Antonia Conrad

Auf Wiedersehen, Noel


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sie arbeiten musste. Ich erinnere mich lebhaft an den Tag, an dem ich die Augen öffnete und nicht die geringste Ahnung hatte, was ich in wenigen Minuten feststellen werden würde.

      Ich war damals elf Jahre alt. Chloe und ich hatten uns bisher ein Zimmer geteilt, ansonsten gab es noch das Wohnzimmer, von welchem aus die Fenster in Richtung Süden zeigten.

      Deshalb war es dort tagsüber schön hell. Die Gardinen waren jedoch meist zugezogen und es war warm. Das Licht wirkte verschwommen und doch so klar, dass man die Staubkörnchen durch den Flur in der Luft schweben sehen konnte, wenn die Türe des Wohnzimmers geöffnet war und man zur Haustür hinein kam. Im Flur war damals gräulicher Teppichboden, der bis in das Wohnzimmer reichte. Chloe war eine Zeit lang wie ein Möbelstück in unserem Wohnzimmer gewesen. Ihre blonden Haare und ihre helle Haut in dem hellen warmen Licht waren nach einer Weile eins geworden, so dass ich sie nicht mehr sah. Ich sah nicht mehr sie selbst. Ich hatte sie verloren. Und auch als es ihr besser ging, war sie nicht mehr ganz sie selbst und ich gewann sie nie mehr zurück. Sie glitt mir aus den Fingern, wie ein nasses Stück Seife, immer wieder, wenn ich versuchte meine Schwester wieder zu gewinnen.

      Gleich links ging es in die Küche, sie war klein und dunkel, wenn wir nicht aßen oder Chloe oder Mama gerade kochten. Der Boden war gefliest und die Schranktüren matt gelb angestrichen. Die Arbeitsplatte war wohl einst weiß gewesen, hatte sich jedoch zu einem hellen Beige verfärbt. Und besaß zahlreiche Flecken verschiedenster Mahlzeiten. In der Mitte der Küche stand ein kleiner wackeliger Tisch mit drei Stühlen bestückt. Er war aus Holz und die Tischplatte war weiß angestrichen, doch der Lack war an allen vier Ecken schon abgeblättert. Gegenüber der Küche ging es in Mamas Schlafzimmer, dort standen nur ihr Kleiderschrank, eine kleine Kommode, das Bett und ein kleiner Nachttisch. An den Wänden hingen ein paar Fotos von Mamas und Papas Hochzeit, von Mamas Eltern und von Chloe und mir. Neben der Küche war das Kinderzimmer, welches mittlerweile kein richtiges mehr war. Rechts und links an der gemusterten Tapete stand jeweils ein Bett und dazwischen stand ein kleiner blauer Nachttisch. Sonst ein Schreibtisch, den wir uns teilten und ein Kleiderschrank, den wir uns auch teilten. Im Wohnzimmer standen zwei Regale, ein Sofa, der geblümte Sessel und ein kleiner Tisch mit kurzen Beinen. Hier hingen ein paar Gemälde und manchmal stellte Mama Blumen auf den Tisch oder in unser Zimmer.

      3

      Ich drehte meinen Kopf zum Nachttisch und sah, dass Mama vor einigen Tagen Mageriten auf unseren Nachttisch gestellt hatte und musterte die eingegangenen Blütenblätter. Das Innere der Blüten war gräulich geworden und hart, die Blumen standen reglos da.

      Überhaupt war es sehr still. Ich hörte nicht Mamas Schritte im Flur, ich hörte keine Stimmen von oben oder quietschende Fahrräder, die die Rue de la Valotte herunter rollten, und ich hörte keine Atemzüge neben mir. Meine Augen schweiften zu Chloes Bett. Sie war fort. Das Bettlaken war straff gezogen und die gestreifte Wolldecke sorgfältig darüber gelegt. Das Kissen gerade gerückt und der Bezug ohne Falten darüber gestülpt. Ich konnte noch ihre Hand sehen, wie sie über die Bettdecke fuhr, ich konnte noch ihre leeren Augen sehen, wie sie aus dem Fenster blickten. Ich konnte sie noch riechen und ihre warme Hand in meiner spüren. Ich konnte noch hören, wie sie sprach und wie sie lachte.

      Ich sprang aus dem Bett und lief in den Flur. Ich konnte meinen eigenen Herzschlag in meinen Ohren pochen hören. Ich schaute in die Küche und suchte im Wohnzimmer.

      Ich guckte vor der Haustür und im Garten, den wir uns mit den anderen Familien teilten. Es war der 24. Oktober und auf der Straße tanzten lauter Blätter im Wind. Es war noch nicht einmal sechs Uhr. Dann lief ich in Mamas Schlafzimmer, um sie zu wecken. Ich rief und rüttelte an ihrer Schulter. Sie drehte sich langsam um und öffnete die Augen. Sie strich mir über den Kopf und fragte mich, was los war. „Sie ist weg“, flüsterte ich. „Chloe!“ Mama stand auf und lief in unser Zimmer, ich tapste ihr hinterher und blieb im Türrahmen stehen. Ihre Augen zuckten über das gemachte Bett, die fehlenden Schuhe im Flur und ihre Hände schnellten zum Schrank. Alle Kleider von Chloe waren weg. Nichts mehr von dem, was ihr gehört hatte, war noch da. Mama hatte immer großen Wert auf Bildung gelegt, deswegen gab es keinen Grund, dass ich die Schule heute nicht besuchen sollte.

      Ich griff nach den Schulbüchern auf dem tintenverfleckten Schreibtisch, zog eine Jacke über und lief den Flur entlang. Nachdem ich meine Schuhe angezogen hatte, huschte ich aus der Haustür und lief die Straße herunter.

      Ich tat alles, um Chloe wieder zu finden. Ich hatte meinen Kindern immer alles ermöglichen wollen. Ich wusste, dass ich zu viel arbeitete, doch mir war auch jeden Tag bewusst gewesen, dass wenn ich es nicht tat, wir womöglich nicht durchkommen würden.

      Seit Madame Renoir gestorben war, hatte ich es gewusst. Ich hatte mit angesehen, wie sie nur noch alleine zu Hause waren. Meistens schliefen sie schon, wenn ich nach Hause kam. Chloe war ein schlaues Mädchen, das hatte ich immer gewusst. Ich zog mein Nachthemd aus und streifte mir ein dunkelblaues Kleid mit runden Knöpfen über. Es hatte einen schönen Rock, der mir bis über die Knie reichte. Der weiße Unterrock guckte mit einer feinen Spitze darunter raus. Ich setzte mich vor meinen Spiegel, kämmte mir die Haare und knotete sie mir am Hinterkopf zusammen. Ich rannte beinahe ins Bad, um mir das Gesicht zu waschen und mir eine Halskette anzulegen. Ich setzte einen Hut auf, zog mir schnell meine abgetretenen Schuhe an, verschwand aus der Wohnung und die Türe fiel hinter mir ins Schloss. Es war windig draußen. Ich strich mir über den Haaransatz und zupfte an dem Kleid herum.

      Dann rückte ich meine Kette zurecht und musste grinsen. Ich war stolz auf meinen wenigen, wertlosen und verdreckten Schmuck und zog immer etwas von meiner kleinen Sammlung an.

      Ich kam mir so unbedeutend vor und so klein. Ich wusste, es war nicht der richtige Zeitpunkt, um zu lachen. Ich liebte meine Kinder über alles und eines davon war mir verloren gegangen. Ich sollte jetzt wirklich nicht lachen. Dann machte ich einen Schritt auf die Straße und lief zum ersten Nachbarhaus. Ich schritt leise die Treppe hoch und klopfte an die hölzerne Tür. Die Tür wurde geöffnet und eine grauhaarige Frau sah mir ins Gesicht. Ich kannte sie gut und erzählte ihr von meiner Situation. Sie verkündete mir ihr Beileid, doch sagte sie, sie hätte meine Tochter vorgestern das letzte Mal gesehen. So lief es fast bei jedem meiner Nachbarn.

      So rannte ich nach beinahe einer Stunde zur Polizei. Der Beamte war ein netter junger Mann mit blonden kurzen Locken und einer Brille. Er war sehr verständnisvoll und versprach mir, dass er und einer seiner Kollegen sich noch heute auf den Weg machen würden, meine Tochter zu suchen. Ich hatte ihm alle Informationen und ein Foto von Chloe gegeben.

      Ich nickte und verließ den Raum. So schnell ich konnte, rannte ich nach Hause. Mein Kleid wehte im Wind und Haarsträhnen waren aus meiner Frisur gerutscht.

      Ich stolperte in die Wohnung und knallte die Türe hinter mir zu. Ich streifte meine Schuhe ab und warf sie in eine Ecke des Flurs.

      Ich senkte meinen Kopf und Tränen stiegen mir in die Augen. Sie rollten meine Wangen herunter und tropften auf den Boden. Ich setzte mich auf die Couch und stützte den Kopf in die Hände. Ich sog Luft ein, legte den Kopf in den Nacken und biss mir auf die Unterlippe. Ich atmete wieder aus und richtete meinen Kopf zum Fenster. Es windete. Immer noch. Und weitere Tränen flossen. Wie ungläubig es auch scheint, doch ich hatte keine Hoffnung, dass ich meine Chloe wieder finde würde. Hat man etwas verloren, etwas Wertvolles, Schönes, so findet man es nicht mehr. Warum sollte man denn auch. Jeder Mensch möchte es und sobald man es aus den Augen verliert, ist es fort. Und Chloe verliert niemand aus den Augen. Ich wünschte, Noel wäre bei mir gewesen. Warum war ich alleine, und ich krallte meine Finger in die Sofalehne, während ich meine Lippen aufeinander presste. Wo war er? Ich blinzelte auf die Uhr, in einer knappen Stunde würde er hier sein. Ich legte mich auf die Seite, meine Haare fielen auf die Sofalehne und ich schluchzte in mich hinein. Der 24. Oktober, der schlimmste Tag meines Lebens, dachte ich.

      4

      Ich rannte die Straße entlang. Der Gehweg war schlecht gepflastert und ich hatte meine Augen konzentriert auf den Boden geheftet, um nicht zu stolpern. Ich stieß die Türe auf. Sobald ich die zwei Stufen hinauf gestolpert war, schossen mir so viele schöne Gedanken in den Kopf. Mamas Schuhe lagen dahingeworfen auf