Günther Klößinger

Schnee von gestern ...und vorgestern


Скачать книгу

Ein Wort, eine Frage, die die Furcht am Brodeln hielt. Ein anderes Wort befreite sich hingegen aus den Fängen der Todesgewissheit. Zuerst kam es nur wie ein Röcheln an die Oberfläche, dann barst es aus der jungen Frau heraus: „Nein! Nein! Nein!“ – immer und immer wieder „Nein!“, dieser Schrei sollte nicht vergeblich gewartet haben, er schoss ungebremst hervor. Mit ihm schwand das Gefühl, zu ersticken. Es drang kein Fliegenschwarm in den Mund, sondern frische Luft. Mit einem Mal war alles weg: die Buchstaben, die Fliegen. Und auch die Hand ließ sich wieder bewegen. Sie hob sie, ließ sie aber sofort wieder sinken.

      Verwundert sah Jeannie sich um. War das alles nur ein Traum gewesen – die Schlägertypen, die bei ihr eingedrungen waren, sie zusammengeschlagen und ihre Wohnung verwüstet hatten? Hier war doch alles in Ordnung: Die Regale standen noch, die Stühle waren ordentlich unter den Tisch geschoben, die Bilder hingen an den Wänden.

      Kälte stieg in Jeannie hoch, breitete sich aus bis in die letzte Faser ihres Körpers. Ein heftiges Zittern schüttelte sie. Hier war sie nicht zuhause. Verwirrt sah sie sich um. Eine warme Hand legte sich behutsam auf ihre Stirn. „Ganz ruhig, Jeannie! Es wird alles gut!“

      Jeannie zuckte zusammen. Die plötzliche Berührung erschreckte sie. „Jasmin? Oh Gott, Jasmin. Ich dachte schon, alles ist aus!“

      Jassy kniete neben dem Sofa, auf das sie Jeannie gebettet hatten. Sie streichelte ihrer Freundin zart durch die Haare und zog mit der anderen Hand behutsam eine Decke zurecht. Jeannie entspannte sich etwas, das Zittern ließ nach.

      „Bleib nur ruhig liegen. Du bist nicht schlimm verletzt. Das wird alles wieder!“

      „Um Himmels Willen“, schreckte Jeannie hoch, „habt ihr mich etwa zu einem Arzt gebracht? Der informiert bestimmt die Polizei, und ich muss doch …“

      Sanft, aber bestimmt unterbrach Jasmin Jeannie und legte ihr einen Arm um die Schulter.

      „Keine Angst. Du bist bei Penny. Die anderen wollten Polizei und Krankenwagen rufen, aber ich habe vorgeschlagen, erst Penny Bescheid zu sagen. Ihre Schwester arbeitet doch im Krankenhaus, und die hat als Freund ’nen Arzt an der Angel. Er hat dich untersucht und gesagt, du brauchst vor allem Ruhe.“

      „Ich muss dir das alles erklären, Jasmin. Weißt du, ich, ich …“ Jeannie versuchte sich aufzurichten.

      Jasmin lächelte und schob Jeannie bedächtig auf ihren Kissenberg zurück. „Dafür ist später noch Zeit. Hast du Durst?“

      Statt einer Antwort nahm Jeannie nur Jassys Hand, drückte sie an ihre Backe und ließ sich tiefer in die Kissen sinken. Schon bald verriet ihr gleichmäßiges Atmen, dass sie wieder eingeschlafen war.

      Robert staunte nicht schlecht, als er in Jessicas Armen aufwachte. Sicher, dies war nicht das erste Mal gewesen, dass sie eine Nacht miteinander verbracht hatten. Nur, dass sie völlig bekleidet, noch dazu mit farbverklecksten T-Shirts den Tag begannen, war neu. Außerdem lag neben dem Bett ein schnarchendes Etwas, das sich bei genauerem Hinsehen als Nick Winters entpuppte. Robert setzte sich auf und kratzte sich am Kopf. Jessica nuschelte schlaftrunken etwas in sich hinein und drehte sich von ihm weg.

      Er setzte sich auf die Bettkante, rieb sich die Augen und versuchte seine Gedanken zu ordnen: Erstens: Das alles war kein Traum gewesen. Zweitens: Echt Wahnsinn, keine Polizei zu rufen. Drittens: Wie spät war es eigentlich? Viertens: Er war froh, dass sie nicht bei Penny geblieben, sondern noch zu Jessica gegangen waren. Fünftens: Dummerweise fand Nick das auch. Robert hätte sich gern mit Jessy unter vier Augen über das seltsame Verhalten des Freundes am gestrigen Abend unterhalten. Dazu würde es nun wahrscheinlich erst nach dem Frühstück Gelegenheit geben.

      Irgendwo im Raum hörte er einen Laut, den er nur zu gut kannte: Eine SMS war auf Jessicas Handy angekommen. Er sah sich um und fand das Telefon zwischen seinen, Jessicas und Nicks Schuhen. Er nahm es und rief die Nachricht ab: „Jeannie geht’s ganz gut. Penny und ich machen Frühstück. Kriegsrat in einer Stunde bei P.“

      „In einer Stunde? Und was machst du, wenn hier alle bis heute Nachmittag durchpennen, werteste Jasmin?“, brummelte Robert das Handy an.

      Wieder ertönte das wohlvertraute Geräusch und erneut las Robby eine SMS: „Dann klingele ich euch eben raus! Jassy.“ Fassungslos stierte Robert auf das Display. „Das gibt’s doch nicht“, stammelte er, „langsam glaub ich doch an Hexerei.“

      Ein frisches Lachen schreckte ihn aus seinen Gedanken auf. Die neue Theorie zur Metaphysik blieb unvollendet. Er blickte zum Fenster hinüber: Sie hatten am frühen Morgen vergessen, die Jalousien herunterzuziehen, und so sah er, dass vor dem Haus nicht nur die Sonne strahlte, sondern auch Jasmin. Er trat heran und öffnete das gekippte Fenster ganz.

      „Du hast mich aber schön gelinkt, Jassy. Ich dachte, du machst Frühstück.“

      „Bin auf dem Weg zum Brötchenholen. Da hab ich dann das Rollo auf Halbmast gesehen und beschlossen, euch mit modernster Elektronik zu wecken!“

      Robby blickte in das schelmische Gesicht, in das er einmal hoffnungslos verliebt gewesen war. Noch immer stolperte sein Herz, wenn Jasmin ihm in die Augen sah. Und doch war er froh, nun Jessica an seiner Seite zu haben.

      „Wie geht’s Jeannie?“, fragte er nach.

      Jasmin hob kurz die Schultern und ließ sie wieder sinken.

      „Ihr tut noch alles weh“, sagte sie, „aber sie kann aufstehen. Das wird schon wieder!“

      „Und warum wollte sie keine Polizei?“, fragte Robby unverblümt nach.

      Wieder Achselzucken. Jasmin sah nachdenklich und betrübt an Robert vorbei. Sie sah Nick schlafend auf dem Boden liegen, eingerollt wie ein Baby.

      „Komisch“, dachte sie, „eigentlich müsste mir das Herz aufgehen, weil ich ihn hier sehe.“

      Ihr Herz aber blieb verschlossen. Robert hatte Jassys Seitenblick bemerkt, wurde aber aus ihrem unergründlichen Mienenspiel nicht schlau.

      „Weck die beiden und dann kommt! In einer dreiviertel Stunde gibt’s Frühstück!“ Mit diesen Worten ging Jasmin einfach weiter und floh damit auch vor den in ihr aufsteigenden Gefühlen.

      Blinzelnd sah Ilka sich um und konnte es kaum fassen: Der Geruch von Kaffee, die Melodie der französischen Sprache und das Licht der Morgensonne lagen wie träger Nebel in der Luft. Sie atmete tief ein, schloss noch einmal die Augen und strich sich mit der Zungenspitze über ihre Lippen: der Geschmack, der Geruch, die Laute um sie herum – das war zweifelsfrei Urlaub. Sie öffnete die Augen wieder. Fox trat, ein Tablett in der Hand balancierend, an den Tisch heran. Mit dem müden Anflug eines Lächelns zwinkerte er Ilka zu, stellte das Tablett ab und setzte sich auf einen roten Plastikstuhl.

      „Voilà, Madame!“, spielte er den Kellner und schob seiner Freundin eine Plastiktasse mit dampfendem Kaffee hin. Danach kam ein Tablett, auf dem ein mickriger Pappteller lag. Ein krümeliges Gebilde darauf, das wohl ein Croissant sein sollte, rundete das morgendliche Menü ab.

      „Dank des Euros wissen wir jetzt wenigstens genau, wie sehr man hier beschissen wird!“, brummte Fox und trank von seinem Kaffee.

      Ilka lächelte, schloss beide Hände um ihre Tasse und genoss, wie sich die Wärme von ihren Fingern aus im ganzen Körper verbreitete.

      Alles atmete den Hauch von Vorfreude und Unbeschwertheit. Der Zustand der Raststätte wäre in einem Restaurantführer mit „minus 25“ noch sehr freundlich bewertet, aber genau das gehörte für Ilka einfach zum Verreisen: die Muster aus Kaffeerändern und Krümeln auf weißen, angeschrammten Plastiktischen, der Geruch von billigem Kaffee und aufgebackenen Brötchen, der Klang einer fremden Sprache, Gesichter, die man nie wiedersehen würde, und der Anblick von morgenroten Sonnenstrahlen, die durch speckige Fenster drangen. Ilka lächelte Fox an; der blickte verschlafen zurück.

      „Bist du sicher, dass du das nächste Stück fahren willst?“, fragte sie.

      „Mir ist ein Rätsel, wie du so fit sein kannst, Kätzchen. Du bist jetzt vier Stunden nonstop gefahren und doch strahlst