und behält dadurch die Aporien, dass von Christus alles auszusagen ist, was von seinen beiden Naturen gilt, obwohl sich beide Naturen gegenseitig ausschließen.
Akzeptiert man diesen Neuansatz, so wird die menschliche Natur eine Unterart der göttlichen Natur. Beide unterscheiden sich dadurch, dass sie auf verschiedenen ontologischen Ebenen stehen, so dass nicht alles, was von der unteren Ebene ausgesagt werden kann, auch von der oberen Ebene ausgesagt werden kann. Manche Aussagen auf der unteren Ebene führen sogar in Widersprüche, wenn sie auf die obere Ebene transformiert werden. Dies habe ich bereits mit dem obigen Beispielsatz gezeigt: „Männer können keine Kinder gebären, Frauen aber schon.“ Man kann zwar den Satz so transformieren: „Es gibt Menschen, die keine Kinder gebären können, und es gibt Menschen, die Kinder gebären können.“ Aber in diesem Fall redet man nicht von der Art, sondern von Exemplaren dieser Art. Es ist nicht einmal so, dass alles, was von der unteren Ebene ausgesagt wird, von der oberen Ebene wenigstens als Möglichkeit ausgesagt werden kann. Dies wäre etwa der Fall, wenn man artinterne Vergleiche heranzieht. Aus dem Satz: „Uschi ist kleiner als Günter“ lässt sich nicht ableiten: „Der Mensch kann kleiner sein als der Mensch.“ Allenfalls lässt sich die Disjunktion aussagen: „Der Mensch ist kleiner als der Mensch oder nicht.“ In diesem Fall verändert man aber die Eigenschaft, die wiederum auf Individuen anwendbar ist, aber etwas anderes aussagt, nämlich: „Uschi ist kleiner als sie selbst oder nicht.“ Es bleibt also dabei: Die Eigenschaften von der unteren ontologischen Ebene ist nicht auf die obere Ebene übertragbar, sondern kann dabei sogar zu Widersprüchen führen.
Diese Schlussfolgerung ist wichtig aus theologischen Gründen: Denn auch wenn nach der bisherigen Skizze die menschliche Natur eine Unterart der göttlichen Natur ist, folgt nicht, dass Gott möglicherweise ein Sünder ist, wenn der Mensch zum Sünder wird. Dass Gott sündigt, wäre ein logischer Widerspruch, der Gott von sich selbst trennen würde, während die Sünde beim Menschen ein faktischer Widerspruch ist, der den Menschen von Gott trennt. Die kategoriale Differenz zwischen Gott und Mensch muss also keinen ontologischen Gegensatz zwischen beiden Naturen voraussetzen, um dennoch zu behaupten, dass der Mensch Sünder ist, Gott aber nicht einmal der Möglichkeit nach Sünder werden kann.
Meine hier vorgeschlagene Lösung war allerdings nur möglich, weil sie ein Grundproblem zugelassen hat, das bereits in Cyrills Ansatz liegt und theologisch fragwürdig ist. Wir hatten oben festgestellt, dass sich bei Cyrill die Gottheit zu Gott dem Sohn verhält wie die Art zum Individuum. Folglich gehört zur Gottheit die Eigenschaft, Vater oder Sohn oder Geist zu sein. Dies ist aber eine deutliche Abweichung vom trinitarischen Bekenntnis, dass Gott Vater und Sohn und Geist ist. Anstelle einer trinitarischen Einheit der Gottheit legt Cyrill somit einen Modalismus zugrunde, wonach Gott immer nur in einer der drei Personen erscheint, aber nie zusammen. Diese Konsequenz ist unvermeidlich, sobald Gottheit und die trinitarischen Hypostasen unterschieden werden wie Art und Individuen. Der Ansatzpunkt Cyrills ist die Unterscheidung der göttlichen Natur von der Natur des Sohnes Gottes: „Er war vielmehr als Gott gleichewig mit dem zeugenden Vater und aus ihm der Natur nach in unaussprechlicher Weise geboren“ (116): Zur Natur des Sohnes gehört das Geborensein, während zur Natur des Vaters das Zeugen des Sohnes gehört (B 226). Die Naturen Gottes und die göttliche Natur (Gottheit) werden also auf unterschiedlichen ontologischen Ebenen verhandelt. Hätte Cyrill dagegen die Gottheit bestimmt als „Vater und Sohn und Geist“, so hätte die Natur des Sohnes nicht als Exemplar einer Art aufgefasst werden können. Denn vom Sohn lässt sich nicht aussagen, dass er „Vater und Sohn und Geist“ ist. Es trifft also dann nicht alles auf den Sohn zu, was auf die göttliche Natur zutrifft. Der Modalismus ist daher eine unausweichliche Konsequenz, wenn man Cyrills Ansatz befolgt.
Mit dem Modalismus allerdings entstehen erhebliche theologische Probleme: Entweder sind die göttlichen Hypostasen nur Erscheinungen der Gottheit. In diesem Fall haben sie keine eigene Natur, weil sie nichts Reales sind, sondern nur Erscheinungen.[31] Oder aber es gibt drei Götter, zwar nie gleichzeitig, aber abwechselnd nacheinander. Das widerspricht dem Bekenntnis von Nicäa-Konstantinopel, wonach die göttlichen Personen wesensgleich der eine Gott sind. Cyrills Ansatz ist aus diesen Gründen von vornherein theologisch aporetisch. Seine philosophische Heuristik fasziniert zwar und scheint zunächst zu Klärungen zu führen. Konsequent lassen sich diese Klärungen aber auch nur mit einem erheblichen Aufwand herbeiführen, bei denen auch die Eigenschaften der göttlichen Natur auf einzelne göttliche Personen verlagert werden müssen. Der theologische Umbau, den Cyrills Ansatz erzwingt, scheint mir daher aufwändiger und theologisch unstimmiger zu sein als der, den man im Anschluss an Nestorius durchführen kann.
Das Chalcedonense – Das personale Bestimmtwerden durch Anderes
Theologische Realenzyklopädie Bd.7; Berlin, New York 1981, 671f.
Das Chalcedonense ist eine Kompromissformel aus vorangegangenen Streitigkeiten und gibt daher zentrale Ausdrücke wieder, die von den Kontrahenten dieser Streitigkeiten verwendet wurden. Historisch hat diese Kompromissformel den Streit nicht anhaltend schlichten können, weil sie kein Modell wagte, die Einheit Christi darzustellen, wenn zugleich Christus wahrer Gott und wahrer Mensch ist. Der alexandrinischen Schule war das Bekenntnis von 451 nicht deutlich genug. Cyrill war bereits elf Jahre tot. Sein Der Theologe Eutyches, der der alexandrinischen Schule nahe stand, arbeitete die Formel aus, wonach Christus eine Natur (mia physis) habe – eine Formel, die bei Cyrill noch nicht konzeptionell vorkam. In den Folgejahrhunderten wurden diese sogenannten Monophysiten die Hauptgegner orthodoxen Denkens.
Der nestorianischen Position wurde dadurch entgegengekommen, dass das Bekenntnis die Option offen hält, die Einigung auf die phänomenale Ebene zu konzentrieren: Christus ist „unvermischt, unverwandelt, ungetrennt, ungesondert erkennbar.“ Der Prosoponbegriff, den beide Kontrahenten im nestorianischen Streit prominent verwendet hatten, wird neben den Hypostasenbegriff gestellt. Diese Formulierung gibt das alexandrinische Interesse wieder, Christus nicht als zwei Personen oder Hypostasen zu verstehen und stattdessen die Einheit der zweiten Hypostase der Trinität zuzuordnen. Ebenso wurde der alexandrinische Begriff übernommen, wonach Maria „Gottesgebärerin“ genannt wird. Auf das Drängen Papst Leos wurde jedoch die Gefahr einer alexandrinischen Mia Physis-Lehre dadurch abgewehrt, dass Christus keine Einheit „aus“ zwei Naturen bildet, sondern „in“ zwei Naturen. Obwohl das Konzil kein eigenes Modell für die Einheit Christi vorstellte, übernahm es die Heuristik Cyrills der Einigung der beiden Naturen durch eine hypostatische Union.
Ebenso greift das Bekenntnis einen Begriff auf, der auch in den Streitigkeiten verwendet wurde, aber vor allem aus dem Bekenntnis über die Trinität aus den Jahren 325 (Nicäa) und 381 (Konstantinopel) stammt. Das sogenannte Nicaeno-Konstantinopolitanum beschrieb die Einheit von Vater und Sohn durch ihr Wesen: Sie sind „wesensgleich“ (homousios). Im Chalcedonense wird nun die Wesensgleichheit (Homousia) Christi mit Gott dem Vater verknüpft mit dem Denken, dass sich Christus anscheinend vom Vater in der Hypostase unterscheidet. Der Ausdruck „Hypostase“ fehlt noch im Nicaeno-Konstantinopolitanum. Und auch im nestorianischen Streit spürt man den Kontrahenten eine terminologische Unsicherheit ab, was