Lukas Ohly

Wie konnte Gott Mensch werden?


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so dass es eine solche nicht unabhängig von ihrer Personifizierung gibt.

      Mit der phänomenologischen Interpretation entgeht Nestorius den Schwächen und Aporien, denen er bei einer ontologischen Interpretation ausgesetzt wäre. Ob er wirklich eine solche phänomenologische Intuition hatte, lässt sich allerdings bei dem schmalen Quellenbestand nicht ermitteln. Dieser lässt eine solche Interpretation zu, die wiederum eine leistungsstarke Erklärungskraft für das christologische Problem bietet: Das Wesen der Einheit Christi liegt in seiner Erscheinung und damit außerhalb seiner selbst, ohne dabei aber etwas Drittes oder eine doketistische Gestalt oder ein Mischwesen zu werden. Die beiden Naturen widersprechen sich, aber es ist kein Widerspruch, dass in einem Gesicht beides zugleich erscheint, ohne dass es sich in dieser Erscheinung voneinander abgrenzen lässt.

      Zwei Rückfragen bringen dieses Erklärungsmodell dennoch ins Schwanken. Beide Fragen haben etwas miteinander zu tun. Wenn Prosopon wirklich Gesicht bedeuten und die Einheit Christi in seiner facialen Erscheinung begründet sein soll, stellt sich zum einen die Frage, warum Christus nicht von allen Menschen erkannt wurden, die ihm begegneten. Woran haben die Jünger oder die ersten Christen die Einheit Christi gesehen, wenn offenbar andere in ihm einen Gotteslästerer oder Menschen ohne Würde gesehen haben? Müsste nicht die Einheit des Gesichts beide Naturen als Evidenz erscheinen lassen und nicht nur als Möglichkeit?

      Zum zweiten stellt sich die Frage, wie Glaubende heute die Einheit Christi erfahren können, obwohl sie ihn nicht mehr sehen und ihn nicht mehr „nach dem Fleisch kennen“ (2.Kor.5,16). Das Problem besteht nicht darin, dass unter diesen Umständen die Einheit Christi ein bloßes Postulat bleiben würde. Vielmehr würde sie nicht mehr bestehen, sobald sie nicht mehr erscheinen würde. Denn wenn zutrifft, dass das Wesen der Einheit Christi ausschließlich in der Erscheinung seines Gesichts gegeben ist, dann ist dieses Wesen nicht mehr realisiert, sobald es nicht mehr erscheint.

      Auf das zweite Problem könnte immerhin phänomenologisch reagiert werden, indem das Gesicht immer die Erfahrung der Gottheit in sich schließt. Emanuel Levinas hat das Gesicht als Erfahrung des Unendlichen beschrieben, das sich nicht aus eigenen Vorstellungen extrapolieren lässt. Um die Erfahrung des Unendlichen zu machen und den Gedanken des Unendlichen zu denken, muss es im Gesicht des Anderen begegnen.[15] Levinas beschrieb über das Phänomen des Gesichts den Anderen als messianischen Menschen.[16] Da Nestorius Christus als Name für dieses Ereignis einsetzt, ließe sich seine Christologie prinzipiell auf alle Menschen übertragen. Will man die Exklusivität Christi wahren, so könnte man diese Struktur der Begegnung mit Christus bezeichnen. Christus wäre dann zwar nicht mehr ein Mensch, aber doch in einem Menschen. Das verträgt sich mit der Beobachtung, dass Nestorius auch den Namen „Gott“ auf Mose, Kyrus und andere biblische Figuren gelten lassen kann.

      Auf die erste Frage, warum Christus zu Lebzeiten nicht von jedermann erkannt wurde, könnte man als Antwort vorschlagen, dass zwar jeder die Einheit aus Gottheit und Menschheit erkannt hatte, aber etliche Zeitgenossen diese Einheit geleugnet hatten. Hierfür ließen sich in der Tat biblische Zitate anführen, etwa Jesu Wort über die Unvergebbarkeit der Sünde gegen den heiligen Geist (Mt.12,31–32) oder auch sein Gespräch mit Nikodemus, in dem Jesus die Erfahrbarkeit des Evangeliums unterstreicht (Joh.3,11–12). Eine solche These, dass alle Zeitgenossen eigentlich Christus erkannt hatten, wäre allerdings spekulativ, wenn sie nicht über eine allgemeine Struktur der Christusbegegnung untermauert wird. Erst eine solche allgemeine Struktur gibt die Antwort auf die zweite Frage.

      Ausgehend von der schmalen Quellenlage des Nestorius lässt sich daher eine Christologie entfalten, die eine erfahrungsbetonte Lösung auf das Problem der zwei Naturen in Christus bietet. Grillmeier betont, dass Nestorius das Erfordernis höher einschätzte als andere seiner Zeit, eine Lösung auf das Problem der substanzialen Einheit von geistigen Wesen zu finden.[17] Eine solche Lösung scheint Nestorius nicht den klassischen ontologischen Kategorien zuzutrauen. Damit war er in der Problemwahrnehmung seiner Zeit voraus – und vielleicht auch in der Lösung.

      Cyrill von Alexandrien – Untereinander angeordnete Naturen

      Daß Christus einer ist; in: Des heiligen Kirchenlehrers Cyrill von Alexandrien ausgewählte Schriften (hg. Otto Bardenhewer); München 1935, 111–204.

      Zweiter und Dritter Brief des Cyrill an Nestorius; in: P-Th. Camelot: Ephesus und Chalcedon. Geschichte der ökumenischen Konzilien Bd. II; Mainz 1963, 225–228, 233–241, im Folgenden B abgekürzt

      Die Übersetzung von Bardenhewer ist ausgesprochen ungenau, vor allem im Hinblick auf die zentralen Begriffe. So kommt in der Übersetzung der Personenbegriff vor, wenn er im griechischen Original fehlt, und umgekehrt. Der Hypostasenbegriff wird im Original der Schrift „Quod unus Christus sit“ fast ausschließlich benutzt, um die Gegenposition des Nestorius darzustellen. Dagegen wird der Ausdruck „Prosopon“ von Cyrill auch konstruktiv eingesetzt. Bardenhewers Übersetzung erweist sich damit als hochgradig interpretativ.

      Ebenso ist es mit dem Begriff der Ähnlichkeit. In Bardenhewers Übersetzung ist der Logos einem Menschen nur „ähnlich“. Im Original kann das griechische Wort „Homoioma“ oder „Homoiosis“ aber auch „Gleichheit“ und „homoios“ „gleich“ heißen.

      Es wird daher empfohlen, bei der näheren Beschäftigung den griechischen Text mit der Übersetzung zu vergleichen.[18]

      In Cyrill von Alexandrien hat Nestorius einen erbitterten Widersacher gefunden, der politisch geschickt taktierte und daher auch in der christologischen Streitfrage beim Konzil in Ephesus im Jahr 431 den Sieg über Nestorius errungen hatte. Interpreten unterstreichen in der Regel, dass Cyrills Sieg diesem politischen Geschick geschuldet war und weniger seiner theologischen Stärke. Angeblich hatte er keine ordentliche Schulbildung.[19] Theologiegeschichtlich war sein Erfolg übrigens nicht nachhaltig: Allgemein wird das Konzil von Chalcedon von 451 als Korrektur betrachtet, die wieder ein Gleichgewicht zwischen der antiochenischen und alexandrinischen Position herstellte.[20] Grillmeier schätzt Cyrills Beitrag an der Bekenntnisbildung von Chalcedon sogar als gering ein.[21] Gleichwohl hat der zweite Brief Cyrills an Nestorius für die katholische Dogmenbildung höchsten kanonischen Rang[22], und in Lehrbüchern findet man die Formulierung, Cyrills Position sei in Chalcedon als orthodox akzeptiert worden.[23]

      Cyrill betonte die Einheit Christi so stark, dass es ihm den Vorwurf einbrachte, die göttliche und die menschliche Natur zu einer Natur zu verschmelzen. Wir haben also hier zu prüfen, ob dieser Einwand ihn trifft oder ob Cyrill die Einheit Christi darstellen kann, ohne aus ihm etwas Drittes neben Mensch und Gott zu machen. Dabei war Cyrill nicht immer terminologisch scharf. Er konnte davon sprechen, dass Christus eine Natur hatte, und an anderen Stellen, dass er aus zwei Naturen sei.[24] Dann wiederum sprach er davon, dass die Einheit Christi in seiner Personalität bestehe (118, 149, an dieser zweiten Stelle benutzt Cyrill den griechischen Begriff Prosopon).

      Dreh- und Angelpunkt seines christologischen Modells ist der Begriff der Natur. Cyrill scheint die christologische Problematik auf der Ebene eines differenzierten Naturbegriffs lösen zu wollen. Nach meinem Eindruck ist dieser Ansatz bisher nicht ausreichend gewürdigt worden. Aber wenn Cyrill oftmals den Naturbegriff unterschiedlich verwendet, so scheint dies daran zu liegen, dass er sich jeweils auf Unterschiedliches bezieht. Die Natur (griechisch physis) ist die Kategorie des Wesens einer Sache und oft vom Wesensbegriff (ousia) nicht zu unterscheiden. Denn es ist die Natur, die einen Gegenstand zu dem macht, was er ist. Nun kann aber nicht nur von der Natur eines Gegenstandes gesprochen werden, sondern auch von der Natur einer Art oder einer Gattung. Damit koexistieren Naturen auf unterschiedlichen ontologischen Ebenen. Cyrill kann also von der göttlichen Natur (117 und öfter) sprechen und sie von der Natur des Sohnes Gottes unterscheiden, obwohl auch der Sohn göttlicher Natur ist. Cyrill schreibt von der zweiten trinitarischen Sohn, dem göttlichen Logos (Wort), dass „das eingeborene Wort Gottes Gott war und der Natur nach aus Gott stammte“ (117f.). „Der Leib, der den Tod gekostet hat, war nicht irgendeines andern, sondern vielmehr dessen Leib, der der Natur nach Sohn war“ (125). Ganz deutlich unternimmt Cyrill also eine Differenzierung zwischen der Natur Gottes und der Natur des Sohnes.