den ganzen Münsterplatz überblicken konnte. Einige Minuten stumm nebeneinander stehend, sahen sie zum Beethoven-Denkmal mit dem Menschengewusel hinunter. Der unermüdliche Pianist war wieder aktiv. Einzelne Tonfetzen forderten zum Kombinieren auf. Mit einer Mischung aus angenehmsten Gefühlen und leichter Beklemmung erwartete Jürgen eine geradlinige Aktion von seiner Wirtin, hielt es aber auch für möglich, dass sie etwas von ihm erwartete, was seine Vorstellungskraft nicht konkretisieren wollte. In ihrer ureigensten Umgebung wirkte sie auf ihn jetzt zweifelsfrei diesseitig.
Bevor die aufkommende Unruhe sich in ihm ausbreiten konnte, holte ihre Stimme ihn aus seiner stummen Erstarrung: "Wie war es möglich, dass du meine Bemerkung über den Golem verstanden hast? Was weißt du von ihm?"
"Was man so liest, wenn man sich auf einen Besuch in Prag einigermaßen vorbereitet hat und dann auch in der Altneusynagoge war. Der Rabbi Löw, der von Worms nach Prag gezogen oder geflüchtet war. Einige Sagen. Der Roman von Gustav Meyrink. Ein englischer Film mit dem Titel 'Der Golem lebt'. Und ich weiß inzwischen auch, dass der Rabbi Löw nicht der erste und einzige war, der so einen seelenlosen Menschengehilfen oder Übersoldaten erschaffen haben soll. Es soll sich um einen bei vielen orientalischen Völkern verbreiteten Mythos handeln."
"Unser Adam soll ja angeblich auch aus Matsch gemacht worden sein. Also sind wir doch alle Golems oder Golemkinder. Schwerfällig, stur, aber unheimlich stark.“
Er verbiss sich ein Lachen und schluckte auch eine ironische Bemerkung hinunter. Nein, das war womöglich doch mehr als nur der Ausdruck ihrer rheinischen Lust am Nonsens. Und auch keine Koketterie. Da steckt womöglich viel mehr dahinter, fuhr es ihm durch den Kopf. Also schwieg er beharrlich. Dank Petulas gelassen-sicherer Direktheit gelang schließlich der Übergang zu dem undeutlich Erwarteten ohne peinliche oder verstörte Augenblicke. Sie kundig, zielsicher, schamlos im besten Sinn; er lernend, leistend, genießend im ausgewogenen Wechsel. Eine selbstverständliche Übereinstimmung, mit Ungleichzeitigkeit das Altideal der Gleichzeitigkeit zu toppen. Nichts von einem faden Nachgeschmack.
Nachher fragte sie ihn freundlich-hartnäckig über sein Leben in Bonn von 1955 bis 1958 aus. Wo war er wann gewesen? Was waren seine Stammkneipen? Was seine Feierabend- und Wochenendbeschäftigungen? Hatten sie womöglich beide an irgendeiner erinnerungswürdigen Veranstaltung teilgenommen? Ja, 1956 waren sie beide Teilnehmer einer großen Demonstration gegen die Niederschlagung des Aufstandes in Ungarn durch die Panzer der Sowjetunion. Auf dem Kaiserplatz standen sie als kleine Partikel in einer unübersehbaren Menge und hörten dem Philosophie-Professors Theodor Litt zu. Beide konnten sich sogar an einen Zwischenruf erinnern, mit dem ein Wort zu dem Vorgehen der Engländer und Franzosen am Suezkanal eingefordert wurde. Beide waren beglückt, sich zu erinnern, dass die Antwort von Litt sie enttäuscht hatte. Mit lockerer Ernsthaftigkeit behauptete Petula schließlich, ihren neuen Pensionsgast schon seit vielen Jahren zu kennen. Sie zweifle nicht daran, dass er der Mann sei, dessen Bild sie seit über dreißig Jahren in unterschiedlich konkreter Ausprägung immer mal wieder vor ihrem inneren Auge gehabt habe. Begonnen habe das in der Zeit, als sie sich entschlossen habe, den Vater ihres zwei Monate später geborenen Sohnes nicht zu heiraten, den Hochzeitstermin platzen zu lassen und alle Folgen möglichst gelassen in Kauf zu nehmen. Ihre in wenigen Wochen herangereifte und dann plötzlich feststehende Entscheidung, das Wagnis einer Ehe mit einem ausgewiesenen Schürzenjäger nicht einzugehen, die vermessene Hoffnung also aufzugeben, ihn dauerhaft bändigen zu können, habe sich damals wohl mit ihrer Wunschvorstellung von einem idealen Lebenspartner verbunden. Das innere Bild müsse aber noch älteren Ursprungs sein. Sie glaube dass die heftigen Turbulenzen in jener Zeit auch ihr Unterbewusstsein aufgewühlt hätten und sein Bild aus dieser Tiefenschicht in die Sphäre der konkreten Phantasie habe aufsteigen lassen. Und sie glaube auch zu wissen, wann und wodurch sein Bild sich in ihr geformt und festgesetzt habe. Aber sie wisse noch nicht, ob sie ihm das so erzählen könne, dass er sie nicht für übergedreht ansehen werde.
Jürgen wollte keinen Augenblick lang der anhaltenden Verzauberung widerstehen. Er hielt sich für einen abgeklärten, doch trotzdem nicht vollkommen ernüchterten Mann. Tagträume waren ihm weder fremd noch lästig geworden. In den vergangenen Jahrzehnten hatte er sich einige Male Ausbrüche aus dem überschaubaren Terrain seiner bürgerlichen Existenz erlaubt, ohne dass sie ihm Anlass zu selbstquälerischen Vorwürfen geworden waren. Nie hatte er bisher mit diesen Ausbrüchen sein Gleichgewicht völlig unkontrolliert gefährdet, nie den Kopf verloren und nie in Kauf genommen, nicht zum Vertrauten zurückkehren zu können. Diesmal war er so überrumpelt worden, dass er sich ohne den geringsten Versuch von Gegenwehr der Situation ergab und mit freudiger Spannung die weitere Entwicklung erwartete. Nach seinem Empfinden war die Schwerkraft so weit aufgehoben, dass er mühelos abheben könnte: zu Riesensprüngen nach Art der Lemuren, zu genussvollen Steile-Wand-Läufen, sogar zum freien Flug hinweg über Bauwerke und Bäume.
Als Jürgen hinter Petula vor der Haustür gewartet hatte, war ihm zunächst die Hässlichkeit dieser Tür aufgefallen. Und sofort hatte ihn eine unscharfe Erinnerung bedrängt, ohne sofort Gestalt anzunehmen. Doch während Petula mit der Linken die Tür angezogen und mit der Rechten aufgeschlossen hatte, war ihm plötzlich wieder der Feuerschein hinter der dicken Milchglasscheibe vor Augen. Und jetzt erinnerte er sich genau, wie er kurz gestutzt, dann jedoch entschlossen die damals noch unabgeschlossene Tür aufgeklinkt, einen Karton mit lichterloh brennender Holzwolle und angeglühten Holzstücken auf den Bürgersteig gezerrt und das Feuer ausgetreten hatte. Auch seine Gedanken waren ihm wieder präsent: Klingeln und irgendeinen Bewohner informieren? Die angekohlten Reste in das Treppenhaus zurückschieben? Oder spurlos verschwinden? Er hatte den am frühen Sonntagmorgen menschenleeren Münsterplatz damals kurzentschlossen verlassen. Wollte er auf dem Weg zu einem Wettkampf oder zum Training nur keine Zeit verlieren? Oder wollte er das erhabene Gefühl des unauffälligen, selbstverständlichen und selbstlosen Handelns still und stolz für sich auskosten? Eine Antwort darauf gab die Erinnerung nicht mehr her. Wohl aber fiel ihm ein, wie er später in Gedanken mit einem alternativen Geschehensablauf gespielt hatte: Das hölzerne Treppengeländer hätte Feuer gefangen, das Treppenhaus bald lichterloh gebrannt, und die Bewohner der Obergeschosse wären womöglich voller Panik aus den Fenstern gesprungen. Oder sie wären gar in ihren Betten verbrannt. Jürgen bemerkte rechtzeitig, dass die unwahrscheinliche Häufung ungewöhnlicher Erlebnisse in Gegenwart und Vergangenheit ihn aufrührte, so dass er sich besonders bemühte, Petula wie nebenbei von dem Wiederaufleben seiner Erinnerung an jenen eigenartigen Vorgang zu erzählen. Und er bemühte sich auch dann noch gelassen zu erscheinen, als Petula sichtlich entzückt ihre Version jenes Ereignisses anschloss. Sie habe schon damals mit ihrer älteren Schwester in diesem Haus gewohnt und erinnere sich genau, wie sie dem Rauchgeruch nachgegangen und im Treppenhaus die halbmeterhohen Flammen gesehen habe, zu ihrer Schwester gelaufen sei, um zu beratschlagen, wie man die Feuerwehr alarmieren könne - Telefon hatte niemand im Haus -, dann aus dem Fenster gesehen habe, um die Möglichkeiten des Abstiegs oder Sprungs aus dem zweiten Obergeschoss zu taxieren und ihn, ja ihn, einen damals für sie namenlosen jungen Mann!, beobachtet habe, als er die Flammen austrat, wie sie sofort heruntergelaufen sei, ihn aber nur noch von weitem gesehen und instinktiv gewusst habe, dass er kein großes Trallala aus diesem Vorgang machen wollte. Aufgefallen sie ihr besonders der beschwingte Gang des Davoneilenden, daran erinnere sie sich genau. Dies habe sie wohl in ihrer Erinnerung zu seinem ganz persönlichen Markenzeichen gemacht und den Anstoß gegeben, sich im Laufe der Zeit in vielen Stufen das Bild von einem Traummann auszumalen. Aber das Bild sei überhaupt nicht entscheidend. Wirklich eingedrungen sei damals in sie die Vorstellung von einem womöglich ganz in ihrer Nähe lebenden Menschen des anderen Geschlechts, der manchmal der Lust nachgab, aus eigener Kraft abzuheben – eine Art Leidenschaft, der sie selbst schon seit ihrer frühen Kindheit verfallen gewesen sei. Er könne froh sein, dass sie die lange Phase dieser Besessenheit inzwischen weitgehend überwunden habe. Jürgen, der sich bei ihrer Schilderung erinnerte, wie er als Turner und Leichtathlet immer wieder mal versucht hatte, beim Gehen die Schwerkraft zu überwinden, und sich gelegentlich eingebildet hatte, ganz nahe daran zu sein, spürte noch einer Empfindung nach, die seinem damaligen Hochgefühl ähnelte, als ihr abschließender Satz sein Bewusstsein erreichte. Diesen Satz verstand er nicht und wollte er nicht verstehen. Die Gefahr witternd, dass der Zauberschleier zerreißen würde, wenn er jetzt mit analytischem Verstand eine Diskussion vom Zaun brach, schwieg er.
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