Kathrin-Silvia Kunze

Der Kampf der Balinen


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geistesabwesend. Aber schon war der Gedanke wieder fortgewischt. Denn ein neuerliches Geräusch erklang aus dem Untergrund und fesselte Finnas Aufmerksamkeit. Es war ein gleichmäßiges Klopfen, das immer weiter anschwoll. War dort drinnen womöglich noch jemand? Finna runzelte nachdenklich die Stirn. Womöglich war er verwundet, konnte nicht sprechen und versuchte auf sich aufmerksam zu machen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, so gut das mit ihren eiskalten Füßen überhaupt noch möglich war. Sie musste einfach irgendwie doch noch einen Blick in das Innere erhaschen! Da schrie Finna plötzlich laut auf. Der Schreck fuhr ihr durch alle Glieder und löste die Kältestarre darin mit der Schnelligkeit eines Wimpernschlags. Finna spürte eine kalte, schwere Hand auf ihrer rechten Schulter. Und eine dunkle, tiefe Männerstimme knurrte: „Bist du von Sinnen Kind?“ Die Hand verstärkte ihren Griff und drehte Finna unsanft herum. Das Mädchen sah sich einem großen, in dicke, warme Kleidung gehüllten Mann gegenüber. Sein Kopf und das Gesicht waren gegen die Kälte mit einem Filztuch umwickelt, so dass nur seine Augen zu sehen waren. Im Winter wurde dieses Tuch von den meisten in NordcumMelan getragen. Aber Finna mochte es nicht, weil es so unangenehm an der Nase kratzte. Und so konnte sie nun auch nicht erkennen, wen sie da vor sich hatte. Auch hatte der Wind sich gedreht und peitschte die Schneeflocken jetzt genau in Finnas Gesicht. Sie blinzelte tapfer an gegen diesen kalten Flaum, der ihr die Sicht raubte, während sich der Schnee auf ihren Wimpern in Wasser verwandelte. So konnte Finna auch nicht erkennen, dass der große, breitschultrige Mann vor ihr nur mehr einen Arm besaß. Halte dich gefälligst von diesem Schreckensort fern, verstanden!“, grollte er mit seiner dunklen Stimme ungnädig. „Oder meinst du etwa, es ist noch nicht genug Leid hier geschehen?“ Noch bevor Finna etwas darauf erwidern konnte, erklang plötzlich wieder der Ruf ihrer Mutter. Und das war gut so. Denn trotz ihrer tapferen, aufgeweckten Art, hätte selbst Finna auf solche Fragen keine kluge Antwort mehr gewusst. „Finna? Wo bist du nur? So antworte mir doch! Hast du etwa gerade geschrieen, mein Kleines?“ Dieses Mal klang die Stimme ihrer Mutter deutlich näher, aber vor allem auch deutlich höher und ängstlicher. „Aranee ruft dich!“, stellte der Mann trocken fest. Dann schnaubte er kurz. Aber es klang so verächtlich, als wolle er ihr damit sagen, dass ein ungehorsames Kind wie sie, solch eine gute Mutter nicht verdient hatte. Das ist seine Meinung, dachte Finna trotzig. Aber wie zur Bestätigung rief Aranee nun ausgerechnet: „Ich habe dein Lieblingsessen gekocht! Brotsuppe mit grünen Linsen. So dick, dass der Löffel darin stecken bleibt. So antworte mir doch, bitte!“ „Lauf!“, knurrte der Mann und gab Finna frei. Das lies sich das Kind nicht erst ein weiteres Mal sagen und rannte, so schnell es mit der dicken Kleidung in dem stürmischen Schneetreiben nur konnte. „Mutter!“, rief Finna dabei immer wieder laut und dankbar. „Mutter, ich bin hier! Ich komme!“ Doch leise flüsternd versprach sie sich selbst: Irgendwie werde ich doch noch einen Weg dort hinein finden! Aber kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, da war ihr, als hörte sie den unheimlichen Mann wieder knurren. Und auch später noch vermochte sie nicht mit letzter Sicherheit zu sagen, ob dieses kehlige Geräusch wirklich nur eine Täuschung ihres schlechten Gewissens gewesen war.

      9. Kapitel

      Faloee warf noch ein paar dürre, vertrocknete alte Zweige in die Flamme. Dabei murmelte sie leise geheimnisvolle Segensworte vor sich hin. Bald darauf schon konnte sie beobachten, wie das magische Feuer immer weiter aufloderte, bis schließlich glühend rot Flammen daraus hervor züngelten. Die Morgensonne des Neubeginns, huschte es Faloee bei diesem Anblick durch den Sinn. Und wirklich. Ähnlich der zunehmenden Kraft der Sonne im Laufe eines Frühjahrs, so wurde auch der Schein des Feuers immer stärker. Und dann kam der Augenblick, wo die Magie zu wirken begann. Gleißend helle Strahlen weißen Lichts brachen aus dem roten Feuer hervor und flossen in den Raum hinein. Erst waren es nur einzelne, wenige, aber es wurden immer mehr und mehr. Wann immer sie gegen eine Wand auftrafen, wurden sie gebrochen und zurück in den Raum geworfen. Bis schließlich die gesamte Behausung von einem Spinnennetz aus weißem Licht durchzogen war. Auch Faloee selbst wurde davon getroffen. Doch das war nicht weiter schlimm. Denn das magische Licht war so sanft und weich in jeder seiner Berührungen, als wäre es ein milder Frühlingswind. Sein Glanz spiegelte sich in Faloees schönen, sanft und weise blickenden, grauen Augen. Das Licht überzog ihr blasses, scheinbar altersloses Gesicht und schimmerte auf ihren langen, welligen, hellbraunen Haaren. Faloee lächelte. Sie war mit ihrem Werk zufrieden. Alles würde nun von dunklen Energien gereinigt und so erneuert werden. Der Segen für ihre Heimstadt hatte gewirkt. Das rote Feuer würde mit seiner Wärme die klamme Kälte des vergangenen Winters aus allen Ecken und Ritzen vertreiben. Und viel mehr noch, würde sein weißes Licht alle dunklen Energien des vergangenen Jahres in ihrem Versteck aufspüren. Es würde sie ausleuchten bis sie selbst in helles Licht gewandelt wurden. Oder aber bis sie vergingen, lautlos, ganz so, als seien sie nie gewesen. Faloee runzelte nachdenklich die Stirn. In dieser Sache war sie sich nie ganz sicher. Wurde die dunkle Energie nun vom Licht gewandelt oder getilgt?! Schließlich zuckt Faloee mit den Schultern. Vielleicht konnte sie dieses Rätsel eines Tages noch für sich lösen. Jedenfalls konnte erst nach dieser magischen Reinigung wirklich etwas Neues beginnen. Nun erst würde der neue Jahreszeitenzyklus gesegnet sein. Faloee lächelte und sprach die abschließenden rituellen Worte: „Hiermit verabschiede ich mich dankbar vom alten Jahr und heiße das neue Jahr willkommen!“ Und kaum hatte sie diese Worte ausgesprochen, löste sich das weiße Lichtnetz auf und floss zurück in das Feuer. Dieses zischte einmal laut auf, dann war alles wieder still. Und wo eben noch ein auffälliges, blutrotes Feuer gezüngelt hatte, brannte nurnoch eine einfache, kleine gelbe Flamme. Faloee richtete sich auf und klopfte sich zum Zeichen einer geleisteten Energiearbeit lautstark die Hände aneinander ab. „So“, sprach sie, „es wird nun höchste Zeit für unseren wichtigsten Gast heute.“ Faloee öffnete die Haustür und zog die schweren Vorhänge an den Fensteröffnungen zur Seite. Dann stellte sie sich an die offene Tür und machte eine große, einladende Armbewegung, wobei sie anmutig den Kopf neigte, bis ihr langes Haar fast den Boden berührt hätte. Ganz so, als wolle sie den jungen Morgen zu sich einladen. Und der junge Morgen schickte sich an, dieser Einladung zu folgen und trat ein. Frische, klare Luft glitt durch die Tür ins Innere. Blasses, scheues Sonnenlicht lugte durch die Fensteröffnungen und nahm dann in schmalen Lichtstreifen auf Tisch, Bett und Steinboden Platz. Der junge Morgen, wie immer von aller bester Laune, begann munter drauf los zu plaudern. Er erzählte Faloee auf ganz eigene Weise von seinem guten Freund, dem Wald. Denn er trug erdig würzige Gerüche von Moosflächen und Baumwipfeln, Pilzkreisen und Schneckenspuren mit sich. Und wie er so von den Waldbewohnern erzählte, füllte sich nach und nach scheinbar auch die Wohnstube mit all diesen Pflanzen und Tieren. Bis sie selbst zu einem kleinen Stück Wald wurde. Ein kleines Stück jenes Waldes, der direkt hinter Faloees Behausung lag. Groß, dunkel und wild war er. An machen Tagen, vor allem im Sommer, aber auch lieblich, hell und sanft. Voller ewig alter Laubbäume, verlief er von Ost nach West wie eine unendlich lange Mauer aus Grün hinter Faloees Haus entlang und erstreckte sich von dort aus tief in den Süden hinein. Faloee war es zufrieden. Jetzt, nachdem der neue Morgen des neuen Jahres in Faloees Wohnstätte Einzug gehalten hatte und es damit ebenfalls gesegnet und erneuert hatte, konnte Faloee endlich zu ihrem Tagwerk übergehen. Heute würde sie dringend einmal wieder aufräumen müssen entschied sie. Und gerade jetzt war ein sehr passender Moment dafür, um das Alte zu ordnen. Unter Aufräumen verstand Faloee jedoch etwas anderes als die meisten. Und sie tat es, auf ihre ganz eigene, ungewöhnliche und magische Weise. Außerdem war Faloees Behausung zwar sehr einladend und gemütlich, aber viel zu angefüllt mit einer Unmenge an nützlichen Sachen, als das man wirklich von Aufräumen hätte sprechen können. Es herrschte bei ihr eher ein gut geordnetes Durcheinander an Dingen. Alles hatte seinen Platz und alles wurde auch dauernd gebraucht. So etwa die vielen getrockneten Kräuter- und Pflanzenbüschel, die von der Decke hingen. Die große Zahl an Körben voller Steine, einige davon grau, andere bunt, die einen glatt, die anderen scharfkantig. Und nicht zu vergessen die vielen Tonkrüge mit bereiteten Salben aus Pflanzenöl oder dicker Paste aus gekochten Wurzeln. Über all dem schwebte ein betörend geheimnisvoller, beruhigender Duft, der sich aus dem Geruch all dieser Dinge vereinte. Und deshalb bedeutete aufzuräumen für Faloee, alle ihre Vorräte auf ihre weitere Verwendbarkeit hin zu prüfen. Denn so konnte sie erkennen, wie es um die Verfügbarkeit der von ihr benötigten Energieträger stand. Als erstes nahm sich Faloee die Heilpflanzen vor. Die, welche nicht winterhart waren und die sie deshalb im vergangenen Herbst aus ihrem Garten