Hubert Schem

Verrückt in Bonn


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      Er zog mit der Linken die Schiebetür auf, betrat das leere Abteil, wählte nach alter Gewohnheit den Fensterplatz mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, wuchtete seinen Koffer auf die Ablage und ließ sich in die Polster fallen. Vertrauend darauf, alle wichtigen Reisedaten im Kopf zu haben, war Jürgen Rüthberg am Hamburger Hauptbahnhof gelassen ausgestiegen, ohne die undeutlichen Ansagen zu beachten, war zügig zu dem im Fahrplan angegebenen Bahnsteig gegangen und hatte dort endlich eine den Anschlusszug betreffende Mitteilung verstanden. Hastig mit seinem schweren Koffer erneut eine Treppe hinauf, die übernächste hinunter, in letzter Sekunde in den nächstbesten Wagen; mit dem Koffer in der Rechten in verdrehter Haltung den schmalen Seitengang entlang schlurfen, trippeln, stolpern, ein leeres Abteil als Einladung verstehen und auf den weit vorne in einem Großraumwagen reservierten Platz verzichten. altungfieErinnerungen und Gedanken schweifen lassen, ohne Gesicht und Haltung kontrollieren zu müssen, dösen, schlummern, träumen – welch reizvolle Aussicht.

      Mehr als vier Stunden allein im Abteil. Von der vorbeihuschenden Außenwelt nichts, was den Augenblick überdauerte. Scharfe und verschwommene Bilder aus ferner und naher Vergangenheit vermischten sich mit wachgerufenen Gefühlsvariationen. Angenehmes, Interessantes, auch Belangloses; aber kein Anflug quälender, hässlicher oder auch nur vage unangenehmer Erinnerungen. Positives weckt Positives, das wiederum Positives aufruft – eine seiner Grunderfahrungen.

      Als die bevorstehende Ankunft im Bonner Hauptbahnhof angekündigt wurde, sah er sich gerade gefühlsversunken am Rand der westmecklenburgischen Steilküste stehen. Die sonore Stimme aus einer unsichtbaren Lautsprecherbox konnte die frühe Abendstimmung über der unruhigen Ostsee nicht verscheuchen. Wenn die schnell treibenden Wolkengebilde der Sonne Raum ließen, musste er die Hand über die Augen halten, um das ganze Panorama erfassen zu können. Die Lichtspiele auf der unruhigen Wasserfläche. Die ferne Linie des jenseitigen Ufers der Bucht. Unten auf dem weiten Strand ganz vereinzelt sportlich ausschreitende oder nach Schätzen suchende Spaziergänger. Kein Ton von Menschen oder Menschenwerk dringt herauf. Im flachen Wasser bemüht sich ein Paar mit unerschöpflicher Geduld, einen Surfdrachen wieder richtig in den Wind zu bringen. Sie versucht jetzt mit seiner Hilfe, auf dem Board Fuß zu fassen, während er mit der Linken die Schnüre des Drachens hält, dessen einer Teil vom Wind hin und her gezerrt wird, ohne den schlaff im Wasser liegenden anderen Teil hochziehen zu können. Wieder und wieder misslingen die Bemühungen des Paars. Schließlich versucht er es allein, während sie mit herabhängenden Armen nur noch zusieht: Einige sichere Griffe in die Schnüre. Widerstrebend und gleichzeitig aufwärts drängend hebt der Drachen sich in voller Länge aus dem Wasser und wird sofort vom Wind aufgebläht. Sein Bändiger steht schon auf dem Board. Ein Griff dahin, ein Griff dorthin, und aus dem Stand mit Hochgeschwindigkeit ostwärts. Plötzlich hebt er ab: zwei, drei, vier Meter über der kabbeligen See durch die Luft. Höher, weiter. Der Betrachter hält die Luft an. Doch schon sind Brett und Mann zurück auf dem Wasser, um mit weiter gesteigertem Tempo die wilde Jagd fortzusetzen. Die Umrisse sind fast aus Jürgens Blickfeld verschwunden, da - eine knappe Körperbewegung und gegen den Wind geht die Jagd zurück. Wie eine Statue steht die Partnerin bis zu den Oberschenkeln im Wasser. In wechselnd weiten Bögen zieht der athletische Surfer seine Kreise um sie herum. Sie scheint ihn nicht mehr zu beachten. Abrupt wendet der Betrachter auf der Steilküste sich zum Gehen, erfüllt von einem seit vielen Jahren nicht mehr gespürten eigenartigen Ziehen und Drängen, für das er noch nie einen treffenden Begriff gefunden hat. Und schon Raum für Zweifel. Hatte er voreilig aus dem deutlichen Größenunterschied geschlossen, dass ein sportlicher Er eine sportlich ungeschickte Sie im Flachwasser zurückließ? Konnte es nicht umgekehrt gewesen sein? - Eine Rüge aufs eigene Konto!

      HDa Jürgen Rüthberg wusste, dass ihn am Bahnhof niemand erwartete, gab es noch keinen Grund, sich in der Gegenwart zurückzumelden, als er den Zug in Bonn verließ. Ein durch vertraute Signale ausgelöster Automatismus hatte seine Aufmerksamkeit lediglich auf das notwendige Maß erhöht. So fand er sich auf der Poststraße wieder und schlenderte wie ein Tourist in Richtung Münsterplatz. Flüchtige Gedanken an den nächsten Tag konnte er gelassen vorbeiziehen lassen. Wenn er dafür sorgte, vor Mitternacht allein in einem nicht zu weichen Bett zur Ruhe zu kommen, würden ihm spätestens nach dem Frühstück - darauf glaubte er sich aufgrund seiner Erfahrungen verlassen zu können - alle Kenntnisse und Fähigkeiten, denen er seine Mission verdankte, zur Verfügung stehen. Und alle Kenntnisse, Fähigkeiten und Gefühle, die dieser Mission abträglich sein könnten, würden sich wegducken.

      Von der Poststraße war anscheinend seit den Fünfziger

      Jahren nicht mehr als der Name erhalten geblieben. Jürgen vermied es, seine vagen Erinnerungen zu konkretisieren und mit der Gegenwart zu vergleichen. Oft genug hatte er erfahren, dass die Konfrontation von erinnerten mit gegenwärtigen Bildern Enttäuschung und Wehmut erzeugt. Und nichts trieb ihn an, den schönen Spätsommerabend durch süße, säuerliche, bittere oder auf vielfältige Weise gemischte Erinnerungen zu einem höchst privaten Gedenk- und Wehmutsfestival eines seit einigen Jahren wieder alleinstehenden Mannes im dritten Drittel seines Lebens ausarten zu lassen.

      Am Münsterplatz wandte er sich ohne bewusste Entscheidung nach rechts. Die eigenartige Lage des Münsters schräg zum Platz war ihm früher nicht aufgefallen. Jetzt dachte er an einen Riesenfindling, lange vor allem Menschenwerk in einer Endmoräne eingesunken und Tausende von Jahren später generationenlang kunstvoll bearbeitet, bis Türme und Zinnen sich stolz zum Himmel reckten, während der Steinkoloss weiter Millimeter um Millimeter in der Erde versank.

      Die klaren Töne eines Hammerklaviers riefen ihn in die Gegenwart zurück. Ohne zu überlegen, wandte er sich um und ging mit schnellen Schritten in Richtung des Beethovendenkmals. Das Klavier stand einige Meter vom Denkmal entfernt auf dem schwarzen Ascheplatz, ein Teller mit Münzen in diskretem Abstand auf einem Schemel. Ein junger Mann im weißen Hemd mit offenem Kragen war mutig oder dreist genug, unter den Augen des größten Bonners seine Fertigkeiten zu demonstrieren. Unschlüssig schlenderte Jürgen an den stehengebliebenen Passanten vorbei. Als er das Straßencafé an der anderen Seite des Denkmals entdeckte, hatte er ein vorläufiges Ziel. Er fand einen freien Tisch in günstiger Lage. Während der Pianist von Beethoven zu Schubert wechselte, beobachtete Jürgen mit mäßigem Interesse die Zuhörer und wartete gelassen auf die Bedienung. Als er sich schließlich wie zufällig umschaute, sah er auf der Terrasse des Pavillons einen älteren Kellner, der in klassischer Haltung vier offenbar munteren Frauen zuprostete. Alle fünf kippten den Inhalt ihres kleinen Glases rituell hinunter. Und die muntere Unterhaltung wurde sofort noch lebhafter. Jürgen verstand nur zusammenhanglose Wörter, wurde aber von der heiteren Stimmung so angesteckt, dass er nicht bemerkte, wie sich seine Kontrollmechanismen ausschalteten. Eine wohlige Abendsonne, vertraute Töne aus der schönen Müllerin, die heiteren rheinischen Frauen ohne List und Tücke. Minutenlang war er nur noch Gefühl.

      Der Kellner wiederholte mit deutlich rheinischem Akzent freundlich Jürgens Bestellung und notierte sie auf seinem Block. Ohne an den Stufen zur Terrasse zu stolpern oder auch nur zu zögern, ging er hinauf und passierte wortlos den Tisch der fröhlichen Frauen. Eine der Frauen sah ihm nach und machte mit plötzlich ernst gewordenem Gesicht eine kurze Bemerkung, die die anderen zum Verstummen brachte.

      Jürgen bemerkte zu spät, dass er sekundenlang zu dem Frauentisch hinübergeschaut hatte und nun die eine der Frauen unverhohlen anstarrte. Sie hatte seinen Blick anscheinend gespürt und nahm die Herausforderung spielerisch an. Er wandte seinen Blick nicht ab, sondern versuchte ihn möglichst harmonisch so umzugestalten, wie es seinen Vorstellungen von ihren Erwartungen entsprach. Sein Blick sollte nicht das nackte Interesse an ihrer Person zeigen, aber auch keine Sekunde lang jene ausdruckslose Blödheit, die gerade dann erscheint, wenn man sich bemüht, den eigenen Gesichtsausdruck unter Kontrolle zu bringen.

      Sie hielt seinem Blick noch einen Augenblick stand – ein wenig amüsiert, ein wenig frech. Dann wandte sie sich mit einer kurzen Bemerkung ihrer Nachbarin zu, die an dem Turm ihrer pechschwarzen Haare herumnestelte. Wieder gab es eine allgemeine Heiterkeit in der Runde. Auch er versuchte seine Aufmerksamkeit abzulenken und betrachtete das Beethovendenkmal und das Treiben rundherum scheinbar intensiv. Dabei verrückte er seinen Stuhl so, dass er unauffälliger wieder zur Terrasse hinüber sehen konnte. Der Pianist war inzwischen mit seinem Potpourri bei Johann Strauss angekommen, was Jürgen ihm nach kurzer Verblüffung großzügig verzieh.

      Sein