Antonia Conrad

Auf Wiedersehen, Noel


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dem Sofa, sie trug ein dunkelblaues Kleid und ihre Haare waren nicht zusammen gebunden. Ihre Hände lagen schlaff da, und ich konnte die Tränen sehen, die ihre Wangen herunter kullerten. Ich ging ganz langsam hin und kniete mich angestrengt vor das Sofa. Ich strich ihre Haare aus ihrem Gesicht und nahm ihre Hand.

      Ich rannte in mein Zimmer warf mich aufs Bett, und die Tränen flossen, sobald ich blinzelte. Die Türe ging auf und ich fuhr zusammen. Es war Mama. Sie kam zu mir und legte ihre Hand auf meine Wange. Sie war blass und ihre Hände zitterten. Sie nahm mich in den Arm und küsste mich aufs Haar. Ich fragte mich, ob sie wieder kommen würde. Chloe. Doch ich befürchtete, Mama würde es auch nicht wissen. Mama schloss die Augen.

      Von diesem Tag an wurde alles anders. Es gab keine Spur von Chloe. Sie war wirklich fort. Nach zwei Jahren gab die Polizei die Suche auf. Ich war weder allein noch mit Mama zusammen. Wenn man einen Menschen verliert, den man wirklich liebt, wird alles gleichgültig und die anderen Menschen verschmelzen zu einer einzigen Masse.

      Es ist schwer, Dinge zu definieren, und Langeweile existiert nicht mehr. Mama war verzweifelt und traurig. Die Schule und der Beruf war eine gute Ablenkung für uns beide. Ich lernte viel. Ich wollte über nichts anderes nachdenken.

      5

      „Vivienne“, schreckte mich die Stimme des Lehrers aus meinen Gedanken. Ich saß im Klassenzimmer und es war wahrscheinlich elf Uhr oder etwas später. Ich hatte andere Dinge im Kopf, als die Handlung der Lektüre, die vor mir lag. Ich strich mir die Haare aus dem Gesicht und senkte den Kopf. Die Worte zu lesen viel mir schwer, doch der Lehrer lobte mich und ich atmete erleichtert aus. Als die Glocke im Gang läutete, sprang ich auf und eilte mit meinen Freundinnen in die nächste Stunde. Unsere Tritte hallten im Gang und ich hatte ein seltsames Gefühl, doch ich schüttelte den Gedanken ab und hörte Claire weiter bei dem zu, was sie uns gerade erzählte. Claire war meine bis dahin beste Freundin gewesen. Sie trug immer Zöpfe und eine Brille. Ein bisschen dicklich war sie auch und redete andauernd. Sie redete aufgeregt und wendete ihr Gesicht meinem zu, so dass sie rückwärts lief und direkt gegen Noel rannte, der uns entgegen gekommen war. Sie fiel rücklings auf den Boden und sämtliche Bücher von Claire und Noel schlitterten über den Boden. Ich bückte mich und sah Noel an. Er hatte ein wirklich schönes Gesicht. Hellbraune Haare und grünliche Augen, ich kannte ihn leider kaum. Dieser Moment war der Anfang, unser Anfang. Ich erinnere mich genau, wie er den Kopf hob und mir eines der Schulbücher gab. Es war der Moment, indem wir uns das erste Mal wirklich wahrnahmen. Wir gingen in eine Klasse und liefen täglich aneinander vorbei, doch keiner hatte den anderen je wirklich wahrgenommen. Er schnappte seine Bücher, grinste und verschwand im nächsten Klassenzimmer.

      An diesem Tag konnte ich dem Unterricht nicht mehr folgen, ich war zu müde und gedankenverloren. Als ich nach Hause kam, erledigte ich meine Schulaufgaben und schlief vor Erschöpfung am frühen Abend in Schuluniform ein.

      Der nächste Tag war ein Sonntag. Ich wachte um acht Uhr vom knarrenden Geräusch eines Motorrads auf. Das Motorrad meines Vaters. Es war unglaublich laut, meiner Meinung nach.

      Meine Mutter war eine stämmige Frau gewesen, doch sie war nicht der Art Mensch, dem sie äußerlich ähnelte. Sie war sehr nah am Wasser gebaut und unglaublich fürsorglich. Papa war nicht der Meinung, dass Frauen sich eine Arbeit suchen sollten. Er war der Chef im Haus und er machte seinen Standpunkt oft genug deutlich. Er trug einen Schnurrbart und trank manchmal zu viel. Doch trotz allem war er ein guter Mann, hatte meine Großmutter immer gesagt. Ich hatte sie nicht gemocht. Sie war vor einigen Monaten gestorben. Ich hatte sehr viel Respekt vor Papa und ich glaube es wäre für mich nicht von Vorteil gewesen, wenn ich das nicht gehabt hätte. Wir besaßen ein winziges Häuschen mit einem Garten und einem alten Schuppen. Ich liebte dieses Häuschen, genauso wie Mama das tat. Ich trug immer noch die Kleidung vom gestrigen Schultag, fiel mir auf, und ich zog mir ein Kleid und Schuhe an. Ich öffnete meine Zimmertüre und ein Schwall von köstlichem Kuchengeruch umhüllte mich. Ich schloss die Augen und atmete tief ein. Mama war eine wundervolle Köchin. Jetzt wusste ich auch, warum sie Kuchen backte. Wir würden heute Besuch aus Paris bekommen. Heute war ein einzigartiger Tag. Ich half Mama, in der Küche zu backen, im Haus zu putzen und das Unkraut im Garten zu beseitigen. Es waren alte Freunde von meinen Eltern und sie hatten eine Tochter, wie mir berichtet wurde. Sie sollte sehr reizend sein und in meinem Alter, so dass ich mich mit ihr beschäftigen konnte. Wir waren nicht gerade wohlhabend, deswegen bemühte sich Mama, alles so schön wie möglich vorzubereiten und alle Zimmer geputzt zu haben. Unsere Gäste kamen um fünf Uhr nachmittags und nach dem Abendessen ging ich mit Annabelle zum Fluss. Annabelle war die Tochter des Paares. Sie hatte ein sehr schönes Gesicht und dunkelbraune halblange Haare. Sie trug an diesem Abend ein hellblaues Kleid. Ich hatte sie noch nie zuvor getroffen und traf sie auch nie wieder, doch wir verstanden uns auf Anhieb recht gut. Unsere Eltern unterhielten sich lebhaft während des Essens, und Annabelle und ich hatten noch fast kein Wort miteinander gewechselt. Später zeigte ich ihr mein Zimmer und wir unterhielten uns eine Weile über unsere Schulen und Lehrer. Sie erzählte, dass sie schon ihr ganzes Leben in Paris lebe und dort auch geboren sei. Sie erzählte mir, dass sie in einem schönen Haus am Rande der Stadt wohnten, ein Auto besäßen und sie sich eine kleine Schwester wünsche. Ich grinste, als sie das sagte. „Ja“, sagte sie, wie zur Bestätigung ihrer Aussage und lachte. Sie erzählte mir, dass sie einen großen Bruder habe, doch es war nur ihr Halbbruder und trotzdem kam er oft zu Besuch. Ich erzählte auch viel aus meinem Leben, und dann fragte ich sie: „Darf ich dir etwas zeigen?“ Sie nickte. Wir standen auf und gingen aus der Haustür. Ich lächelte sie an und wir liefen zum Fluss.

      Sie war wirklich ein nettes Mädchen, stellte ich fest, und die letzten Sonnenstrahlen kamen uns wie ein Willkommensgruß hinter den Bäumen am Fluss entgegen. Wir liefen über die Landstraße und den kleinen Trampelpfad durch die regennasse Wiese bis an den Fluss hinunter. Es war noch warm und ein paar Grillen zirpten. Der Fluss wirkte als würde er gar nicht fortfließen, er lag einfach da, fast wie ein See. Nur ein paar sanfte Wellen waren zu erkennen. Es war windstill und die Baumkronen standen reglos da. Wir setzten uns ans Flussufer auf einen Baumstamm, der im Gras versteckt lag. Wir konnten den Sonnenuntergang beobachten und hörten das plätschernde Geräusch des Wassers am steinigen Ufer. Die Sonne schien auf unsere Gesichter und Arme. Es war ein seltsamer Abend und gleichzeitig sehr schön. Annabelle wendete sich zu mir und sagte: „Es ist schön hier.“ Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie sie danach lächelte, wie ihre Stimme sich angehört hatte als sie es sagte. Sie wendete sich zu mir und eine Haarsträhne fiel ihr ins Gesicht. Sie sagte „Es ist schön hier.“ Nicht laut, aber auch nicht flüsternd. Dann lachte sie, presste die Lippen aufeinander und drehte sich wieder der Sonne zu. Ich weiß es noch ganz genau.

      Ich weiß nicht mehr, wie lange wir dort saßen. Nach einer Weile standen wir jedoch auf und liefen zu unserem Haus zurück. Ihre Eltern kamen gerade aus der Türe, als wir die Straße entlanggelaufen kamen. Ich stand mit Mama im Vorgarten und sie stiegen in ihr Auto ein. Zum Abschied hatte Mama Annabelles Mutter in den Arm genommen und meinem Vater die Hand geschüttelt. Sie lachten und ihre Gesichter strahlten. Annabelles Mutter war sehr nett und hatte ein ähnlich schönes Gesicht wie ihre Tochter. Der Vater startete den Motor und fuhr langsam die Straße entlang, bis ich das Auto aus den Augen verloren hatte. Annabelle war auf der Rückbank gesessen und hatte mir gewunken und gelächelt. Mama räumte die Küche auf und ich verschwand ins Bad. Danach streifte ich mein Nachthemd über und legte mich ins Bett. Mama kam nach einer Weile noch einmal herein, streichelte mir über den Kopf und gab mir einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. Dann verschwand sie aus dem Zimmer, schloss die Türe und ich konnte sie mit Papa sprechen hören und deren Schritte auf dem Fußboden. An diesem Abend konnte ich nicht einschlafen.

      Plötzlich entschied ich, aufzustehen. Ich zog mir meine Stiefel an und warf mir eine Jacke über mein Nachthemd. Ich öffnete die Türe quitschend und setzte so langsam und leise wie möglich einen Fuß vor den anderen durch den Flur. Ich warf meine Haare zurück und zog die Jacke enger um mich. Dann öffnete ich die Haustüre und hopste hinaus auf die Straße. Ich lachte auf und hopste weiter. Ich fühlte mich frei und mir war nicht kalt, obwohl es windete. Ich fühlte mich auch leicht, obwohl ich schwere Stiefel und eine dicke Winterjacke trug. Und etwas war seltsam und gleichzeitig auch so wunderbar befriedigend, dass ich zufrieden ausatmete. Ich