Günther Klößinger

Schnee von gestern ...und vorgestern


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      „Ja“, murmelte Robby, „und entweder sind die Pyrofreaks gestört worden …“

      „… oder es hat einfach nicht geklappt!“, beendete Nick den Gedanken.

      Jassy schluckte. Die letzten Reste ihrer Beherrschung und Vorsicht implodierten in diesem Moment. „Jeannie!“, schrie sie. Die andächtige Museumsruhe verließ fluchtartig den Raum. Ohne irgendwen auch nur eines Blickes zu würdigen, rannte Jasmin die Treppe hinauf. Instinktiv folgten ihr die anderen. Sie polterten über klobige Stufen nach oben, bis sie schließlich vor dem Wohnzimmer standen. Zitternd und keuchend lehnte Jasmin an der Wand. Ihre Augen starrten seltsam entrückt ins Leere. Jessica versuchte die Situation wenigstens im Ansatz zu überblicken und schaute im Halbdunkel umher.

      Die Tür hing nur noch an einer einzelnen Angel und drohte jeden Moment herauszufallen. Das Schloss war geborsten: Holzsplitter und Schrauben waren bis weit in den Raum hineingeflogen. Die Tür musste mit ungeheurer Gewalt eingeschlagen worden sein. Jasmins Augen tasteten wie Nachtsichtgeräte das Wirrwarr aus umgeworfenen Möbeln, zerbrochenem Geschirr, zerborstenen Regalen und zertretenen Kunstgegenständen ab. Jessy trat in den Raum und betätigte den Lichtschalter. Das Ausmaß der Zerstörung war noch schlimmer, als die Schatten hatten vermuten lassen. Jasmin biss sich in eine Handfläche. Sie war sich sicher, dass sie weinte, aber keine einzige Träne rann über ihre Wangen. Niemand sprach ein Wort. Nick und Robert versuchten sich einen Weg durch das Chaos zu bahnen, hoben und schoben Möbel beiseite. Schließlich rissen sich Jassy und Jessy aus ihrer Starre und begannen ebenfalls, Regale und Tische herumzuwuchten. Das Schweigen quälte, aber die Furcht, dass Worte noch grausamer sein könnten, ließ die Freunde nicht los. Und doch musste Jessica schließlich etwas sagen: „Da!“, stieß sie hervor. „Da unter dem Bücherregal!“

      Nick ließ augenblicklich einen Stuhl fallen und Jasmin schob eine Kommode achtlos beiseite. Auch Robert unterbrach den Versuch, eine massive Tischplatte auf die dazugehörigen vier Beine zu hieven. Die drei starrten zu Jessy hinüber, die in der Hocke vor einem hellen, grotesk verschobenen Lattenregal saß. Darunter lugten zwei Füße hervor. Die Freunde brauchten nicht einmal Blickkontakt aufzunehmen, um sich abzusprechen: Nick packte das obere Ende, Robert das untere, dann hoben und stemmten sie das Holzgestell beiseite. Ein verwirrendes Gemenge unterschiedlichster Bücher bedeckte den Boden. Romane, Bildbände, Sachbücher – alles, vom fetten Wälzer bis zur windigen Broschüre, verkeilte sich ineinander, türmte sich an einigen Stellen bedrohlich auf und bot ein Bild von undurchdringlichem Chaos.

      Jasmins Blicke zuckten hektisch umher. Unter einem zeltartig aufgerichteten Weltatlas erhaschte sie zarte, bleiche Finger. Die Zeit schien eingefroren zu sein. Alle starrten die blasse Hand an. Nur langsam trat Gewissheit in die Gedanken der vier. Der Schock lockerte seinen Klammergriff und plötzlich hatten ein paar Füße und einige fahle Finger wieder einen Namen: „Jeannie!“

      Jasmin stürzte an Jessica vorbei und begann mit ihren Händen die Bücher wegzuschaufeln, als ginge es um Schotter und Geröll. Jessy half ihr dabei. Nick und Robert lehnten das Regal in eine Ecke, wo es niemandem mehr gefährlich werden konnte. Dann begannen sie wie betäubt, sich ebenfalls durch den Bücherberg zu graben.

      „Jeannie! Bitte sag was!“, schluchzte Jasmin. Ein unansehnliches Gemisch aus Malerfarbe, Tränen und Rotz tropfte ihr vom Kinn.

      Die vier Freunde räumten hastig noch ein paar wuchtige Lexika zur Seite, als Jeannies Kopf zwischen den Büchern erschien. Sie hatte die Augen geschlossen, der Mund war halb geöffnet. Blutverkrustete Haare hingen ihr wirr ins Gesicht. Die Oberlippe war aufgeplatzt, rote Rinnsale aus der Nase und von verschiedenen Verletzungen hatten Grinde gebildet. Wie eine Besessene packte Jasmin Bücher und warf sie beiseite. Einige Male schnitt sie sich dabei an scharfen Papierkanten. Die drei anderen hatten innegehalten und blickten ihre Freundin stumm an. Sie wussten nicht, was sie tun oder sagen sollten.

      Nick sah in Jeannies regloses Gesicht. Ihm wurde schlecht; Jasmins Handy tanzte wie ein böser Kobold durch seine Innenwelten, „Für Elise“ riss als ohrenzerfetzende Klangkaskade an seinem Nervenkostüm. Im selben Moment traten die Schuldgefühle dem Jungen mit aller Wucht in die Magengrube und brachten die Galle zum Köcheln. Aus dem verzerrten Klingelton trat Hohngelächter und schließlich eine anklagende Stimme.

      „Warum schaltest du mich denn diesmal nicht ab?“, schien das Telefon Nick zu fragen. „Nun sag schon! Warum?“

      Allmählich wurde ihm klar, dass das Piepen keine Ausgeburt seiner Imagination war. Jassys Handy klingelte tatsächlich, doch außer dem von Schuld gebeutelten Zauberer registrierte es niemand.

      Endlich hatte Jasmin Jeannies reglosen Körper völlig freigelegt. Sie setzte sich neben das blutige Bündel und hob den Kopf ihrer Freundin vorsichtig an. Sanft streichelte sie das zerschundene Gesicht. Tränen fielen herab und vermischten sich mit Blut. Wilde Weinkrämpfe schüttelten Jasmin durch.

      „Jeannie! Sag doch was! Bitte! Bitte sag was!“

      „Komisch“, sagte Ilka und steckte ihr Handy wieder ein, „der Ruf ist hingegangen, aber keiner hat abgehoben!“

      Fox zuckte mit den Schultern, soweit ihm das unter der Last zweier übervoll gepackter Reisekoffer möglich war.

      „Lass mal, Kätzchen! Wahrscheinlich feiern sie den erfolgreichen Renovierungstag bei ,Fredo‘ und amüsieren sich einfach nur gut.“

      Ilka schluckte. Natürlich hatte ihr Freund recht. Der Gedanke, loszufahren, ohne sich von Jasmin verabschiedet zu haben, schnürte ihr dennoch die Kehle zu. Sie müsste eigentlich die böse Stiefmutter für Fox’ Töchterlein sein, aber zwischen den zweien hatte sich ein sehr herzliches Verhältnis entwickelt. Beide hatten das Gefühl, endlich die Schwester bekommen zu haben, die sie sich ein Leben lang gewünscht hatten. Ilka seufzte und beschloss, Jasmin so bald wie möglich von unterwegs aus eine SMS zu schicken.

      „Willst du wirklich die ganze Nacht durchfahren, Fox?“

      „Klar, Liebling. Dann sind wir vielleicht am späten Nachmittag oder am frühen Abend schon in einer lauschigen Pension.“

      „Na, hoffentlich in keiner lausigen!“

      Prancock verstaute die letzten Koffer im Auto, knallte die Heckklappe zu und ging um den Fiat herum.

      „Unser erster gemeinsamer Urlaub! Klasse, was? Eine Woche kein Steffens, kein Häfner, keine Else …“

      „… und keine Jasmin“, dachte Ilka ein bisschen wehmütig. Dann beschloss sie aber, sich doch zu freuen. Verabschiedung per SMS war schließlich auch eine Option – noch dazu eine sehr zeitgemäße. Als Fox sie nun mit beiden Armen umfasste, leicht hochhob und küsste, fühlte sich Ilka fast wie im Film: „Klappe: gemeinsamer Urlaub! Der erste!“

      Samstag

      Worte flogen auf sie zu, Hunderte, Tausende und Abertausende von Wörtern, Zitaten, ganzen Romanen. Mehr wurden sie, immer mehr, bis sie glaubte, in einem Meer von Buchstaben zu ertrinken.

      „Merkwürdig“, dachte sie, „wo sind eigentlich die Schmerzen?“

      Ihr Versuch, ihre Wunden zu ertasten, misslang. Obwohl sie ihre ganze Kraft zusammennahm, schaffte sie es nicht, auch nur einen Finger zu bewegen. Weniger und weniger Luft drang in ihre Lungen; die Buchstaben sirrten umher wie ein immer dichter werdender Schwarm Fliegen.

      „Weg! Weg!“, wollte sie den insektengleichen Wesen zurufen, aber kein Laut drang aus ihrem Mund. Mehr und mehr Buchstaben – oder Fliegen? – kamen zusammen, bildeten eine dunkle, haarige Wolke. Die junge Frau wollte den Arm heben, die Mücken verscheuchen. Abermals versagten ihre Glieder den Dienst.

      „So ist er also, der Tod!“, dachte sie, nun merkwürdig entrückt. „Ein Haufen Schmeißfliegen, die dir als Buchstaben verkleidet deine Lebensgeschichte vor die Augen schreiben.“ Ihre weiteren Gedanken schafften es nicht mehr, sich zu Worten zu formen, nur schrecklich überdimensionale Visionen von borstigen, geflügelten Tieren. Die krabbelten ihr in Nase und Mund, legten schleimige Larven unter einer erstarrten Zunge ab und krochen weiter, hinab in diesen dunklen Schlund, wo ein letzter Schrei vergeblich