Claus Beese

Strandgut


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Sein Kopf durchbrach die Oberfläche des Wasserlochs und der sprudelnde Luftwirbel trieb ihn an dessen Rand. Atemlos zog sich der Bootsmann auf das rettende Ufer, pumpte keuchend seine Lungen voll mit Luft, die kühl und würzig schmeckte, aber auch moderig und nach Tod. Das Letzte, was er wahrnahm, bevor ihn eine Ohnmacht umfing, war ein Raunen, das aus der Weite der Moorfläche zu kommen schien.

      »Geh! Du bist frei! Die Liebe deiner Mutter hat dich aufgewogen!«

      Dann verließen ihn seine Sinne.

      Der Torfschiffer sah den Jungen am Ufer sitzen und änderte den Kurs. Mit leisem Scharren schob sich der Rumpf des Bootes auf das Ufer und Johannes sprang in den Kahn, der voll beladen war mit dem Torf aus dem Moor. Er stieß das Boot vom Ufer ab und setzte sich wortlos auf eine Bank. Der Schiffsführer brachte genau so wortlos das Boot wieder auf Kurs, stellte das Segel in den Wind und während sie mit leise rauschender Bugwelle die Hamme hinab zum Umschlagplatz der kleinen Stadt segelten, fiel nicht ein Wort zwischen ihnen.

      Schon kamen die ersten Masten der Segelschiffe in Sicht, die im Hafen von Vegesack lagen, als der Torfschiffer sich räusperte und fragte: »Un? Hest all funnen, wat du sökt hest?«

      Johannes nickte und sprang behände auf den Kai.

      »Das, was von allem am schwersten wiegt«, erwiderte er. Seine Augen suchten und fanden die „Katharina“, auf der gerade die Segel gehisst wurden und er beeilte sich an Bord zu kommen.

      Sehnsucht

       Allein

       oder mit wenigen

       auf einem Schiff.

       Getragen von den Wellen der See,

       gewiegt vom Atem des Meeres.

       Umgeben von Abenteuern,

       vergangenen und zukünftigen.

       Gefangen

       von denen, die jetzt sind –

       Sehnsucht,

       die körperlich ist

       und schmerzt.

      Bei Thor und Odin !

      In mir keimte ein Verdacht. War es möglich, dass ich in einem früheren Leben einmal ein Wikinger gewesen war? Anders war es nicht zu erklären, dass es mich mit magischer Kraft immer wieder an die Ostsee zog, wobei es mir eigentlich egal war, ob es an die dänische Ostsee oder die schleswig-holsteinische Küste ging. Hauptsache, das Wasser schmeckte nach Salz und die Luft roch nach Tang und Dorsch. Ich konnte mich nicht satt sehen an den hellen Steilküsten der Inseln, den dunklen, grünen Wäldern und dem leuchtenden Gelb der Rapsfelder. Das helle Grün der Wiesen und das ständige Wechselspiel der Farben im Wasser der Ostsee beeindruckten mich auf geradezu unheimliche Weise. Ich sah mich in Gedanken auf den Spuren Eriks des Roten wandeln, gekleidet in ein Wams aus Leder, mit einer Fellweste und einem zünftigen Kriegerhelm. Bewaffnet mit einem kunstvoll geschmiedeten, zweischneidigen Schwert und einer wuchtigen Streitaxt. In meinen Träumen stand ich am Bug meines Langschiffes, neben dem hochgezogenen, drachenkopfgeschmückten Vorsteven und ließ den stahlharten Blick meiner blauen Augen über die Weiten der See wandern, auf der Suche nach lohnender Beute. Bei Thor und Odin, welch ein Leben! Es hätte mir gefallen, damals.

      Überraschenderweise hatte es nicht vieler Überredungskünste bedurft, um meinem treu sorgenden Eheweib und Mutter meiner Tochter klarzumachen, dass Urlaube mit Kleinkindern auf Mallorca oder in Tunesien nur Nachteile in sich bargen, und man sich am besten dort erholen konnte, wo man Strand und Wasser, kinderliebe Menschen und notfalls auch einen deutsch sprechenden Kinderarzt direkt vor seinem Sommerhäuschen hatte. Vor einiger Zeit hatten wir in Dänemark in der Nähe von Arhus ein Häuschen gemietet, das mir nahezu ideal erschien, um einen Urlaub mit unserem kleinen Pöks zu machen. Nur ganz seicht fiel der feine, weiße Sandstrand zum Meer hin ab, und selbst im Wasser konnte man noch fast hundert Meter weit gehen, bevor die letzten Sandbänke sich zum flachen Meeresgrund neigten. Ein Kaufmann, ein Minigolfplatz und ein Ruderbootverleih, natürlich mit frischem Wattwurm-Service, rundeten das Urlaubsangebot ab.

       Das Wasser war hier so flach, dass man tagsüber kaum mit Dorschfängen zu rechnen hatte, aber dafür gab es Schollen und Butt in unvorstellbaren Mengen. Die überwiegend flache Arhus-Bucht, die nur an einigen Stellen Tiefen von mehr als fünfzehn Metern erreichte, erwärmte sich im Sommer sehr schnell, und war darum nicht nur ein ideales Badegewässer, sondern auch die Kinderstube des Meeres. Es gab Fische in scheinbar unendlicher Zahl und Vielfalt, jedoch waren die Großen vom Ufer aus nur schwer zu erreichen. So mietete ich oft für einige Stunden ein Boot und ruderte so weit hinaus, bis ich den Grund nicht mehr sehen konnte. Dort hockte ich dann in der kleinen Nussschale und füllte meinen Setzkescher mit Plattfischen, während die weibliche Erziehungsberechtigte meiner Tochter am Strand Sandburgen baute, kleine Küchlein formte, und unseren kleinen Nackedei im Gummiboot durch das flache Wasser zog. Abends saßen wir zusammen am Strand, und die untergehende Sonne warf ein feines Licht auf die Insel Samsö, deren nördlicher Teil draußen im Meer leuchtete.

      »Da hinten, bei der Insel, sind die Dorsche, und ich sitze hier und komm nicht dran«, sinnierte ich, und wünschte mir im Stillen ein kleines Motorboot. Es musste nicht groß sein, denn ich wollte es auf einem Anhänger mit in den Urlaub nehmen.

      Mein Wunsch dauerte an. Er wuchs mit den Jahren so beständig, dass man ihn nicht mehr als Idee abtun konnte. Nach langer Zeit des Wünschens, ganz plötzlich, war es soweit. Die Hüterin unseres häuslichen Schatzes hatte ein Einsehen mit den Sehnsüchten ihres kleinen Wikingers. Wir fuhren von einem Bootshändler zum nächsten, schauten, prüften und suchten. Von »Unbrauchbar!« bis »Viel zu groß!« und »Einfach nur zu teuer!« war allerhand vertreten. Während sich meine beiden Seejungfrauen bei den kleinen Booten herumtrieben, ging ich meinen Träumen nach. Ich fand es unfair, wenn meine beiden Frauen mich dann von den Schiffen wegzogen, die ohne Besatzung einfach nicht zu fahren waren. Meine Güte, was konnte denn ich dafür, dass der olle Wikinger in mir ganz klare Vorstellungen von einem seegängigen und sicheren Schiff hatte? Sicherheit kostet nun mal, das war doch ganz klar. Na schön, vielleicht hätte es auch ein bisschen weniger Luxus sein können. Wer braucht schon unbedingt Eiswürfelbereiter im Salon, Mikrowellenherd in der Küche, Saunabereich und zwei komplett eingerichtete Badezimmer? Und schließlich hatten wir ollen Fahrensleute früher auch kein Radar gehabt, und die einzige satellitengestützte Navigation, die wir kannten, war die Kursbestimmung nach den Sternen. Und was war schon UKW-Funk? Wenn wir früher nur laut genug brüllten, konnten uns die Händler, die wir auszurauben gedachten, auch so verstehen. Irgendwie schlichen sich beständig Gedanken, die nur meinen Wikinger-Genen entspringen konnten, in mein Gehirn. Altes Wissen stieg in mir auf, und ich war überrascht, dass sich meine Wikinger-Gene so überaus massiv bemerkbar machten. Manchmal hatte ich den Eindruck, im Zwiegespräch mit meinen Vorfahren zu stehen.

      »Du willst dir also diese einmalige Gelegenheit, an ein gutes Schiff zu kommen, entgehen lassen?«, brummte der Wikinger in mir enttäuscht, als ich dem Drängen meiner weiblichen Familienmitglieder nachgab.

      »Na, überleg mal! So Unrecht haben sie ja nun auch nicht. Erstens bekommst du zu diesem Preis drei Einfamilienhäuser, zweitens brauchst du eine komplette Mannschaft, und drittens kriegst du kaum einen passenden Liegeplatz in den Yachthäfen«, versuchte ich ihn zu beruhigen.

      »Preis, Preis! Das hätte ich schon geregelt!«, brauste der wackere Recke in mir auf und zog in Gedanken das Breitschwert. »Früher haben wir auch nicht nach dem Preis gefragt!«

       »Früher hatten die Wikinger auch noch rote Bärte!«, gab ich zurück, und der wackere Kämpe in mir steckte seufzend die scharfe Klinge zurück.

      »Na gut!«, brummte mein Vorfahre beleidigt. »Das Schiff taugt sowieso nicht viel!«

      »Wie? Taugt nicht viel? Was meinst du?«

      »Haha, Söhnchen, dann zeig mir doch mal den Mast, an dem du das Segel hissen willst! Siehst du, keiner da! Ich sag doch, der Eimer taugt nichts!«

      »Papa! Nun komm endlich! Mama hat ein Schiff gefunden. Da hinten