Günther Klößinger

Schnee von gestern ...und vorgestern


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Eitelkeit zurecht, „dass wir in puncto Abendgarderobe und Körperhygiene momentan nicht unbedingt den Standards dieser Lokalität entsprechen.“

      Sie blickten sich in die verschmierten Gesichter, begutachteten ihre verklecksten Klamotten und lachten los.

      „Okay, dann in eineinhalb Stunden bei Fredo, ja?“, schlug Jasmin vor, wobei sie sich beinahe verschluckte. „So spät ist es ja noch nicht.“

      Sie gingen in den Flur, zogen ihre Sommerjacken über und beratschlagten weiter. Aus Gewohnheit griff Jasmin in die Seitentasche und zog ihr Handy hervor.

      „Nanu? Das ist ja aus?“

      Verwundert sah sie Nick an. Dieser war froh, dass weiße Kleckse in seinem Gesicht die aufsteigende Röte verdeckten. Er zuckte mit den Schultern und meinte beiläufig: „Vielleicht ist der Akku leer.“ Dabei nestelte er betont umständlich an seiner Kapuze herum, um Jasmin nicht in die Augen sehen zu müssen.

      „Habe ich doch frisch geladen“, murmelte diese und schaltete das Mobiltelefon an.

      „So was kommt manchmal vor!“, sagte Robert.

      „Ich höre mal schnell die Mailbox ab!“

      „Muss das sein?“, warf Nick ein. „Zu spät sollten wir auch nicht los!“

      „Geh doch schon mal, wenn du’s eilig hast!“, pflaumte Jassy ihn an und drückte eine Kurzwahltaste.

      Beleidigt wandte sich Nick zum Gehen, doch Jessica packte ihn am Ärmel und zwinkerte ihm frech zu. Sie wollte die Situation mit einem ihrer unschlagbaren Scherze entschärfen, hielt aber plötzlich inne. Irgendetwas stimmte nicht. Jasmin schien unter der kalkweißen Schicht aus Tünche jede Farbe verloren zu haben. Sie zitterte am ganzen Körper, ihre grünbraunen Augen starrten erschreckt ins Leere. Auch die beiden Jungs bemerkten, dass Jassy kurz vor einem Kollaps zu stehen schien. Nick wusste, dass er seiner Freundin eigentlich beistehen müsste, bewegte sich aber nicht. Instinktiv spürte er, dass er etwas verbockt hatte.

      Jessica trat zu Jasmin und legte ihr behutsam einen Arm um die Schultern. Mit der anderen Hand ergriff sie das Telefon. Als wäre dies ein geheimes Signal, schlug Jassy reflexartig die Hände vors Gesicht. Sie wollte schreien, doch sie konnte nicht. Sanft zog Jessy die zitternde Freundin an sich und streichelte ihr zart den Rücken. Gleichzeitig rief sie die Nachricht auf der Mailbox erneut ab. Obwohl sie nur eine Hand frei hatte, drückte sie die „Sieben“ für „Nachricht wiederholen“. Dann presste sie das Gerät an ihr Ohr.

      Zunächst glaubte Jessica, nur Störgeräusche zu hören. Schnell wurde ihr jedoch klar: Die seltsamen Laute gingen nicht auf das Konto einer wackeligen Netzverbindung. Dröhnendes Trommeln und wildes Klopfen schepperten ihr aus der Muschel entgegen. Dann hörte sie keuchenden Atem und schließlich eine Stimme, die vor Panik und Angst bebte: „Jasmin? Oh Gott, Jasmin! Komm schnell!“

      Jessica schluckte. Schweiß trat ihr auf die Stirn. Als Gag-Spezialistin wusste sie sofort: Das hier war kein Scherz. Immer bedrohlicher schwoll das Klopfen im Hintergrund an. Das Getöse drohte die Stimme zu übertönen.

      „Oh nein, sie sind tatsächlich gekommen! Bitte hilf mir! Jasmin, bitte!“

      Das war eindeutig Jeannie. Sie bemühte sich, leise zu reden. Als das brutale Hämmern zu einem irren Stakkato anwuchs, begann sie zu schreien.

      „Die legen mich um! Bitte komm schnell! Bring Nick mit – und die anderen! Bitte! Helft mir! Um Himmels willen, ihr müsst mir helfen!“

      Das Trommeln und Klopfen wich einem ohrenbetäubenden Krachen. Dumpfes Gelächter, unverständliches Gebrabbel und unartikuliertes Grölen – eine Kaskade der Gewalt schoss so bedrohlich durch die Leitung, dass es Jessy eine Gänsehaut nach der anderen über den Körper jagte. Sie fühlte sich, als wäre sie selbst mit dabei, als gelte der gnadenlose Angriff ihr. Eine irrationale Angst packte sie, die inneren Bilder verselbstständigten sich. Da waren Männer mit Knüppeln. Der Mob raste auf sie zu, johlende Hooligans schwangen ihre Stöcke. Als ihr Jeannies Schreie schrill in den Ohren hallten, zuckte Jessica unweigerlich zusammen. Ihr Kopf drohte zu platzen.

      „Bitte, Jassy, mach schnell. Aber kein Wort zu deinem Vater! Hast du verstanden? Das ist wichtig! Keine Polizei! Sonst …“

      Undefinierbare Geräusche unterbrachen den Hilferuf. Nervtötendes Knacken, Zischen und Rauschen verwies darauf, dass die Verbindung kurz vor dem Kollaps stand.

      „Oh nein, es ist zu spät!“, schrie Jeannie. „Hilfe! Kommt schnell! Bitte!“

      Das letzte „bitte“ war nur noch ein Kreischen. Erneut krachte ein Donnerschlag. Holz splitterte. Atmosphärische Störungen verzerrten höhnisch gegrölte Drohungen bis zur Unverständlichkeit. Mit einem Male wurde das tobende Chaos von elektronischem Knistern verschluckt. Ein letztes mechanisches Knacken klang noch aus dem Hörer, dann nichts mehr. Nur eine freundliche Computerstimme, die meldete: „Ende der neuen Nachrichten. Zum Wiederholen bitte die ‚Sieben‘ drücken!“

      Ilka steckte den Schlüssel ins Schloss. Ein wenig merkwürdig fand sie es schon, mit welcher Selbstverständlichkeit sie inzwischen hier ein und aus ging. Noch vor sechs oder sieben Wochen war sie verschüchtert vor ebendieser Wohnung gestanden, um ein Interview zu erbitten. Mittlerweile war sie hier eingezogen, sehr zum Entsetzen ihrer Eltern. Diese hatten Ilka in der Provinz für sicher gehalten, was „intime Affären“ betraf. Als langjährige Boulevardreporter dachten sie wohl stets in solchen Kategorien. „Beziehungen“ oder gar „Lebensgemeinschaften“ gab es in der Welt der Regenbogenpresse nicht, sondern nur „Affären“.

      Ilka hielt kurz inne, bevor sie durch die Tür trat. Schmunzelnd dachte sie an den Moment zurück, als sie mit Fox vor der elterlichen Haustür in Berlin gestanden hatte. Es war ihr ein großes Bedürfnis gewesen, Vater und Mutter den Freund vorzustellen. Dem Herrn Papa war die Kinnlade so weit heruntergeklappt, als wollte er den Wannsee ausschlürfen. Frau Trebes hatte die Augen zusammengekniffen und Prancock von oben bis unten abschätzig gemustert. Mit einem eisgekühlten „Hier!“ hatte sie ihm schließlich einen Platz angeboten.

      „Vielleicht hätte ich ihnen doch schon vorher mehr über Fox erzählen sollen!“, war Ilka in jenem Moment durch den Kopf geschossen. Doch als sie im Vorfeld Fox’ Beruf erwähnt hatte, war ihr bereits aufgefallen, dass sich die Freude ihrer Eltern sehr in Grenzen hielt. Sie hatten sich für ihre Tochter etwas ganz anderes erträumt. Um weitere Enttäuschungen erst einmal abzuwenden, hatte Ilka es bei ihren regelmäßigen Telefonaten vermieden, auch Fox’ Alter anzusprechen. Nachdem dann statt einem jungen, dynamischen Ermittlungsyuppie ein Mann vor Papa und Mama Trebes stand, der ihrer eigenen Generation wesentlich näher war als der ihres Kindes, war ihnen sofort klar: „Oh Gott, unsere Kleine ist an einen Lustgreis geraten!“

      Dennoch musste Ilka bei diesen Erinnerungen lächeln: Fox hatte sich sehr bemüht, den Anti-Gentleman nicht hervorzukehren. Mit einigen amüsanten Anekdoten aus seiner Biografie war es ihm sogar gelungen, Ilkas Mutter ein verschämtes Kichern abzuringen. Dieses war allerdings augenblicklich wieder erstorben, als er von seiner Tochter im Teenie-Alter erzählt hatte.

      Entschlossen riss sich Ilka los von den Gedanken an jenen Abend und drückte die Klinke herunter. Sie betrat die kleine Diele.

      „Hallo, Liebling!“, rief sie in Richtung Küche, wobei sie die Tür hinter sich zuschob. Keine Antwort.

      Ilka sah sich um: Der alte, speckige Trench hing wie immer völlig schief an der Garderobe, also musste Fox zuhause sein. Sie ging in die Küche. Die knochigen Überreste einer Schnellmahlzeit vom Hähnchenstand gegenüber fetteten den Esstisch und eine Fernsehzeitung ein. Plötzlich hörte Ilka es: Lautstarkes Stöhnen kam aus dem Schlafzimmer, begleitet vom Quietschen des Bettgestells. Schlagartig fiel ihr wieder die spätere Gardinenpredigt ihrer Eltern ein. Sie hatten nach besagtem Abend – natürlich nur aus rein journalistischem Interesse – einiges über Fox Prancock zusammengesammelt: Zeitungsmeldungen, Radioberichte, Kommentare, sogar noch aus seiner Zeit bei der englischen Kriminalpolizei.

      „Der Mann“, hatte ihr Vater halb entsetzt, halb triumphierend in die Muschel gehechelt, „ist für seine sehr lockere