Hubert Schem

Verrückt in Bonn


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nach Bonn. Im Frühjahr 1995 hatte er ein sechswöchiges Ausbildungsprogramm im Finanzministerium absolviert. An diese Zeit dachte er einerseits noch mit leichtem Unbehagen zurück, andererseits war ihm bewusst, dass es seine Feuertaufe in fachlicher und in gesellschaftlicher Hinsicht gewesen war. Niemand würde ihn jetzt noch auf den ersten Blick oder nach kurzem Gespräch als einen Ex-DDRler identifizieren. Das gab ihm Sicherheit. Er selbst hatte sich vor zwei Jahren zugetraut, bei jedem Passagier die Unterscheidung in Westler und Ostler mit Leichtigkeit zu treffen. Jetzt fielen ihm nur noch selten an einem Passagier typische DDRler-Merkmale oder Verhaltensweisen auf.

      Das Äußere der Taxifahrerin in Wahn erinnerte ihn auf angenehme Weise an eine andere Frau. Die lebenslustige Schwiegermutter, mit der er sich blendend verstand? Eine Teilnehmerin des Einführungskurses vor mehr als zwei Jahren, die den Eifer und die Verbissenheit der männlichen Teilnehmer durch einen Hauch unverbindlicher Erotik aufgelockert hatte? Ein Mädchen aus einer Parallelklasse, das er als Vierzehnjähriger von Ferne angehimmelt hatte? Er registrierte: sportliche Figur in hellgrauen Jeans und roter Bluse, höchstens 1,65 m groß, Haarfarbe wohl mittelblond, naturkraus oder gut nachgemacht, Mitte der Dreißiger, offenes, freundliches Gesicht mit dekorativen Falten. Er nannte als Ziel die Bonngasse, ohne den Namen seines Hotels anzugeben. Die leichte Unruhe wegen der Ungenauigkeit seiner Erinnerung vermengte sich mit einem angenehmen Gefühl in der Bauchgegend, das irgendetwas mit dieser diffusen Erinnerung zu tun haben musste. Er sah kurz zu ihr hinüber und betrachtete ihr Profil. Stupsnase, Himmelfahrtsnase, Hakennase, Buckelnase? - Er kam zu keinem Ergebnis und sah wieder geradeaus. Dann ein zweiter vorsichtiger Blick. Kühn, kess, frech, herausfordernd? - Auch hier keine klare Entscheidung. Jetzt schien sie seinen forschenden Blick bemerkt zu haben und sah ihn kurz an. Rehfarbene Augen? Er gab seine Benennungsversuche endgültig auf.

      Sie fuhr zügig und schien nicht an einer Unterhaltung interessiert zu sein. Das Taxi hatte keine Klimaanlage. Bei einer Außentemperatur von über dreißig Grad brachte der Fahrtwind kaum Erleichterung. Als er einen seiner ihm wohlbekannten Niesanfälle herannahen spürte, nahm er vorsorglich sein Taschentuch heraus und dämpfte so die ersten drei rasch aufeinander folgenden Nieser. Die nächsten fünf folgten nach kurzer Pause im gleichen Abstand.

      Jedes Mal sagte sie belustigt: "hatschi!" Und dann legte sie selbst los. Er glaubte zunächst sie äffe ihn nach, sah aber, wie ihre Augen tränten. Sie hatte das Tempo so stark reduziert, daß sie von einer ganzen Fahrzeugkolonne überholt wurden. Einige der Fahrer sahen besorgt herüber. Sie winkte ihnen beruhigend zu. Als sie schließlich nach unzähligen Niesern aufgehört hatte, schnaufte sie erleichtert und gab wieder mehr Gas. Ihre Stimme klang noch deutlich belegt: "Ja, wir Sommersensibelchen können uns leidtun, nicht wahr? Warum muß ich auch ausgerechnet um diese Zeit taxifahren! Bademeisterin sollte man jetzt sein."

      "Bei uns hieß der Wunschberuf im Winter Bademeister und im Sommer Hausschlachter".

      "Da gab es wohl noch keine Hallenbäder und keine Gefrierschränke. Aber so alt sind Sie doch noch gar nicht."

      "Stimmt, den Spruch kenne ich von meinem Großvater. Der wollte wohl sein Leben lang ein Lebenskünstler sein und hat es nie geschafft."

      "Ja, wer will das nicht und schafft es schon!"

      "Ein Lebenskünstler bin ich zwar vermutlich nicht; aber ich bin momentan ganz zufrieden."

      "Und wie machen Sie das?"

      "Das ist ein Thema für ein Glas Bier." Die Redensart rutschte ihm ohne Hintersinn heraus, bevor ihm bewusst wurde, dass sie dies als einen wenig eleganten Annäherungsversuch missverstehen könnte. Er versuchte zu retten, was nicht mehr zu retten war. "Eine blöde Redensart von mir. Ich meine damit, das lässt sich nicht in einem Satz sagen."

      "Dann haben Sie meinetwegen zwei, drei oder noch mehr Sätze frei. Redensart hin, Redensart her - wo trinken wir das Bier? Um sieben ist Schichtwechsel, um acht bin ich wieder frisch und fröhlich. Liesel Schmitz aus Bonn freut sich auf ein, zwei Bier und ist gespannt auf ein, zwei, drei Sätze über die Kunst zufrieden zu sein von ..."

      Sie schaute fragend und auffordernd zu ihm herüber und er wusste, dass es aus dieser Falle kein Entrinnen gab, wenn er nicht als Miesepeter dastehen wollte. "Dietmar Schultz aus Berlin wird um 20,00 Uhr pünktlich zur Stelle sein. Treffpunkt Beethovendenkmal und weitere Planung an Ort und Stelle, wenn's recht ist."

      "Dietmar Schultz und Liesel Schmitz - das ist ja reine Poesie. Bonn und Berlin - da juckt die Phantasie!"

      5

      Eine Meldung aus dem Ministerium für Standortentwicklung und Visionskoordination. Die erste im besonderen Meldesystem aus diesem Ministerium überhaupt. Der persönliche Referent des Ministers schickte über die reservierte Leitung ein Fax: "Die jüngsten Veranstaltungen des Ministers zeigten ein besorgniserregendes Ansteigen der Aggressivität von Gegnern der Rechtschreibreform. Unbeachtet der Nichtzuständigkeit des Bundes richtet sich die Kritik pauschal gegen die Bundesregierung allgemein und meinen Minister im Besonderen. Sachliche Argumente werden mit Hohn und Hass erwidert. Ich halte körperliche Angriffe gegen den Minister nicht mehr für ausgeschlossen und habe die Verstärkung des Personenschutzes angefordert. Insbesondere jedoch weise ich darauf hin, dass sich hier offenbar ein Gewaltpotential zu konzentrieren beginnt, das keinesfalls unterschätzt werden darf. Bei der gegebenen politischen Lage - Stichworte: Arbeitslosigkeit, fehlende Perspektiven für die Jugend, Reformstau, Blockade, Werteverlust - könnte die Rechtschreibreform nach hiesiger Einschätzung zum Auslöser einer neuen radikalen Bewegung werden. Und schließlich sei noch angemerkt: Wenn das Einverständnis über die Alltagssprache verlorenginge, wäre nichts in unserem Staat mehr beständig."

      Zwischen Verdrossenheit, hochmütigem Amüsement und einem Rest ernsthafter Analyse verharrten Ministerialdirektor Busch und Ministerialdirigent Häckle, der Bürovorsteher des für die Geheimdienste zuständigen Kanzleramtsministers, eine Minute lang wortlos. Das Fax lag zwischen ihnen auf dem Besprechungstisch im Arbeitszimmer von Busch. Dann nahm Busch es auf, rollte mit seinem Stuhl zu dem kleinen Aktenvernichter, der ihm seit Beginn der Aktion zur Verfügung stand, drückte auf den Startknopf und hielt das Papier demonstrativ über den Einführschlitz, wobei er Zustimmung heischend zu Häckle hinübersah. Schon manches Fax aus den verschiedensten Ministerien war in den letzten Wochen auf diese Weise erledigt worden. Der unentschlossene Blick von Häckle ließ Busch zögern. "Haben Sie Zweifel? 'Nach hiesiger Ansicht' - wenn ich das schon lese! Das Ganze ist doch - in der Sprechart meines Sohnes ausgedrückt - ein schreckliches Gesülze."

      "Ja und nein - ich weiß nicht - also Zweifel, ja."

      Busch stellte den Aktenvernichter ab, rollte mit seinem Stuhl zum Besprechungstisch zurück und wartete auf eine Erklärung. Häckle nahm sich Zeit, um mit sich selbst ins Reine zu kommen. Mit gelassener Miene sah ihm Busch unverhohlen ins Gesicht. Er ahnte, mit wem sein Gegenüber den tonlosen Disput hatte. Gelegentlich schüttelte Häckle sogar kaum merklich den Kopf. Nach einer Ewigkeit von zwei stillen Minuten war er zu einem Entschluss gekommen. "Der Vorgang gibt sicher nichts her für die Lösung Ihres Problems, Entschuldigung, unseres Problems, da haben Sie zweifellos Recht. Trotzdem sollten wir das Fax nicht sofort vernichten. Ich ahne irgendwie - entschuldigen Sie diese vage Formulierung - dass hier etwas angezeigt wird, was den Kanzler in nächster Zeit durchaus interessieren könnte. Könnten Sie nicht eine vorläufige Akte für dieses Fax und etwaige weitere interessante Nebenprodukte der Aktion anlegen? Spätestens am Ende dieser Legislaturperiode müsste natürlich der Inhalt der Akte vernichtet werden. Wir müssten sie also unbedingt auf die bekannte Liste nehmen."

      "Ich bin genau wie Sie kein Freund von Akten mit Daten für unklare Zwecke. Denken Sie bereits an den nächsten Bundestagswahlkampf?"

      "Um Himmels willen! Damit hatte ich noch nie im Amt zu tun und möchte auch nie darin einbezogen werden. Nein, es ist eher die Witterung eines alten Bundesbeamten, dass sich in nächster Zeit hier in Bonn Dinge tun werden, die den Rahmen des Altgewohnten sprengen."

      Busch, der seit längerem besorgt beobachtete, dass scheinbar objektive Begriffe, wie "Reformstau" und "Werteverlust", in den Medien Hochkonjunktur hatten, kämpfte immer noch mit einem Anfall heftigen Unwillens. Wenn diese Art von Begriffen schon in einem Ministerbüro verwendet wurden, dann war der Geist der