Antonia Conrad

Auf Wiedersehen, Noel


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nicht der Meinung, dass ich schön war. Ich kannte außerdem niemanden, der dies je ausgesprochen hatte. Ich sah mich nicht, doch ich wusste es jetzt, ich war schön. Ich hatte das Recht, mich schön zu fühlen. Ich hatte dieses Gefühl zum ersten Mal in meinem Leben, ich genoss es, und ich hatte das Gefühl, dass es das letzte Mal in meinem Leben sein würde. Es war stockdunkel und fast niemand war zu Fuß auf der Straße zu sehen. Ein paar Autos fuhren an mir vorbei, und zwei Leute auf dem Fahrrad fuhren mir lachend entgegen. Das Mädchen trug ein helles Kleid, Zöpfe und fuhr auf einem roten Fahrrad. Der Junge, der neben ihr fuhr, trug eine schwarze Hose und ein dunkelblaues Hemd, ich konnte sein Gesicht nicht sehen, da er es vor Lachen senkte. Auch das Mädchen war schwer zu erkennen. Ich wendete den Blick ab. Erst jetzt merkte ich, dass ich zu meiner Schule lief. Die Fenster waren verdunkelt und die Türen normalerweise alle verschlossen. Doch das waren sie nicht. Nicht heute. Ich wunderte mich, doch erfasste die Türklinke und trat auf den Flur. Die Lichter gingen an. Doch nicht auf einmal, es war anfangs nur ein zarter Schimmer und in wenigen Sekunden wurde es ganz hell. Überall auf dem Boden verstreut lagen Lektüren und Mathebücher, und direkt vor mir lag ein kleines Herbstblatt. Es war orange und ein wenig bräunlich. Ich sah es genauer an. In diesem Moment fiel die Türe hinter mir zu, ich erschrak und schnappte nach Luft. Sie stand da wie ein kleines verwirrtes Mädchen. Ihre Augen flitzten durch den Raum als würde sie etwas suchen, und ich fragte mich, was sie wohl dachte. Dann senkte sie den Kopf und ihre Haare fielen an ihren Wangen herunter, die davor hinter ihre Ohren gestrichen gewesen waren. Sie kniete sich hin und streckte die Hand nach dem kleinen Herbstblatt aus. Ganz langsam bewegten sich ihre Finger immer näher an das Blatt, und kurz bevor sie es berührte, zuckte sie noch einmal zurück. Doch dann ließ sie ihre Hand zu dem Blatt gleiten, sobald ihre Fingerspitzen es berührten, schrie sie gellend auf. Ihr Gesicht verzog sich und ihr Körper verkrampfte sich. Nach ein paar Sekunden erhellte sich der Raum um das Doppelte und alles war nur noch gedämpft zu hören. Sie hob langsam den Kopf und sah wieder geradeaus.

      Ihre Wimpern schlugen ein paar Mal nieder, und ihre Augen waren mit Tränen gefüllt. Dann wachte ich auf.

      6

      „Wach auf“, trällerte meine Mutter und rüttelte an meiner Schulter. Ich öffnete mühsam meine Augen und richtete mich auf. Mama lächelte und verließ das Zimmer, während sie rief, sie müsse jetzt das Frühstück machen. Ich steckte meine nackten Füße auf den kalten Boden und tapste ins Bad. Danach huschte ich in mein Zimmer und zog mir meine Schuluniform an. Anschließend setzte ich mich mit Mama an den gedeckten Frühstückstisch. Nachdem ich etwas gegessen hatte, schnappte ich meine Schultasche und verschwand aus der Haustür. Meistens lief ich zur Schule, doch heute beschloss ich, mit dem Fahrrad zu fahren. Ich lief in den Schuppen und zerrte es hinter ein paar staubigen Holzlatten hervor. Ich schob es auf die Straße und fuhr los. Es war Montag und die Sonne schien. Es dauerte nur kurze Zeit bis ich mein Fahrrad vor dem Schulgebäude abstellte. Ich lief auf die Türe zu, erfasste die Klinke und trat auf den Flur. Meine Augen schweiften über die Schüler, die im Flur herumstanden oder in eines der Klassenzimmer eilten, um nicht zu spät zu kommen. Ich lief auch auf meine Klassenzimmertür zu, öffnete die Türe, und als ich herein trat, sahen manche zur Tür herüber. Ich setzte mich auf meinen Platz und stellte meinen Rucksack auf den Boden. Gerade als ich den Kopf wieder hob, kam Claire zur Türe herein. Ich winkte ihr zu und erhob mich mit einem gequälten Lächeln von meinem Stuhl. Sie strahlte und kam auf mich zu, doch in diesem Moment hielt der Lehrer sie auf, der gerade in das Klassenzimmer gekommen war. Sie zuckte mit den Schultern und verzog das Gesicht. Dann huschte sie auf ihren Platz und grinste mich an. Ich konnte sie nicht leiden, aber sie war eine alte Freundin und ich kannte sie schon bevor wir eingeschult worden waren. Freundinnen, die man schon lange kennt, kann man nicht einfach die Freundschaft kündigen. Das ist nicht so einfach.

      Ich versuchte, mich auf den Unterricht zu konzentrieren, doch es gelang mir nur teilweise. Ich strich gerade über die Falten meines Rockes, als eine laute Sirene des Rauchmelders uns alle aufschrecken ließ. Ich riss die Augen auf und erhob mich langsam von meinem Stuhl. Alles wurde wie in einem Traum, ich rührte mich nicht vom Fleck. Ich wäre womöglich dort stehen geblieben. Wenn nicht Claire von hinten gekommen wäre und mich in Richtung Tür geschoben hätte. Wir waren einer der ersten, die aus dem Klassenzimmer strömten, doch ich verlor Claire in den Massen meiner Mitschüler und blieb einfach stehen. Ich sah das Feuer, wie es aus dem gegenüber liegendem Gang in fünf Meter Abstand auf uns zu loderte. Es waren helle Flammen und sie züngelten die Wand hoch und leckten über den glatten Flurboden. Sie sahen aus wie lichterlohe Blätter, wie zischende Schlangen, wie flatternde Vögel. Ich starrte das Feuer an und sah es immer näher kommen. Ich sah es, doch ich konnte mich nicht rühren.

      Alle rannten rechts aus dem Gebäude und ich drehte mich zu ihnen um. Ich sah sie mit müden und zugleich verschreckten Augen an. Doch dann geschah es. Damals war ich 14 Jahre alt. Ein Junge aus meiner Klasse rannte verstört und mit tränenden Augen aus dem Klassenzimmer, holte mit seinem kräftigen Arm aus und stieß mir damit versehentlich in die Rippen. Er rannte zum Ausgang, stieß die Türe auf und drehte sich nicht um. Die Türe fiel für einen kurzen Moment zu, bis sie der Nächste wieder aufstieß und sie sich für eine Weile nicht schließen würde, vor lauter Schülern, die hinausströmten. Und damit flog ich von der Wucht des Schlags rücklings in die Flammen. Ich spürte unbeschreiblichen Schmerz an meinen Fingern, im Gesicht, und meine Lunge brannte von dem scharfen Rauch. Ich hustete und krabbelte ein Stück vorwärts, lehnte meinen Kopf an die Wand und schrie gellend auf, während ich das Gesicht verzog. Der Schmerz war zu groß. Ich spürte, wie die Wärme und mit ihr die Flammen von hinten näher kamen und dann spürte ich gar nichts mehr.

      Ich war einer der Letzten, die aus dem Klassenzimmer stürmten, und ich erschrak, als ich das zierliche Mädchen, zusammengerollt im Flur gegenüber, am Boden entdeckte. Ihr Gesicht war schmutzig, und eine ihrer Wangen war verbrannt. Um sie wirbelten Funken und Asche, und da zuckten ihre Hände. Ich rannte hin und hob sie auf. Ihre Haarspitzen waren verbrannt, und ich musste kurz in die Flammen fassen, um sie vom Boden aufzuheben. Ich sah kurz in ihr lebloses Gesicht und rannte zum Ausgang. Wegen des Rauches konnte ich fast nicht mehr atmen, als ich die Türe aufstieß. Wir ließen das Feuer hinter uns. Den Rauch, die Asche, die Hitze und die Funken.

      7

      Am nächsten Morgen wachte ich im Krankenhaus auf. Es war ein kleines Zimmer mit zwei Betten darin, einem Schrank und ein Tisch mit zwei Stühlen. Dieser stand am Fenster des Raumes und war mit Plastikblumen in einer braunen Vase verziert. Der Schrank ging bis zur Decke und bestand aus Holz, doch er war weiß angestrichen. Das Licht war angeschaltet, und ich konnte Stimmen und so viele Geräusche von draußen hören. In diesem Moment musste ich an Chloe denken. Es war immerhin schon vier Jahre her, dass sie von zu Hause abgehauen war und langsam fing ich an, mich wieder normal zu fühlen, mit meinem Leben zu Recht zu kommen und nicht ständig ganz so schmerzhafte Gedanken zu haben. Ich lernte auch nicht mehr so viel, wie in den ersten zwei Jahren. Ich konnte jetzt auch wieder andere Dinge tun.

      Ich vermisste sie sehr, und ich wünschte, sie wäre bei mir gewesen. Es war schrecklich, sie zu verlieren, dachte ich und starrte aus dem Fenster. Man wird allein geboren, man lebt mit anderen zusammen und man stirbt allein. Ich schweifte in Gedanken zurück zu jenem Morgen, an dem sie nicht mehr dagewesen war.

      Ich hasste die Erinnerung an diesen Tag, und ich hasste, wie gut ich mich noch an jede Einzelheit erinnern konnte. Die Blumen auf dem Nachttisch, die Stille, der Wind, Mamas unverständlicher Gesichtsausdruck und Chloes gemachtes Bett.

      Plötzlich hörte ich Atemzüge neben mir. Ich drehte mühsam den Kopf in die Richtung des anderen Bettes und sah das Mädchen neben mir liegen. Es war das Mädchen, das ich aus der Schule getragen hatte. Ich hatte sie gerettet, dachte ich erleichtert. Ich hatte es geschafft. Ich konnte mich nicht mehr an den Moment erinnern, in dem wir aus der Türe kamen. Mein letzter Gedanke war das Aufstoßen der Türe gewesen, doch ich hatte von dem vielen Rauch wahrscheinlich das Bewusstsein verloren. Sie hatte Verbände um beide Hände, Nacken und Kopf. Sie sah blass aus, doch sie atmete. Sie hatte eine stupsige Nase, Sommersprossen und dunkelrote Haare. Sie hatte lange helle Wimpern. Erst als ich mich bewegte, verspürte ich den großen Schmerz in meinem linken Arm. Er war vom Oberarm bis zu den Fingerspitzen verbunden und tat weh, sobald