Günther Klößinger

Schnee von gestern ...und vorgestern


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zu versetzen. In diesem Moment klingelte das Telefon.

      „Ich sagte ‚einsam‘“, knurrte Else in Richtung des Geräts. Erneutes Klingeln.

      „Wenn du das bist, Mr. Mathe, kannst du was erleben!“ Angriffslustig riss Else den Hörer von der Gabel und meldete sich: „Zentrale Beschneidungsstelle, was kann ich für Sie tun?“

      Kurzes Schweigen. Else triumphierte bereits innerlich, doch dann erklang fröhliches Gelächter aus der Hörmuschel.

      „Hallo“, prustete es am anderen Ende, „hier Ilka! ich wollte nur mal hören, wie’s dir geht.“

      „Ilka? Entschuldige bitte, ich dachte …“

      „Schon gut, Else, und weiter so. Aber mal was anderes: Suchst du nicht einen Job?“

      „Na ja, nachdem ich jetzt hier die Miete zahle, auch was essen will und Fox seine Kohle mehr für dich braucht …“

      „Wie bitte?“ Ilkas gute Stimmung war verflogen.

      „Entschuldige, Ilka! Ich wollte dich nicht … weißt du, ich bin bloß …“

      Jetzt, wo sie es nicht brauchen konnte, machte sich das Selbstmitleid in ihr breit. Es blähte sie auf wie einen Ballon, dessen Ventil in der Tränendrüse steckte. Heiße Tropfen fielen auf das Telefon. Else schluckte. Mit traurigem Stolz stellte sie fest, dass sie es wenigstens schaffte, ihr Schluchzen im Hals zu halten.

      „Schon gut. Also, interessiert dich nun der Job?“

      „Worum geht’s denn?“, fragte Else.

      „Die Redaktion plant eine Artikelserie über ungelöste Verbrechen der letzten fünfzig Jahre, die hier in der Umgebung …“

      „Ich habe keinen Zugang mehr zu Polizeiakten, falls du das meinst, Ilka.“

      „Nein, aber Gregor Brand war völlig begeistert von meinem Vorschlag, dich als Autorin für die Serie zu gewinnen.“

      „Hm … und du denkst …?“

      „Du bist den Leuten noch immer ein Begriff – und eine anerkannte Spezialistin obendrein. Na, wäre das nichts?“

      Beide schwiegen kurz. Gedankenverloren wischte Else die Tränen von ihrem Telefonapparat. „Ich überlege es mir mal …“

      „Aber nicht zu lange, Else. Ich habe dir einen Termin für Montagmorgen in der Redaktion reserviert!“

      „Wie bitte? Du kannst doch nicht einfach …“

      „Entschuldige, Else, ich wollte dich nicht überrumpeln, aber du weißt doch, dass Fox und ich morgen früh Richtung Frankreich aufbrechen!“

      „Stimmt ja“, sagte Else und verschwieg, dass sie das neue Liebesglück ihres Exmannes ab und zu verdrängte. Sie mochte Ilka, und gerade deswegen tat es Else oftmals weh, die junge Reporterin Seite an Seite mit Fox zu sehen. Letztlich konnte sie nicht anders, als sich für die beiden zu freuen. Ihre eigenen Enttäuschungen musste sie in jenen Momenten hinunterschlucken, und das war schmerzlich. Viel lieber wäre sie wütend oder schadenfroh und könnte sich mit Aggressionen von der gähnenden Leere auf dem eigenen Glückskonto ablenken.

      „Nun, wie steht’s?“, fragte Ilka. Ihre Stimme verriet einen Anflug von Ungeduld.

      „Ich werde da sein. Um wie viel Uhr?“

      Farbe und Schweiß flossen auf Jessicas Stirn ineinander. Mit dem Handrücken wischte sie sich Tünche von der Nase. Sie kniete vor einem übervollen Putzeimer. In einer mörtelgrauen Soße schwamm ein verklebter Klumpen. Er hatte sein früheres Leben als Wischlappen wohl in Ausübung seiner Pflicht endgültig ausgehaucht.

      „Mein Rückgrat muss dringendst zur Reparatur“, stöhnte Jessy, als sie den Kübel anhob, um ihn hinauszuschleppen.

      Robert kämpfte sich soeben verzweifelt durch einen Berg aufgeweichter und zerknüllter Zeitungsbögen. Leise vor sich hin fluchend, versuchte er, den Unrat nach und nach abzutragen und in Müllsäcke zu stopfen.

      „Sagt mal“, fragte er dabei, „wollte diese Jeannie nicht auch vorbeikommen und mithelfen?“

      „Eigentlich schon.“ Jasmin blickte von ihrer Arbeit auf. „Sie wusste zwar noch nicht, ob sie Zeit hat, wollte aber anrufen, falls ihr was dazwischenkommt.“

      Nick bemühte sich, nicht zu grinsen. Jeannie war eine alte Bekannte seinerseits. Er hatte sie und die Märchenprinzessin miteinander bekannt gemacht, aber inzwischen hatte er das schon oft bereut. Seit Jasmin Jeannie und diese Ilka Trebes kannte, hatte sie immer weniger Zeit für ihn. Jeannie hier, Ilka da. Wenigstens hatten Jassy und er noch ihre Band, zusammen mit Jessy und Robby, sonst gäbe es kaum noch gemeinsame Unternehmungen. „Zweisamkeit“ schien mehr und mehr zum Fremdwort zu werden. Darüber hinaus hatte Jeannie Jasmin eine dunkle Haarfarbe verpasst, was Nick gar nicht gefiel: Die einstmals goldblonde Mähne war mittlerweile fast schwarz, womit seine Freundin aussah wie Ilkas Zwillingsschwester. Und so verhielt sie sich in seinen Augen auch. Sie hatte sogar begonnen, sich genau so zu kleiden wie die neue Flamme im Hause Prancock. Als diese kürzlich eine schwarze Lederjacke im Schnäppchenmarkt abgesahnt hatte, musste Jasmin natürlich unbedingt dasselbe Modell haben. Nick sehnte sich nach Jasmins Märchenblond zurück. Für ihn war sie immer eine Prinzessin gewesen, aber mit den schwarzen Haaren und der Lederkluft sah sie eher aus wie eine Rockerbraut. Als er diesem heiklen Thema einmal nicht ausgewichen war, hatte sie nur gelacht und gemeint: „Vielleicht solltest du dich auch mal verändern, mein großer Zauberer. Wie wär’s mit Smaragdgrün? Übrigens: Jessy findet, ich sei kein Blondchen und Schwarz stünde mir besser. Außerdem wirkt es auf der Bühne total klasse!“

      Er konnte sich den Anflug eines bitteren Grinsens letztlich nicht verkneifen. Sollten sie sich doch wundern, wo Jeannie blieb. Vor einer guten Stunde hatte Nick einen der unzähligen Müllsäcke voller zerknüllter Papierfetzen hinausbringen wollen. Im Flur war er an der Uraltgarderobe vorbeigekommen, an der auch Jasmins Jacke hing. Er hatte sich und den Müll gerade durch die Tür ins Treppenhaus zwängen wollen, als „Für Elise“ zu ihm herüberpiepte.

      „Geh doch ran!“, hatte Jasmin vom Wohnzimmer aus gerufen. Laut und theatralisch ächzend stellte Nick den Müll in ein Eck. Dann griff er in die Seitentasche ihrer Jacke. Das Holz des altmodischen Kleiderständers „Marke Sperrmüll extra“ ächzte bedrohlich, als Nick das Handy hervorzog. Beethovens größter Hit im Sound telekommunikativer Alltagsetüden nervte ihn nun noch lauter an. Gerade, als er den Anruf entgegennehmen wollte, sah er, dass Jeannies Nummer auf dem Display leuchtete. Jetzt, wo alles so gut wie gelaufen war, meldete sich Madame! Selbst zum Aufräumen wäre sie zu spät dran! Aber wahrscheinlich wollte sie sich zur gemütlichen Pizza danach einladen. Und das hätte zur Folge, dass Nick den Rest des Abends wieder mal die zweite Geige spielen würde. Grinsend drückte er auf „Auflegen“ und schaltete das Handy dann ganz ab.

      „War schon weg, Prinzessin!“, hatte er in Richtung Wohnzimmer gerufen und dann fröhlich pfeifend den Abfall entsorgt.

      Kaum war er von draußen zurück, hatte Jasmin bereits zwei weitere Müllsäcke vollgestopft und ihm mit einer kurzen Geste bedeutet: „Deine Aufgabe!“ Das ging noch rund eine halbe Stunde so weiter. Schleppen, schleppen und noch mal schleppen – Papiermatsche, Krimskrams, Uraltmöbel und leere Farbkübel.

      Inzwischen war Jessica fast fertig damit, verhärtete und widerborstige Breitbandschreiber in geschmeidige Pinsel zurückzuverwandeln. Robert brachte den allerletzten Müll raus und das Einräumen würde Zeit bis morgen haben. Nach einem kurzen Blick in die Runde waren sich schließlich alle einig: „Schluss für heute!“

      Ein bisschen sauer waren sie auch auf die treulose Jeannie.

      „Sie hätte sich wenigstens mal melden können“, maulte Jessica, aber Jasmin wechselte flugs das Thema: „Wollen wir noch auf ’ne Pizza zu ‚Fredo‘? Hatten wir doch so angedacht!“

      „Typisch“, dachte sich Nick, „seit die heilige Ilka dort öfters speist, ist Ginos Eiscafé schon Schnee von gestern.“

      „Ich