Claus Beese

Strandgut


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für ihn. Aber seine Mutter -, ihr durfte nichts geschehen!

      »Wenn du meine Mutter verschonst, verspreche ich Dir von hier weg zu gehen. Du wirst mich nie wieder sehen!«, schrie der Junge und wich weiteren Schlägen aus.

      »Vater!«, kam jetzt eine energische Stimme vom Haupthaus her. »Lass ihn gehen! Es ist genug!«

      Dann wandte sich der Mann, der Johannes Vater war an den Jungen.

      »Und dir verspreche ich, dass deiner Mutter kein Leid zugefügt wird!«, rief er, drehte sich um und verschwand wieder im Haus.

      »Noch in derselben Stunde bin ich fort«, erzählte Johannes mit leiser Stimme, fast übertönt vom Plätschern der Wellen. »Ich habe meine Mutter seither nicht wieder gesehen. Nach jeder Reise erkundigte ich mich im Hafen von Vegesack nach ihr und war froh, wenn ich hörte, dass sie am Leben war.«

      Es herrschte eine Zeit lang Schweigen. Dann räusperte sich der Schiffer wieder.

      »Un nu? Wat schall nu weern?«, fragte er mit belegter Stimme.

      »Ich habe als Matrose ein wenig Geld verdient, und jetzt gehe ich und hole sie von da weg. Sie hat genug gelitten und verdient, dass ich ihr irgendwo ein kleines Heim schaffe.«

      Johannes schaute den Kahnführer jetzt direkt an.

      »Sie ist doch noch da, oder? Und lebt?«, fragte er ängstlich.

      Der Torfschiffer nickte, stand auf und kramte aus seiner Hose die Münzen hervor. Er hielt sie Johannes hin und begegnete dem fragenden Blick des Jungen.

      »Vun di will ick keen Daler! Nimm hen un beholl dat. Scha’st man beter dien Moder geven!«

      Johannes dankte und steckte das Geld weg. Er hatte nicht damit gerechnet, hier Menschen anzutreffen, die ein Herz in der Brust trugen und auch noch auf dessen Schlag hörten.

      Der schwarze Torfkahn hatte längst die Stelle passiert, an der aus dem Zusammenfluss des aus dem Moor kommenden Flüsschens Hamme und der nach Süden abzweigenden Wümme die Lesum entstand. Die Geesthügel des Osterholzes und der Weyer Berg nahe dem Örtchen Worpswede waren zurückgeblieben und der Schiffer steuerte den Kahn in das weite, flache Moorland hinaus. Die Sonne begann im Westen zu versinken, und mit der Dämmerung wurde es kühl im Boot. Johannes erschauerte und schloss die Knöpfe an seiner Jacke. Aus den sumpfigen Wiesen stieg erster Dunst auf und wehte mit der leichten Brise, die das Segel blähte, über das Land. Der Bug des hölzernen Kahns bohrte sich in das weiche Ufer und Johannes nahm sein Bündel und verabschiedete sich von seinem Skipper. An dieser Stelle trennten sich ihre Wege und Johannes musste von hier ab den Seinen zu Fuß durch das Moor suchen. Er stieß das Boot ab und schaute ihm versonnen nach, bis das graue Segel hinter der nächsten Flussbiegung verschwand.

      Als kleiner Junge wusste er hier gut Bescheid und kannte jeden Busch und Pfad. Jedes Moorloch erkannte er von weitem, doch wie hatte sich die Landschaft in den Jahren seiner Abwesenheit verändert! Er schulterte seinen Seesack und marschierte los. Die alten, ihm vertrauten Pfade existierten nicht mehr, das von Gräben und Torfgruben durchzogene Land war ihm fremd geworden. Je weiter der junge Seemann in das Teufelsmoor vordrang, umso unwirtlicher wurde die Gegend, und die deutlichen Zeichen beginnender Zivilisation blieben zurück. Wasser quoll bei jedem Schritt unter den Stiefeln hervor, aus feinen Spalten fauchte das Sumpfgas oder brachte das Wasser der kleinen Tümpel zum Brodeln. Sumpfhühner ließen ihr grelles Pfeifen hören und im Schilf raschelte es, ohne dass Johannes den Grund dafür zu Gesicht bekam. Die Dämmerung schritt rasch voran, und die Dunstschleier, die über das Land wehten, tanzten einen Ringelreihen. Abgestorbene Baumstümpfe verloren ihre wahre Gestalt, duckten sich zu düsteren Ungeheuern, die am Rande kleiner Inseln auf einsame Wanderer lauerten. Johannes beeilte sich, denn er ahnte, dass es für ihn mehr als gefährlich werden würde, wenn ihn die Dunkelheit einholte. Noch vor Anbruch der mondlosen Nacht musste er die Hütte auf der kleinen Erhebung erreicht haben, sonst war er verloren.

      Furcht und Zweifel breiteten sich in ihm aus und machten ihn unachtsam. Er fluchte laut, als er bis zum Knie in ein Moorloch sank, sich aber noch geistesgegenwärtig zur Seite warf, wo er mit Armen und Oberkörper wieder festen Halt fand. Mühsam zog er sich auf die kleine feste Stelle in dem schwankenden Untergrund und hielt einen Moment inne um zu verschnaufen.

      »Nicht rasten!«, schoss es ihm durch den Kopf, »Weiter! Du musst weiter!«

      Er stemmte sich hoch, orientierte sich und wandte sich nach Osten, wo der kleine Pfad sein musste, der ihn bis zur Hütte seiner Mutter bringen würde. Doch schon der nächste Schritt ließ ihn ins Leere fallen, die Grasbüschel hatten keinen festen Untergrund, schwammen trügerisch auf einem der Sumpflöcher und Johannes versank im moorastigen Wasser. Nichts war da, was er hätte fassen können. Nichts, was ihm irgendwie Halt geboten hätte. Voll Panik schlug er mit den Armen um sich, spürte das Wasser durch seine Kleidung dringen, fühlte den Tod, wie er mit kalten Klauen nach ihm griff und sank immer tiefer. Voller Grauen sprangen ihn die Spukgestalten aus den Geschichten vom Moor an, die knochigen Leiber der angeblichen Hexen, die man in die Sumpflöcher gestoßen hatte. Der Dieb, der während einer Hochzeitsfeier das Brautgeld stahl und dessen Flucht in einem der Moorlöcher endete. Kleine Kinder, die im arglosen Spiel einen unbedachten Schritt getan hatten, sie alle streckten ihre bleichen Hände nach ihm aus, griffen nach ihm, um ihn zu sich hinab zu ziehen in die braune Tiefe.

      Die kleine, abgemagerte Frau hob den Kopf, als lausche sie auf ein fernes Geräusch. Man sah ihr das schwere Leben an den scharfen Linien an, die sich im Laufe der Jahre in ihr Gesicht gegraben hatten. Das Aufstehen fiel ihr schwer, doch sie erhob sich mühsam und ging gebeugt zu der aus Brettern notdürftig zusammengenagelten Tür, die windschief in den Angeln hing und beim Öffnen laut knarrte. Sie trat vor die niedrige Hütte, die als solche kaum noch zu erkennen war. Ein vorbeigehender Wanderer hätte wohl nur einen mit Moos bewachsenen Erdhügel wahrgenommen, aus dem ein moderiger Geruch strömte. Die Frau lauschte in die Dunkelheit und schaute auf die weißen Schwaden, die an ihr vorbei über das Moor schwebten.

      »Johannes?«, fragte sie voller Hoffnung. »Johannes, bist du es? Kommst du endlich heim?«

      Das Wispern im Schilf wurde lauter und die Frau schaute nach Westen.

      »Jooohaaannes!«, schrie sie und erschrak vor ihrer eigenen Stimme, welche laut die Einsamkeit durchschnitt wie ein Schwert.

      »Jaaaa! Er ist es«, wisperte das Moor und ein kalter Wind ließ die Frau frösteln. »Und er stirbt gerade!«

      »Neiiiin!«

      Es war ein Schrei voller Verzweiflung und Schmerz, der durch die Nacht hallte. »Moor! Hast du mich all die Jahre nur am Leben gehalten, um mir jetzt alles zu nehmen?«, schluchzte die Frau.

      »Es ist, wie es ist«, raunte es aus den Wollgrasbüscheln. »Einzig und allein die Moorwaage könnte es noch verhindern!«

      »Was ist das?«, schrie die in sich zusammengesunkene Gestalt vor der Hütte mit gepeinigter Seele.

      »Was das Moor genommen hat, gibt es nicht wieder her«, murmelte es aus den tausend kleinen Quellen rund um die kleine Erhebung, auf der das armselige Häuschen stand. »Es sei denn, du gibst dem Moor etwas, das mehr Bedeutung hat, als das, was es sich schon nahm! So wird es das Genommene wieder hergeben!«

      Gerti kam taumelnd auf die Füße.

      »Etwas, das mehr aufwiegt als mein eigenes Kind?«, schrie sie voller Schmerz. »Was soll das sein?«

      Sie wandte das tränenüberströmte Gesicht zum nachtschwarzen Himmel und sah die Sternschnuppe, die mit langem Schweif vorüberjagte um in der Lufthülle zu verglühen. Da wurde Gerti ganz ruhig.

      »Ich kenne nur eines, das schwerer wiegt, als der Junge, den du mir nehmen willst«, murmelte sie und ging zum Rand der Insel, die über Jahre und Ewigkeiten hinweg ihre Heimat gewesen war. »Die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind«, hauchte sie.

      Sie blieb nicht stehen, ging weiter, immer weiter, bis sie den festen Halt unter den Füßen verlor und in der endlosen Schwärze des nächtlichen Moores versank.

      Johannes hörte, wie es um ihn herum blubberte. Sprudelnd stiegen von unten her Gasblasen in dem Sumpfloch empor,